Wirtschaftsminister: Wir lassen uns nicht auseinanderdividieren
Die deutsch-französischen Beziehungen erfahren derzeit eine neue Dynamik. Zu dieser Einschätzung gelangte die Präsidentin der französischen Nationalversammlung, Yaël Braun-Pivet, ebenso wie die Präsidentin des Deutschen Bundestages, Bärbel Bas, bei der Eröffnung der 9. Arbeitssitzung der Deutsch-Französischen Parlamentarischen Versammlung (DFPV) am Montag, 22. Mai 2023, im Plenarsaal des Europäischen Parlaments in Straßburg. Europa könne sich nur gemeinsam als dritter starker Akteur auf der Weltbühne neben China und den USA behaupten, waren sich auch der Wirtschaftsminister Frankreichs Bruno Le Maire (Renaissance) und sein deutscher Amtskollege Dr. Robert Habeck (Bündnis 90/Die Grünen) einig. Wirtschaftspolitik sei wieder Geopolitik, befand Habeck. Daher sei eine eigene Wirtschafts- und Sicherheitspolitik „dringend erforderlich“.
„Partnerschaftsgedanken neuen Schwung einhauchen“
In ihren Ansprachen zu Beginn der Arbeitssitzung erinnerten die beiden Parlamentspräsidentinnen an den sehr gelungenen Festakt anlässlich des 60. Jubiläums der Unterzeichnung des Élysée-Vertrages am 22. Januar in Paris. „Dieses Treffen hat uns einen neuen Schwung gegeben“, sagte Bas. Einen solchen Schwung brauche es auch – gerade in diesen Zeiten.
Ihre französische Amtskollegin Braun-Pivet wies auf die zahlreichen bilateralen Treffen zwischen den Regierungen sowie den anstehenden Staatsbesuch des französischen Präsidenten Emmanuel Macron auf Einladung des deutschen Staatsoberhauptes, Frank-Walter Steinmeier, vom 2. bis 4. Juli hin. „Das bestätigt den starken Willen, dem deutsch-französischen Partnerschaftsgedanken einen neuen Schwung einzuhauchen“, sagte die Präsidentin der Assemblée nationale.
Gemeinsame Verantwortung „für Europa und die Welt“
Bundestagspräsidentin Bas betonte die gemeinsame Verantwortung Deutschlands und Frankreichs „für Europa und die Welt“. Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine sei auch ein Angriff auf die europäische Sicherheitsordnung, sagte sie. „Es ist eine Zäsur für unseren Kontinent.“ Darauf müssten neue Antworten entwickelt werden, weshalb auch die Arbeitsgruppe Außen- und Sicherheitspolitik eingesetzt werde. „Wir als Parlamentarier nutzen unsere Möglichkeiten, um den Frieden und die Sicherheit in Europa zu stärken“, sagte Bas. Eine enge deutsch-französische sicherheitspolitische Zusammenarbeit sei von zentraler Bedeutung, „gerade weil wir unterschiedliche sicherheitspolitische Traditionen, andere geografische Bindungen und auch andere historische Prägungen haben“.
Deutschland, so betonte sie, übernehme Verantwortung für die Sicherheit in Europa. „Wir gehören zu den größten Unterstützern der Ukraine.“ Auch zu seinen Bündnisverpflichtungen stehe Deutschland, sagte die Bundestagspräsidentin und konstatierte: „Die Abschreckung durch die Nato wirkt.“ Der russische Präsident Wladimir Putin habe sich verkalkuliert. Der Zusammenhalt innerhalb der Nato und der EU sei nach dem russischen Überfall auf die Ukraine noch enger geworden. Die Europäische Union sei ein Friedensprojekt. „Sie ist die beste Antwort auf Russlands gewaltsames Expansionsstreben“, sagte Bas.
Klare Beitrittsperspektiven für Westbalkan-Staaten
Die Präsidentin des Bundestages thematisierte auch die EU-Erweiterung. Gebe man den Ländern des westlichen Balkans klare Beitrittsperspektiven, „erhöhen wir auch unsere Sicherheit“, sagte Bas. Enttäuschte Erwartungen machten hingegen anfällig für Populismus und sorgten für eine Destabilisierung von Gesellschaften.
„Die Menschen in den Balkanländern sind zunehmend enttäuscht von Europa“, sagte sie. Es sei daher „in unserem europäischen Interesse“, den Westbalkan-Staaten eine klare Perspektive zu geben, „vor allem den jungen Menschen“.
Dramatische Entwicklung beim Spracherwerb
Junge Menschen stehen auch in Mittelpunkt eines weiteren Anliegens der Bundestagspräsidentin: dem Spracherwerb. „Sprachkenntnisse sind der Schlüssel zur Verständigung“, sagte sie. Leider lernten aber immer weniger deutsche Schülerinnen und Schüler Französisch und immer weniger junge Französinnen und Franzosen Deutsch. Diese Entwicklung sei dramatisch, befand Bas.
„Wenn wir jetzt nicht gegensteuern, geht ein wichtiger Baustein der Verständigung verloren“, warnte sie. Die Parlamente müssten bei dem Thema „am Ball bleiben“.
DFPV-Arbeitsgruppen sorgen für „fruchtbaren Austausch“
Wie ihre deutsche Kollegin wies auch die Präsidentin der französischen Nationalversammlung auf die Gründung der Arbeitsgruppe Außen- und Sicherheitspolitik im Rahmen der DFPV hin. Schon die bisherigen Arbeitsgruppen hätten für einen sehr fruchtbaren Austausch gesorgt, sagte Braun-Pivet. Es sei gelungen, die Standpunkte einander anzunähern.
Die deutsch-französische Zusammenarbeit habe aber auch ihren Platz in der Arbeit der Gremien von Bundestag und Nationalversammlung gefunden. Exemplarisch zu nennen sei hier die Zusammenarbeit der Ausschüsse der Verteidigung, sagte die Präsidentin der französischen Nationalversammlung.
Habeck und Le Maire fordern Vollendung der Kapitalmarktunion
Im Mittelpunkt des zweiten Sitzungsteils stand eine Anhörung der Wirtschaftsminister Frankreichs und Deutschlands. Le Maire und Habeck sprechen sich für die Vollendung der Kapitalmarktunion in der EU aus. Das sei überfällig, sagte Habeck während der Befragung. Ohne einen gemeinsamen Kapitalmarkt sei es nicht möglich, die benötigten großen Volumen für Investitionen in Europa zu stemmen.
Sein Amtskollege Le Maire forderte, innerhalb Europas Finanzierungsquellen etwa zur Förderung technologischer Exzellenz zu schaffen. Dafür bräuchten die Unternehmen Milliardensummen, die sie derzeit eher in den USA bekämen. Die europäische Investitionsbank, so Le Maire, müsse zur Klimabank werden und die grüne Transformation finanzieren.
Dissens in Sachen Energiepolitik
Weniger Übereinstimmung gibt es zwischen Frankreich und Deutschland in Sachen Energiepolitik. Frankreich, so Wirtschaftsminister Le Maire, halte die Kernenergie für ein gutes und probates Mittel, um die Energieunabhängigkeit zu erreichen und eine CO2-freie Energieerzeugung zu gewährleisten. Das sei eine rote Linie für sein Land, die es zu respektieren gelte.
Für den deutschen Wirtschaftsminister ist das „in Ordnung“. Alle Länder in Europa hätten einen unterschiedlichen Energiemix, sagte Habeck. Europa beruhe im Binnenmarkt auf Wettbewerb. „Wir treffen uns 2030 und werden schauen, wie sich die Energiepreise entwickelt haben“, sagte der Minister. Auch Habeck zog eine Linie, die aus seiner Sicht nicht übertreten werden darf. So dürften Erneuerbare Energien und die Kernenergie bei der Dekarbonisierung nicht gleichgesetzt werden.
Tragbare Kompromisse
Dass sich Deutschland und Frankreich als Achse innerhalb Europas nicht immer einig sind, sorgt aus Sicht Habecks für tragbare Kompromisse. „Wenn wir einen Bogen spannen können, ist der in der Regel so breit, dass auch die anderen europäischen Staaten sich darin wiederfinden können“, sagte er. Das sei die besondere Bedeutung der deutsch-französischen Zusammenarbeit.
Einig waren sich die Minister in der Feststellung, dass sich Europa nur gemeinsam als dritter starker Akteur auf der Weltbühne neben China und den USA behaupten könne. China und die USA machten ihre Interessen stark geltend und setzten dabei auf Protektionismus, sagte Le Maire. Wirtschaftspolitik sei wieder Geopolitik, befand Habeck. Daher sei eine eigene Wirtschafts- und Sicherheitspolitik „dringend erforderlich“.
Offen für gemeinsame Reise nach Peking
Nachdem Le Maire und Habeck schon im vergangenen Jahr gemeinsam in die USA gereist waren, und dort Einigkeit demonstriert hatten, können sich die beiden Minister auch eine solche gemeinsame Reise nach Peking vorstellen, wurde während der Anhörung deutlich. „Mit Robert Habeck in den kommenden Monaten nach Peking zu reisen, wäre ein starkes Signal“, befand Le Maire.
Der deutsche Wirtschaftsmister griff das auf. Die Reise in die USA sei ein politisches Statement gewesen, dass sich die beiden wirtschaftlich stärksten Länder Europas nicht auseinanderdividieren lassen. Das könne man wiederholen. „Ich freue mich sehr, wenn wir diesen Gedanken weiterverfolgen und dann auch umsetzen können“, sagte er. (hau/23.05.2023)