Umwelt

Expertendiskussion über Folgen von Atomkatastrophen

Zeit: Mittwoch, 15. März 2023, 11 bis 13 Uhr
Ort: Videokonferenz, Sitzungssaal PLH E 700

Mit der fragilen Sicherheitslage im ukrainischen Atomkraftwerk Saporischschja und den Folgen der Atomkatastrophen in Tschernobyl und Fukushima hat sich der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, nukleare Sicherheit und Verbraucherschutz am Mittwoch, 15. März 2023, befasst. Anlass für das öffentliche Fachgespräch mit Experten war der zwölfte Jahrestag des Unfalls im japanischen Atomkraftwerk Fukushima am 11. März 2011.

IAEA fordert Sicherheitszone um Saporischschja

Über die durch den russischen Angriffskrieg gefährdete Sicherheitslage in Europas größten Atomkraftwerk im ukrainischen Saporischschja informierte zunächst Anna Hajduk Bradford von der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA): Sie betonte, es sei das erste Mal überhaupt, dass ein militärischer Konflikt direkt die Anlage eines Atomkraftwerks gefährde. Bradford verwies auf „mehrere Fälle von Beschuss“, die seit Kriegsbeginn zu Stromausfällen und Abschaltungen im AKW geführt hätten. Zuletzt war Saporischschja am 9. März ohne Strom und musste über Diesel-Generatoren versorgt werden.

Weitere Herausforderungen für die Anlage sind der IAEA-Mitarbeiterin zufolge „unklare Entscheidungsprozesse“ sowie Probleme mit der Wartung und den Lieferketten. Zudem verkompliziere die Situation, dass ein russisches Unternehmen das AKW übernommen habe. Bradford betonte, dass es bislang zu keinem Austritt von Radioaktivität gekommen sei. Die IAEA befinde sich mit Mitarbeitern seit September 2022 in Saporischschja kontinuierlich vor Ort, um sich über nukleare Sicherheitsaspekte zu informieren und die Situation unabhängig zu bewerten. Bradford erneuerte die Forderung des Chefs der IAEA, Rafael Grossi, eine nukleare Sicherheitszone um das Atomkraftwerk zu schaffen. Gespräche darüber dauerten an.

Experte plädiert für differenzierte Betrachtung

Der Einzelsachverständige Sebastian Strasky sprach sich dafür aus, in der Diskussion um die Risiken der Atomkraft zwischen den Atomkatastrophen in Tschernobyl und Fukushima sowie der Situation in Saporischschja zu differenzieren. Die nuklearen Unfälle in Tschernobyl im Jahr 1986 und in Fukushima 2011 unterschieden sich mit Blick auf Ursachen und Ablauf deutlich, erklärte der frühere Mitarbeiter der Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit.

Die Katastrophe in Tschernobyl bezeichnete er als „kriminellen Akt“. Der Unfall in Fukushima hingegen habe viel mit Fehlern des Betriebspersonals sowie einem „Nichthandeln der japanischen Aufsichtsbehörden“ zu tun, die in der heutigen Form damals auch noch gar nicht existiert hätten, so Stransky. Ein ganz anderes gelagerter Fall sei Saporischschja: Das Kraftwerk, das zur sogenannten zweiten Generation gehöre, sei vergleichbar mit AKW in Westeuropa und arbeite auf einem höheren Sicherheitsniveau als damals Fukushima. Die Ukraine habe in den letzten Jahren stark nachgerüstet. Die Anlage habe so trotz der gefährlichen Situation „das getan, was sie soll: sicherheitsgerichtet gearbeitet“, betonte der Experte.

Paulini: Informationsbedarf bei der Bevölkerung

Trotz der Andersartigkeit der Ereignisse in Tschernobyl, Fukushima und Saporischschja gebe es dennoch eine Gemeinsamkeit, betonte hingegen die Präsidentin des Bundesamtes für Strahlenschutz (BfS), Inge Paulini: Alle drei zeigten, dass der Betrieb von Kernkraftwerken mit „erheblichen Risiken“ einhergehe, und dass es eines „starken Notfallschutzes“ bedürfe. Da in den Nachbarländern Deutschlands weiterhin Anlagen betrieben oder neu geplant würden, gelte das auch nach dem Atomausstieg unvermindert.

Paulini machte auf einen erhöhten Informationsbedarf der Bevölkerung seit dem Beschuss von Saporischschja aufmerksam: „Auch wenn wir keine radiologische Lage haben, müssen wir die Sorgen der Bevölkerung im Blick haben“, mahnte die BfS-Präsidentin. Zudem gelte es, den Notfallschutz laufend weiterzuentwickeln und neue Bedrohungsszenarien wie Cyberangriffe stärker in den Fokus zu nehmen.

Niemann: Atomkraft ist eine  „Hochsicherheitstechnologie“

Lutz Niemann, der für den Verein Bürger für Technik sprach, kritisierte in seiner Stellungnahme den in Reaktion auf die Atomkatastrophe in Fukushima beschlossenen deutschen Atomausstieg. Dieser sei vor allem von Panik geprägt gewesen. Die Mängel, die in Japan zu dem Unglück geführt hätten, habe es in Deutschland nicht gegeben. Niemann unterstrich, die Kerntechnik sei keine Hochrisikotechnologie, sondern eine „Hochsicherheitstechnologie“.

Menschen seien in Tschernobyl und Fukushima nicht aufgrund der freigesetzten Radioaktivität gestorben, sondern etwa durch „ungerechtfertigte Evakuierungen“ von Intensivpatienten aus Krankenhäusern oder ungeschützte Einsätze von Feuerwehrleuten in der Gefahrenzone. Niemann forderte zudem eine Revision des Strahlenschutzes in Deutschland, die geltenden Strahlenschutzgesetze seien falsch.

Claußen: Atomkraft ist eine „Hochrisikotechnologie“

Dem widersprach Angelika Claußen, Vorsitzende des Vereins „Ärzt*innen für die Verhütung des Atomkrieges - Ärzt*innen in sozialer Verantwortung (IPPNW): Atomkraft sei sehr wohl eine “Hochrisikotechnologie„. Fachleute seien sich international einig darüber, dass jede noch so geringe Strahlenbelastung potenziell gesundheitsschädigend sein. Es gebe auch keinen “Schwellenwert, unterhalb dessen Strahlung ungefährlich wäre„, so die Ärztin.

Der international festgelegte Grenzwert von ein Millisievert pro Jahr und Person orientiere sich am sogenannten “reference man„, einem jungen, gesunden männlichen Erwachsenen. Die besondere Strahlensensibilität von Embryos, Kindern, Frauen und älteren Menschen bleibe unberücksichtigt.

Problem der Bergung hochradioaktiver Stoffe

Die Einzelsachverständige Oda Becker verwies zudem darauf, dass auch 37 Jahre nach dem “Super-GAU„ in Tschernobyl die Lage weit davon entfernt sei als “ökologisch unbedenklich„ bezeichnet zu werden. Die radioaktiven Stoffe bauten sich nicht systematisch ab und lagerten sich bis heute in Ökosystemen an.

Auch für die Bergung der hochradioaktiven Stoffe aus den Anlagen fehle noch immer ein Konzept - das zeige der Fall in Fukushima wie in Tschernobyl. Die Schutzhülle, die dort um den Reaktor errichtet worden sei, solle zwar für 100 Jahre Schutz bieten, doch damit sei das Problem nicht gelöst, sondern nur auf die nächsten Generationen verschoben, so die Physikerin.  (sas/15.03.2023)