Protokoll der Gedenkstunde des Deutschen Bundestages aus Anlass des Tags des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus am 27. Januar 2023
Präsidentin Bärbel Bas:
Sehr geehrter Herr Bundespräsident!
Sehr geehrte Frau Büdenbender!
Sehr geehrter Herr Bundeskanzler!
Sehr geehrter Herr Bundesratspräsident!
Sehr geehrter Herr Präsident des Bundesverfassungsgerichts!
Exzellenzen!
Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Liebe Gäste!
„Was man auch immer über den Holocaust sagen, schreiben oder erzählen mag, es hat keine befreiende Wirkung.“ Dieser Satz stammt aus den Erinnerungen von Simone Veil, der ersten Präsidentin des Europäischen Parlaments. Als Jugendliche hat sie Auschwitz überlebt. Als eine von wenigen. Mindestens 1,3 Millionen Menschen haben die Nationalsozialisten nach Auschwitz deportiert. Darunter 1 Million Jüdinnen und Juden. Die meisten wurden gleich nach ihrer Ankunft ermordet. Auschwitz ist Tatort und Sinnbild des Völkermords an den europäischen Jüdinnen und Juden. Inbegriff des Holocaust. Eines Verbrechens, das in der Geschichte der Menschheit ohne Vergleich ist. Und für das wir Deutschen Verantwortung tragen. Simone Veil schrieb weiter: „Die Shoah bleibt allgegenwärtig. Nichts davon wird je ausgelöscht; … nichts kann, nichts darf vergessen werden.“ Zitat Ende.
Wir gedenken heute der Opfer der nationalsozialistischen Verbrechen: der ermordeten Juden Europas, der Opfer der deutschen Besatzungsherrschaft und Vernichtungspolitik insbesondere in Mittel- und Osteuropa, der Sinti und Roma, der Opfer der sogenannten „Euthanasie“, der wegen ihrer politischen Überzeugung oder ihres christlichen Glaubens verfolgten Menschen, der Zeugen Jehovas, der Angehörigen sexueller Minderheiten, der als „asozial“ Diffamierten. Wir erinnern auch an die Kriegsgefangenen und die Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter. Wir erinnern an diejenigen, die Widerstand leisteten und deswegen hingerichtet wurden. Wir gedenken aller Menschen, die von den Nationalsozialisten verfolgt, beraubt, gedemütigt, ausgegrenzt, entrechtet, gequält und ermordet wurden.
Viele der Opfer des deutschen Vernichtungskriegs im Osten waren Ukrainerinnen und Ukrainer. Mich erschüttert, dass auch Überlebende des Holocaust durch die gegenwärtigen russischen Angriffe auf die Ukraine getötet wurden. Es ist eine unerträgliche Verhöhnung der Opfer des Nationalsozialismus, den russischen Angriffskrieg mit der Befreiung Deutschlands zu vergleichen. Viele Holocaust-Überlebende in der Ukraine wurden zur Flucht gezwungen. Es berührt mich, dass mehrere von ihnen in Deutschland Zuflucht gefunden haben. In vielen Fällen mit Hilfe der Jewish Claims Conference.
Einige von ihnen sind heute unter uns. Stellvertretend für alle begrüße ich auf der Ehrentribüne Dr. Boris Zabarko, den Vorsitzenden der Allukrainischen Vereinigung der Juden.
(Beifall)
Aus Odessa zu uns gekommen ist Roman Schwarzman. Wie Boris Zabarko überlebte er als Kind die Shoah.
(Beifall)
Ich freue mich, weitere Überlebende begrüßen zu können. Insbesondere Margot Friedländer, Charlotte Knobloch und Albrecht Weinberg.
(Beifall)
Außerdem begrüße ich Gäste aus der queeren Community, unter anderem Ali Tawakoli aus Afghanistan und Edward Mutebi aus Uganda.
(Beifall)
In ihrer Heimat drohen ihnen harte Strafen für Homosexualität. Deshalb haben sie Schutz in Deutschland gefunden.
Liebe Gäste, ich danke Ihnen allen, dass Sie heute in den Deutschen Bundestag gekommen sind.
(Beifall)
Die heutige Gedenkstunde stellt eine Opfergruppe in den Mittelpunkt, die lange um Anerkennung kämpfen musste: Menschen, die von den Nationalsozialisten aufgrund ihrer sexuellen Orientierung oder geschlechtlichen Identität verfolgt wurden. Der § 175 Strafgesetzbuch belegte seit dem Kaiserreich den Geschlechtsakt unter Männern mit Gefängnis. Die Nationalsozialisten verschärften diesen Paragrafen noch: Küsse, Berührungen, sogar Blicke waren strafbar. Zehntausende wurden der Homosexualität beschuldigt. Schon das genügte oft, um ihre gesellschaftliche Existenz zu ruinieren. Mehr als die Hälfte der Männer wurde verurteilt, meist zu langen Haftstrafen und Zwangsarbeit. In einigen Fällen wurden Männer zur Sterilisation gezwungen. Viele in den Selbstmord getrieben.
Auch wenn der § 175 nur für Männer galt, waren lesbische Frauen vor Verfolgung keinesfalls sicher. Ebenso wenig wie die Menschen, die nicht das Geschlecht leben konnten oder wollten, das die Gesellschaft von ihnen verlangte. Wer nicht den nationalsozialistischen Normen entsprach, lebte in Angst und Misstrauen.
Am härtesten traf es die vielen Tausend Frauen und Männer, die aufgrund ihrer Sexualität - teils unter Vorwänden - in Konzentrationslager deportiert wurden. Sie standen auf einer der untersten Stufen der sogenannten Lagerhierarchie und waren der allgegenwärtigen Gewalt ungeschützt ausgesetzt. Viele wurden für medizinische Experimente missbraucht. Die meisten kamen schon nach kurzer Zeit um - oder wurden ermordet.
Heute vor 78 Jahren wurde Auschwitz befreit. Aus den Lagern befreit wurden auch die wegen ihrer Sexualität Inhaftierten. Doch für sie brachte das Ende des Nationalsozialismus kein Ende der staatlichen Verfolgung. In beiden Teilen Deutschlands galt der § 175 Strafgesetzbuch nach 1945 weiter. In der Bundesrepublik bis 1969 sogar in der Fassung der Nationalsozialisten. Aus heutiger Sicht klingt es unglaublich: Erst 1994 wurde der § 175 vollständig gestrichen. Und es dauerte noch einmal viele Jahre, bis alle Urteile aufgehoben wurden. Bis unsere Demokratie die Kraft fand, einzugestehen: Diese Urteile waren Unrecht!
Auch auf die Anerkennung als Opfer der Nationalsozialisten warteten sexuelle Minderheiten lange vergebens. In den 80er-Jahren begannen zivilgesellschaftliche Initiativen in Ost- und Westdeutschland, öffentlich an deren Verfolgungsgeschichte zu erinnern. Und stießen damit immer wieder auch auf Widerstand.
Es ist mir sehr wichtig, dass wir heute der Menschen gedenken, die wegen ihrer sexuellen Orientierung und geschlechtlichen Identität verfolgt wurden. Teil unseres Gedenkens ist, dass Überlebende hier im Parlament ihre Stimme erheben und uns von ihrem Leben und Leiden berichten.
Die letzten Überlebenden dieser Opfergruppe sind verstorben, ohne dass wir sie gehört haben. Ihre Geschichten müssen andere erzählen. Liebe Maren Kroymann, lieber Jannik Schümann, Sie beide übernehmen diese Aufgabe und tragen uns die Opferbiografien von Mary Pünjer und Karl Gorath vor. Der Historiker Lutz van Dijk hat diese Texte verfasst.
(Beifall)
Lieber Klaus Schirdewahn, Sie können aus eigenem Erleben berichten. Zum Abschluss der Gedenkstunde werden Sie über Ihre Verfolgung als Homosexueller in der Bundesrepublik sprechen.
Liebe Frau Kats, Sie haben als jüdisches Kind unter falscher Identität überlebt. Ihre Eltern wurden in Auschwitz ermordet. Zum Auftakt werden Sie uns berichten, was es bedeutet, wenn ein Mensch seine oder ihre wahre Identität entdeckt.
Ich bedanke mich bei Ihnen allen, dass Sie an dieser Gedenkstunde mitwirken.
(Beifall)
Ebenso danke ich allen, die sich im Vorfeld dafür eingesetzt und den Aufruf zum Erinnern an sexuelle Minderheiten unterstützt haben.
Noch immer wissen wir über das Schicksal einzelner sexueller Minderheiten zu wenig. Die Nationalsozialisten verfolgten lesbische Frauen und transsexuelle Menschen unter Vorwänden. Etwa als sogenannte „Asoziale“. So machten sie deren Kriminalisierung aufgrund der geschlechtlichen Identität unsichtbar. Andere Opfergruppen kommen ebenfalls erst allmählich in unseren Blick.
Für unsere Erinnerungskultur ist es wichtig, dass wir die Geschichten aller Verfolgten erzählen. Ihr Unrecht sichtbar machen. Ihr Leid anerkennen. Immer weniger Zeitzeugen können uns ihre Geschichte erzählen. Aber wir können - und müssen! - uns ihr Leid auf andere Weise vergegenwärtigen. Und ihr Zeugnis weitertragen. Wir müssen in der Erinnerungskultur neue Wege gehen.
Am Dienstag habe ich hier im Bundestag eine Ausstellung der Gedenkstätte Yad Vashem eröffnet. Gemeinsam mit dem Vorsitzenden Dani Dayan, dem ich sehr dafür danke. Die Ausstellung zeigt Alltagsgegenstände deutscher Jüdinnen und Juden: einen Chanukkaleuchter, einen Fluchtkoffer oder eine Puppe. Die Objekte werden erstmals wieder in Deutschland gezeigt. Auch wenn ihre einstigen Besitzerinnen und Besitzer nicht mehr alle selbst sprechen können: Die Gegenstände zu betrachten macht den unwiederbringlichen Verlust spürbar, den der millionenfache Mord an den europäischen Jüdinnen und Juden bedeutet.
Daher sind auch Gedenkstätten an den historischen Orten des Verbrechens so wertvoll. Vor zwei Wochen habe ich die Gedenkstätte für Opfer der NS-„Euthanasie“ in Bernburg besucht. Hier wurden 14 000 Menschen ermordet: Patientinnen und Patienten aus Heil- und Pflegeanstalten sowie Häftlinge aus Konzentrationslagern. Darunter auch Mary Pünjer, von deren Schicksal wir gleich erfahren. Der Besuch dieser Gedenkstätte hat mich sehr berührt.
Einer lebendigen Erinnerungskultur dient auch die Jugendbegegnung des Deutschen Bundestages. Hier im Saal befinden sich einige Teilnehmerinnen und Teilnehmer. Auch Ihnen danke ich, dass Sie heute hier sind.
(Beifall)
Wir brauchen diese lebendige Erinnerungskultur. Denn: Viele Menschen in unserem Land glauben, Deutschland hätte sich bereits mehr als genug mit der Shoa beschäftigt. Das ist ein Irrtum. Es kann keinen Schlussstrich geben!
(Beifall)
Es ist gefährlich, zu glauben, wir hätten „ausgelernt“. Wir müssen uns weiterhin mit unserer Vergangenheit auseinandersetzen! Noch immer gibt es offene, schmerzhafte Fragen. Mich beunruhigen auch Versuche, die Einzigartigkeit des Holocausts zu relativieren. Das müssen wir entschieden zurückweisen.
(Beifall)
Mir scheint, wir waren schon einmal weiter. Antisemitismus und Antiziganismus, Rassismus und andere Formen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit nehmen zu. Fünf antisemitische Straftaten werden im Schnitt jeden Tag in Deutschland registriert. Gedenkstätten werden geschändet, jüdische Einrichtungen und Synagogen angegriffen. Menschen werden angefeindet, bedroht und attackiert - weil sie Jüdinnen oder Juden sind. Das ist eine Schande für unser Land!
(Beifall)
Wir alle müssen bei antisemitischen Vorfällen Zivilcourage beweisen. Niemand darf wegschauen!
Vor genau einem Jahr habe ich hier gesagt: „Antisemitismus ist mitten unter uns.“ Und ich bleibe bei meiner Aussage. Antisemitismus, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit finden sich keineswegs nur am äußersten Rand.
(Beifall)
Insbesondere Antisemitismus nimmt immer öfter auch versteckte Formen an - etwa bei der Dämonisierung des Staates Israel oder in Verschwörungsbehauptungen während der Coronapandemie. Wir müssen wachsam bleiben und genau hinschauen. Wie auch die Debatte um die Documenta 15 gezeigt hat.
(Beifall)
Wir müssen auch bei der Diskriminierung queerer Menschen genau hinschauen. Queerfeindliche Straftaten nehmen zu. Die Auschwitz-Überlebende Esther Bejarano hat uns eine eindringliche Mahnung hinterlassen - ich zitiere -: „Menschlichkeit ist unteilbar. Die Forderung “Nie wieder!„ gilt auch für die Homosexuellen.“ Nehmen wir sie beim Wort! Nehmen wir ihre Worte ernst!
(Beifall)
In den sozialen Netzwerken wird gegen queere Menschen in unerträglicher Weise gehetzt. Schwule, Lesben und Transpersonen werden beleidigt, bedrängt und angegriffen. Sogar auf den Paraden des Christopher Street Day, wie wir im vergangenen Jahr beim Tod von Malte sehen konnten. Malte war ein Transmann. Auch hier sind wir alle gefordert, gegen Diskriminierungen aufzustehen. Eine freiheitliche offene Gesellschaft ist keine Selbstverständlichkeit. „Nie wieder!“ - das ist ein Auftrag - für uns alle. Wo Hass um sich greift, ist niemand sicher.
(Beifall)
Kämpfen wir gegen Antisemitismus, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit! Engagieren wir uns für Toleranz und Vielfalt! Für eine Gesellschaft, in der die Würde aller Menschen tatsächlich unantastbar ist.
(Beifall)
Rozette Kats:
Sehr geehrte Frau Bundestagspräsidentin Bas!
Sehr geehrte Abgeordnete des Deutschen Bundestages!
Liebe Menschen!
Ich danke für die Einladung, heute zu Ihnen sprechen zu können. Denn heute - am Tag der Befreiung von Auschwitz vor 78 Jahren - erinnern wir im Besonderen an Menschen, die damals verfolgt und ermordet wurden, weil sie sexuellen und geschlechtlichen Minderheiten angehörten. Ich selbst gehöre keiner sexuellen Minderheit an. Ich habe den Holocaust als jüdisches Kind in Amsterdam überlebt. Aber wenn ich auf die Erfahrungen derjenigen höre, die als sexuelle Minderheiten ausgegrenzt und verfolgt wurden, erkenne ich wichtige Gemeinsamkeiten mit meinem eigenen Leben. Gestatten Sie mir, dass ich darum zunächst kurz von meinem eigenen Leben erzähle.
Im Februar 1943, ich war acht Monate alt, gaben mich meine Eltern an ein niederländisch-humanistisches Ehepaar. Meine Mutter war zu der Zeit schwanger mit meinem kleinen Bruder. Er kam dann im Durchgangslager Westerbork in den Niederlanden zur Welt. Von da aus wurden meine Eltern und mein kleiner Bruder zusammen mit Hunderten anderen jüdischen Kindern, Frauen und Männern in einem überfüllten Viehtransport-Zug nach Auschwitz deportiert. Schon kurz nach ihrer Ankunft wurden die meisten von ihnen in Gaskammern umgebracht. Auch meine Mutter und mein Babybruder. Mein Vater musste noch vier Monate Schwerstarbeit leisten, bevor auch er ermordet wurde.
Ich aber wuchs bei meinen Pflegeeltern auf. Nicht als Rozette, meinem richtigen Namen. Um mich zu schützen, hatten sie mir den Namen „Rita“ gegeben.
Am Vorabend meines sechsten Geburtstags nahm mich mein Pflegevater auf den Schoß und erklärte mir: „Rita - dein richtiger Name ist Rozette. Wir sind nicht deine wirklichen Eltern. Deine Eltern wurden in Auschwitz ermordet, weil sie Juden waren.“ Und er fügte hinzu: „Doch du musst keine Angst haben. Wir lieben dich und sorgen für dich, bis du groß bist. Und wir brauchen auch nicht mehr darüber zu sprechen.“
Aber ich hatte Angst. Ich verstand nicht, was meinen Eltern geschehen war. Ich verstand nicht, warum jemand sie hatte ermorden wollen. Und was bedeutete „jüdisch“? Ich verstand nur, dass ich dann wohl auch jüdisch war, wie meine Eltern. Alles war viel zu schrecklich für ein Kind von sechs Jahren. Unbewusst habe ich damals beschlossen: Wenn ich mich nur gut anpasse und nicht weiterfrage, wird mir schon nichts geschehen. Ich muss nur weiter die Maske des nicht-jüdischen Kindes tragen.
Im Grunde dauerte dieses Nicht-wissen-Wollen und dieses Verschweigen mehr als mein halbes Leben. Ich führte ein Doppelleben, was von niemandem bemerkt wurde. Und dieses Doppelleben machte mich krank.
Erst viele Jahre später - 1992 - wurde in Amsterdam eine Konferenz für Menschen wie mich organisiert: für jüdische Kinder, die während des Kriegs versteckt worden waren. Ich war nun 50 Jahre alt und traf endlich mehr Menschen, die Ähnliches wie ich erlebt hatten. Das war meine Befreiung: ein Coming-out aus meinem Versteck. Ich war nicht mehr die Einzige.
Seitdem hat sich mein Leben deutlich verbessert. Bis heute bin ich aktiv, unter anderem für die Gedenkstätte Westerbork. So berichte ich auch aus meinem Leben an Schulen und bei anderen Veranstaltungen in den Niederlanden und Deutschland. Auch ich lerne viel bei diesen Veranstaltungen und Begegnungen. In jüngster Zeit berühren mich besonders Gespräche mit jungen Flüchtlingen, die viel von sich erkennen in meiner Geschichte.
Was ich als kleines Kind lernen musste, das mussten jedoch auch viele Angehörige sexueller und geschlechtlicher Minderheiten vor - und leider auch nach - 1945 lernen: Denn es macht Menschen krank, wenn sie sich verstecken und verleugnen müssen.
Und noch etwas habe ich verstanden: Das Versprechen „Nie wieder!“ meinte längst nicht alle Opfergruppen der Nationalsozialisten. Roma und Sinti mussten noch jahrzehntelang um Anerkennung kämpfen; das wurde gesagt. Und wiederum erst sehr spät wurde verstanden, dass zum Beispiel der Haftgrund „asozial“ eine Nazi-Definition war, die auch zur Verurteilung lesbischer Frauen missbraucht wurde.
Ich weiß sehr wohl, dass es bei verschiedenen Opfergruppen lange Zeit Vorbehalte gegeneinander gab. Bei mancher der jährlichen Gedenkveranstaltungen galt noch vor wenigen Jahrzehnten, dass nicht an homosexuelle Männer erinnert werden sollte. Ich halte das für falsch. Darum habe ich die Petition, initiiert von dem Historiker und Freund Lutz van Dijk, um auch an sexuelle und geschlechtliche Minderheiten im Bundestag zu erinnern, als eine der Ersten damals unterzeichnet.
(Beifall)
Denn: Wenn Menschen in Kategorien von mehr oder weniger „wertvoll“ eingeteilt werden, wenn bestimmte Opfergruppen gar als weniger „wertvoll“ als andere angesehen werden, dann bedeutet das am Ende nur eins: dass die nationalsozialistische Ideologie weiterlebt. Und leider bis heute weiter wirkt, wenn wir Gewalttaten gegen queere Menschen noch immer erleben müssen.
Heute bin ich 80 Jahre alt. Ich habe nicht vergessen, wie schlimm es ist, sich verleugnen und verstecken zu müssen. Darauf gibt es nur eine Antwort: Jeder Mensch, der damals verfolgt wurde, verdient achtungsvolle Erinnerung. Jeder Mensch, der heute verfolgt wird, hat Anspruch auf unsere Anerkennung und unseren Schutz!
(Beifall)
Und das noch: Ich wünsche mir für unsere Kinder, für alle Kinder dieser Welt, dass jede Form von Diskriminierung, aber im Extremen auch Kriege, wo auch immer in der Welt, nicht als normal empfunden werden müssen, sondern als schreckliche Abweichungen, die es zu überwinden gilt!
(Beifall)
Ich danke Ihnen, dass Sie heute im Bundestag an die Verfolgung sexueller und geschlechtlicher Minderheiten in der NS-Zeit und danach erinnern. Ich bin gern aus den Niederlanden zu Ihnen gekommen, zusammen mit meiner Tochter Mirjam, die meine Arbeit einmal auf ihre Weise fortsetzen wird.
(Beifall)
Ich danke Ihnen, weil Sie damit endlich früheres Unrecht anerkennen und so allen Menschen heute Mut machen. Auch mir.
Vielen Dank.
(Langanhaltender Beifall - Die Anwesenden erheben sich)
Redebeitrag zu Mary Pünjer am 27. Januar 2023
gesprochen von Maren Kroymann
Liebe Mary Pünjer,
eigentlich solltest Du hier stehen und berichten. Solltest uns Deine Sicht auf Deine Lebensgeschichte erzählen, die, trotz mühsam aufgespürter Dokumente, noch immer unvollständig ist.
Selbst über Deinen Tod wurde bis zuletzt gelogen. Angeblich bist Du 1942, mit 37 Jahren, im Konzentrationslager Ravensbrück an Herztod gestorben. Aber Du bist nicht „gestorben“. Du bist ermordet worden - in der Gaskammer einer sogenannten Heilanstalt, die aber auch als Tötungsanstalt missbraucht wurde. Selektiert für die Vergasung von einem deutschen Arzt, der auf der Diagnose-Karte vermerkt, dass Du eine „sehr aktive ,kesse‘ Lesbierin“ gewesen seist. Wie kam der Arzt zu der tödlichen sogenannten „Diagnose“? Was würdest Du uns heute sagen, wenn wir Dir zuhören könnten?
(Fotos auf der Medienwand im Plenarsaal)
Diese Fotos zeigen Dich im März 1941 als Häftling im Konzentrationslager Ravensbrück. Da bist Du 36 Jahre alt. Du hast nur noch etwas mehr als ein Jahr zu leben.
Was wissen wir über Dein Leben bis hierher? Geboren wirst Du 1904 in eine jüdische Kaufmannsfamilie in Wandsbek, das heute zu Hamburg gehört. Deine Eltern führen ein gut gehendes Damenkonfektionsgeschäft. Du kannst eine höhere Schule besuchen und schaffst 1922 Dein Abitur. Danach arbeitest Du zunächst im Geschäft der Eltern mit. Dein Vater stirbt 1926, ab jetzt leiten Deine Mutter und Dein Bruder Herbert das Geschäft. 1929, mit 25 Jahren, heiratest Du den nichtjüdischen Buchmacher Fritz Pünjer. Eure Ehe bleibt kinderlos.
Ab Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft 1933 ist auch Euer Familiengeschäft von Boykotten betroffen. Trotz aller Propaganda lässt Dein Mann sich nicht von Dir, seiner jüdischen Frau, scheiden. Das bietet Dir zunächst einen gewissen Schutz.
Nach dem Pogrom vom November 1938, das die Nazis verharmlosend als „Kristallnacht“ bezeichnen, muss Deine Mutter das Geschäft aufgeben und es, wie auch ihr Wohnhaus, mit Grundstück weit unter Wert verkaufen. Dein Mann Fritz wird gleich nach Kriegsbeginn 1939 als Fahrer zum verstärkten Polizeischutz im besetzten Polen eingezogen, kommt aber immer wieder auch zurück nach Hamburg.
Warum wirst Du am Abend des 24. Juli 1940 verhaftet? Es gibt darüber weder eigene Aussagen von Dir noch polizeiliche Dokumente. Du wirst zunächst in das Konzentrationslager Hamburg-Fuhlsbüttel gebracht und dann, am 12. Oktober 1940, in das Frauenkonzentrationslager Ravensbrück deportiert. Auf der Zugangsliste ist hinter Deinem Namen das Wort „asozial“ vermerkt, nicht jedoch „jüdisch“. Du erhältst die Häftlingsnummer 4841. Auf Deiner Häftlingskleidung ist der schwarze Winkel der „Asozialen“.
Lagerdokumente aus Ravensbrück weisen ebenfalls aus, dass Du in den Barackenblöcken für „asoziale“ Häftlinge untergebracht bist, nicht in denen für jüdische Häftlinge. Einmal wirst Du vorübergehend zurück nach Hamburg transportiert und im 23. Kriminalkommissariat verhört. In dem Kommissariat, das vor allem für „sexuelle Delikte“ zuständig ist. Auch hier fehlen Protokolle der Verhöre. Jedenfalls scheint Deine langjährige Ehe wenig zu zählen angesichts der dort erhobenen Anklagen wegen lesbischen Verhaltens, die später ein KZ-Arzt gegen Dich verwenden wird.
Verfolgt werden auch Deine Geschwister:
(Fotos auf der Medienwand im Plenarsaal)
Wir sehen Dich hier, vermutlich 1908, in Wandsbek, im Alter von vier Jahren. Du stehst lebensfroh in der Mitte, links neben Dir Dein älterer Bruder Herbert und rechts Deine ältere Schwester Ilse. Deine Schwester Ilse wird 1941 als Jüdin zunächst nach Riga deportiert und schließlich im KZ Stutthof ermordet. Eurem Bruder Herbert gelingt mit Frau und Sohn 1938 noch die Flucht nach Amerika.
Eure Mutter Lina Kümmermann wird im Juli 1942 als Jüdin zunächst nach Theresienstadt und von dort nach Auschwitz deportiert, wo sie im Mai 1944 mit 71 Jahren ebenfalls ermordet wird.
Genaue Zahlen darüber, wie viele Menschen in der NS-Zeit als „Asoziale“ ermordet wurden, gibt es nicht. Eine Schätzung des US-amerikanischen Holocaust-Museums in Washington aus dem Jahr 2019 geht von circa 70 000 Opfern aus.
Was war anders an Mary Pünjer? Und was genau bedeutete die Häftlingskategorie „asozial“? Anders als bei homosexuellen Männern war lesbisches Verhalten nach keinem Paragrafen im Gesetzbuch strafbar. Unter „asozial“ wurden verschiedene Verhaltensformen zusammengefasst, die im Nazi-Jargon von „arbeitsscheu“ über „Prostitution“, „Vagabundieren und Bettelei“ bis zur „Veruntreuung öffentlicher Unterstützungsleistungen“ reichten. Gefährlich wurde es vor allem dann, wenn sogenannte Fachärzt/-innen eine „Vererbung asozialen Verhaltens“ attestierten und damit auch eine „Ausmerzung erbkranken Lebens“ anordnen konnten.
In einigen Fällen wurden lesbische Frauen gleichermaßen als „asozial“ eingestuft. Diese Einstufung traf auch Mary Pünjer. Aber hatte sie wirklich Kontakte mit lesbischen Frauen? Und war ihre Ehe nur eine Scheinehe, um sie als Jüdin und Lesbe doppelt zu schützen? Oder war eine Denunziation der Auslöser für ihre Verhaftung? Hatte sie wirklich „lesbische Lokale“ in Hamburg „fortgesetzt aufgesucht“ und dort „Zärtlichkeiten ausgetauscht“?
Damit begründete später der KZ-Arzt Friedrich Mennecke in Ravensbrück seine Selektion. Zusammen mit rund 1 600 anderen Frauen schickte er Mary Pünjer, vermutlich zwischen Februar und April 1942, in die sogenannte Heil- und Pflegeanstalt Bernburg - mit dem Ziel der Ermordung durch Vergasen.
Im Deutschen Bundestag dauerte es bis zum Februar 2020, dass die Opfergruppe der „Asozialen“ als Verfolgte des Nationalsozialismus anerkannt wurde. Ein Gedenken im Bundestag steht noch immer aus.
In der Gedenkstätte Ravensbrück mündete ein langer fachlicher Disput erst im letzten Jahr 2022 in einen Kompromiss, um mit einer Gedenkkugel an die lesbischen Frauen zu erinnern, die dort umkamen. Nach Jahrzehnten der Maskierung und Verschleierung können auch heute noch immer nicht alle Geschichten vollständig und eindeutig erzählt werden. Immerhin aber gibt es endlich und zunehmend Bemühungen von Historiker/-innen, nicht mehr zunächst und allein die Kriterien und Gesetze der Nazis als Maßstab für eine Anerkennung als Opfer des Nationalsozialismus zuzulassen.
Nach offiziellen Angaben verstarb Mary Pünjer am 28. Mai 1942 im Konzentrationslager Ravensbrück mit 37 Jahren an „Herzversagen“. Das sind zweifellos Angaben, um die Mordaktion und den wirklichen Tötungsort in der sogenannten Heilanstalt zu verschleiern.
Zwei Tage danach wurde ihrem Mann mitgeteilt, dass er die Urne seiner Frau auf eigene Kosten anfordern könne. Fritz Pünjer tat es und ließ sie am 4. September 1942 auf dem Jüdischen Friedhof Jenfelder Straße in Hamburg beisetzen.
Was würdest Du uns heute sagen, Mary?
Angeklagt als „asozial“, selektiert und ermordet als „Lesbierin“: Was davon stimmte, was wurde Dir unterstellt?
Was war Dir wichtig? Gab es Liebe und Glück in Deinem Leben?
Immerhin erinnert ein Stolperstein in Hamburg-Wandsbek an Dich.
Wie gern hätten wir Dir zugehört ...
(Beifall)
Bertolt Brecht (1898-1956), Hanns Eisler (1898-1962)
„Von der Freundlichkeit der Welt“ (1927)
vorgetragen von Georgette Dee in einer bearbeiteten
Fassung,
ergänzt durch einen Ausschnitt aus den drei Elegien von
Bertolt Brecht und Hanns Eisler
Begleitung: Tobias Bartholmeß (Flügel)
(Beifall)
Redebeitrag zu Karl Gorath am 27. Januar 2023
gesprochen von Jannik Schümann
Lieber Karl Gorath,
eigentlich solltest Du hier stehen und berichten. Du bist alt geworden, 90 Jahre alt. Aber es hat nicht gereicht. 2003, im Jahr Deines Todes, wollten nur wenige Menschen Geschichten wie Deine hören. Darum stehe nun ich hier und versuche, Dir eine Stimme zu geben.
Du bist 22 Jahre jung, als Du zum ersten Mal nach § 175 verhaftet wirst. Angezeigt von einem Schulleiter - für eine Tat, die da schon einige Jahre zurück liegt. Zwei Jungen eben … Du hast Pech, wirst mit mehr als einem Jahr Gefängnis bestraft. Bist also jetzt vorbestraft. Ein Krimineller.
Geboren bist Du 1912 in Bad Zwischenahn, ziehst später nach Bremerhaven und machst eine Ausbildung zum Krankenpfleger. Dann, 1934, die erste Verurteilung nach § 175 mit 22 Jahren.
Ein Jahr später - 1935 - verschärft die Hitler-Regierung den seit 1872 im Deutschen Reich bestehenden § 175 nicht nur mit höheren Haftstrafen. Ab jetzt kann nach „gesundem Volksempfinden“ verurteilt werden. Und wird verurteilt, oft auch ohne eindeutige Beweise.
Du bist jung, Karl. Noch immer. Du triffst Dich weiter mit anderen Männern. Heimlich. Klar. Wie sonst?
1938, mit 26, wirst Du erneut angezeigt und 1939 und 1940 nach § 175 zu einer Gesamtzuchthausstrafe von drei Jahren verurteilt. Im November 1942 - Du hast Deine Strafe, einschließlich der Untersuchungshaft, fast abgebüßt - wird „polizeiliche Vorbeugungshaft“ angeordnet. Als „gefährlichen Wiederholungstäter“ deportieren sie Dich im Januar 1943 in das Konzentrationslager Neuengamme bei Hamburg. Hier trägst Du erstmals auf Deiner Sträflingskleidung den Rosa Winkel für Häftlinge, die nach § 175 verurteilt worden sind.
Später hast Du berichtet, dass Dir zwei Begebenheiten zunächst beim Überleben all der Schrecken des Alltags im KZ geholfen haben: Da ich eine Ausbildung als Krankenpfleger absolviert hatte, sagtest du, wurde ich der Krankenabteilung zugewiesen ... Ich brauchte nicht zu den täglichen Arbeitseinsätzen ausrücken. Und: Mir war es dank der Hilfe von Kameraden später möglich, meinen rosa Winkel gegen einen roten auszutauschen.
Doch schon wenig später machst Du Dich eines anderen KZ-Vergehens schuldig. In Deinen Worten: Die Lagerleitung hat die russischen Kriegsgefangenen aushungern lassen ... Wir haben dann versucht, Essenrationen in das Russenlager zu schmuggeln. Als das aufflog, hieß es: „Straftransport nach Auschwitz“ ... Mit vier weiteren Kameraden wurde ich dann am 1. Juni 1943 nach Auschwitz deportiert.
Hier sehen wir Dich als Häftling in Auschwitz im Jahr 1943.
(Fotos auf der Medienwand im Plenarsaal)
Zu diesem Zeitpunkt bist Du 31 Jahre alt. Immerhin trägst Du ab hier den Roten Winkel der politischen Häftlinge. Ein deutlicher Vorteil. Denn es ist ja kein Geheimnis, dass die Häftlinge mit den Rosa Winkeln sowohl beim Wachpersonal als auch bei Mitgefangenen ganz unten in der Hierarchie stehen. Der ehemalige Lagerkommandant von Auschwitz, Rudolf Höß, notiert kurz vor seiner Hinrichtung 1947 in sein Tagebuch über die Häftlinge mit dem Rosa Winkel: Bei diesen half keine noch so schwere Arbeit, keine noch so strenge Aufsicht. Da sie von ihrem Laster nicht lassen konnten oder nicht wollten, wussten sie, dass sie nicht mehr frei würden. Dieser stärkst wirksame psychische Druck bei diesen meist zartbesaiteten Naturen beschleunigte den physischen Verfall. Kam dazu noch etwa der Verlust des „Freundes“ durch Krankheit oder gar durch Tod, konnte man den Exitus voraussehen. Der „Freund“ bedeutete diesen Naturen in dieser Lage alles. Es kam auch mehrere Male vor, dass zwei Freunde gemeinsam in den Tod gingen.
Dir gelingt es, wieder als Pfleger im Krankenrevier zu arbeiten. Du steigst sogar zum Blockältesten auf. Zwei junge polnische Häftlinge werden Dir zugeordnet - ihre Namen wirst Du niemals mehr vergessen -: Tadeusz und Zbigniew, 21 und 15 Jahre alt. Du liebtest sie, sagst Du später. Und versuchtest alles, um sie zu schützen. Irgendwann werdet Ihr auseinandergerissen, die Spuren verlieren sich. Ob sie überlebt haben? Diese Frage beschäftigt Dich bis an Dein Lebensende.
Kurz vor der Befreiung des KZ Auschwitz durch die Rote Armee - heute, am 27. Januar vor 78 Jahren - wirst Du auf einen Transport Richtung Westen geschickt, den Du nur knapp überlebst. In Deinen Worten: Am 8. Mai 1945 ... war ich an Ruhr erkrankt und fast schon tot. Ein französischer Arzt hat mich aus einem Berg von Leichen gezogen und wieder hochgepäppelt.
Nach dem Krieg lebst Du wieder in Bremerhaven. Doch schon im März 1946 wirst Du erneut verhaftet und im September wegen „schwerer Unzucht unter Männern“ nach § 175 zu fünf Jahren Zuchthaus verurteilt. Zu Deinem Entsetzen empfängt Dich im Gerichtssaal derselbe Richter, der Dich schon einmal verurteilt hat, mit den Worten: „Sie sind ja schon wieder hier!“ Einen Antrag Deines Verteidigers, die Zuchthausstrafe um die Zeit der KZ-Haft zu verkürzen, lehnt er ab. Du musst die fünf Jahre Zuchthaus voll verbüßen.
In den Jahren der nationalsozialistischen Herrschaft von 1933 bis 1945 wurden in Deutschland circa 50 000 Männer nach § 175 verurteilt. Etwa 10 000 von ihnen kamen nach Abbüßung der Strafe in verschiedene KZs.
Etwa ebenso viele wurden von 1945 bis 1969 in der Bundesrepublik Deutschland verurteilt - nach der seit 1935 noch immer gleichen Fassung des Paragrafen.
Später berichtete Karl Gorath: Ich habe dann zehn Jahre keine Arbeit mehr bekommen, denn ich war ja richtig vorbestraft. Später hat man mir die Haftzeit auch noch von meinem Rentenanspruch abgezogen ... Meine Rente lag unter Sozialsatz.
Noch aus der Haft heraus hatte Karl Gorath ab 1950 mehrmals Anträge auf Wiedergutmachung für in der NS-Zeit erlittenes Unrecht gestellt. Sie wurden allesamt abgelehnt. 1957 bestätigte das Bundesverfassungsgericht, dass die nationalsozialistische Fassung des § 175 kein NS-Unrecht sei, sondern „geltender Rechtsauffassung“ entspreche.
Nach seiner Haftentlassung und mehr als zehn Jahren der Arbeitslosigkeit fand Karl Gorath bis zur Rente eine Anstellung bei der Seemannsmission in Bremerhaven. Mehrfach beantragte er, die Jahre der KZ-Haft auf seine Rente anzurechnen. Auch diese Anträge wurden wiederholt abgelehnt, zuletzt 1980 vom Bremer Sozialgericht, weil, wie es hieß, „der Kläger [kein] Verfolgter ist, sondern [bestraft worden war], wegen der von ihm begangenen Sittlichkeitsdelikte“.
Erst als sich junge Leute beim Bremer Rat&Tat-Zentrum, allen voran der Soziologe Jörg Hutter, für ihn einsetzten, gelang es endlich, dass seine monatliche Rente über den Bremer Härtefonds um bescheidene 500 DM aufgestockt wurde.
Im selben Jahr 1989 schloss Karl Gorath sich einer Studienfahrt junger homosexueller Männer aus Norddeutschland an, die als erste offen schwule Gruppe nach Auschwitz reiste, um als Gruppe Freiwilliger von Aktion Sühnezeichen bei Instandsetzungsarbeiten in der Gedenkstätte mitzuhelfen. Und um im Archiv nach Zeugnissen von §-175-Häftlingen zu suchen.
Hier sehen wir Karl Gorath bei seinem Besuch in der Gedenkstätte Auschwitz.
(Fotos auf der Medienwand im Plenarsaal)
Ihm war bei dieser Reise nur eines wichtig: herauszufinden, was aus seinen damals jungen polnischen Freunden Tadeusz und Zbigniew geworden war. Hatten sie, wie er, überlebt? Im Archiv wurden ihm Dokumente gezeigt, nach denen die Namen beider junger Polen auf einer Todesliste notiert sind. Der inzwischen 77-Jährige war darüber so erschüttert, dass er die Reise abbrach und allein zurück nach Bremerhaven fuhr.
Karl Gorath starb im März 2003 mit 90 Jahren - ohne die Wahrheit über die beiden jungen Polen zu erfahren. Die kam erst vor Kurzem - 2020 - ans Tageslicht. Im Rahmen des polnisch-deutschen Forschungsprojektes „Erinnern in Auschwitz - auch an sexuelle Minderheiten“ fand die polnische Historikerin Dr. Joanna Ostrowska nicht nur heraus, dass beide Männer überlebt hatten. Einer von ihnen, Zbigniew K., begleitete 1989 - als Karl Gorath dort nach Unterlagen über sein Schicksal suchte - noch als Zeitzeuge Führungen in der Gedenkstätte Auschwitz. Zbigniew starb erst 2012.
Vielleicht kannst Du etwas mehr Frieden finden in dem Wissen, dass Deine jungen polnischen Freunde überlebten. Vielleicht kannst Du uns heute zuhören, lieber Karl.
(Beifall)
Klaus Schirdewahn:
Sehr geehrte Frau Bundestagspräsidentin!
Verehrter Herr Bundespräsident!
Verehrte Anwesende!
Dass ich jetzt vor Ihnen sprechen kann, ist nicht selbstverständlich. Noch vor wenigen Jahren war ich tief in meinem Inneren so verunsichert, schämte mich meiner Gefühle, versteckte mich, war immer auf der Hut, nur ja nichts Falsches zu sagen, nur nichts von meinen Gefühlen zu erkennen zu geben.
Bis vor fünf Jahren galt ich als vorbestraft, weil ich im Jahr 1964 - als 17-Jähriger - von der Staatsanwaltschaft in Rheinland-Pfalz angeklagt und daraufhin schuldig gesprochen wurde - schuldig wegen meiner Gefühle für einen anderen Mann, schuldig, gegen den § 175 des Strafgesetzbuches verstoßen zu haben. Dieser Paragraf war 1935 von den Nationalsozialisten verschärft worden. Diese verschärfte Fassung galt in der BRD noch bis 1969. Komplett abgeschafft wurde der Paragraf erst 1994. Und erst im Jahre 2017 wurden die Schuldsprüche aufgehoben, auch mein Schuldspruch.
Was während des Nationalsozialismus strafrechtlich galt, galt für mich und viele andere noch bis 1969. Damals begann sich unsere Gesellschaft langsam mit den zwischen 1933 und 1945 begangenen Verbrechen zu beschäftigen. Aber „wir“ waren mit „unserer“ Lebensweise noch nicht willkommen. Zu sehr wirkte das Gift des nationalsozialistischen Menschen- und Familienbildes in Geist und Köpfen noch nach. „Wir“ - das sind nicht nur schwule Männer, sondern auch lesbische Frauen, bisexuelle, trans- und intergeschlechtliche Personen. Für uns alle war „das Dritte Reich noch nicht zu Ende“, wie es 1963 der Historiker Hans-Joachim Schoeps überspitzt, aber treffend sagte.
Die einzige Möglichkeit für mich selbst, im Jahr 1964 eine Freiheitsstrafe abzuwenden, bestand darin, eine Therapie zu beginnen, die mich von meiner Homosexualität „heilen“ sollte – „heilen“ in Anführungszeichen. Mein damaliger Mitangeklagter, der bereits 21 Jahre alt war und damit als volljährig galt, wurde mit einer Gefängnisstrafe von einem Jahr belegt.
Meine Familie war geprägt durch den christlichen Glauben. Ich selbst habe geglaubt, ich könnte mich ändern, mein Leben nach damals vorherrschender christlicher Norm leben. Doch was macht das mit einem Menschen, der niemandem ein Leid angetan hat, der niemanden bedrängt, bedroht oder angegriffen hat? Was macht es mit einem Menschen, der gezwungen wird, eine Therapie durchzuführen, die ihm seine Gefühle, seine Lebensweise, seine Identität, sein Wesen abspricht?
Meine spätere Ehefrau hat mich zeitweise zu dem Therapeuten begleitet. Wir beide haben geglaubt: Wir schaffen das.
Aber für mich begann ein erzwungenes Doppelleben, eine Zeit, in der ich mich verstecken und verstellen musste, um überleben zu können, eine Zeit, in der ich eingeschüchtert war, krank in der Seele, in der ich mich schämte für das, was ich fühlte, obwohl ich niemandem etwas getan hatte.
Ich versuchte, nirgendwo anzuecken, es allen recht zu machen. Mit niemandem konnte ich nach meiner Hochzeit darüber sprechen, was wirklich mit meinen Gefühlen los war. Ich war wieder gefangen.
Welche Last und welche Sorgen ich auch meiner Ehefrau und letztlich auch meiner Tochter zugefügt habe, ist mir erst später bewusst geworden, aber da war es schon zu spät.
„Schande“, „Todsünde“, „Verbrechen“ - das sind Begriffe, die ich nicht nur von meinen Eltern hörte. Ich baute eine Scheinwelt um mich herum auf, wurde stumm, litt unter Depressionen und körperlichen Schmerzen - jahrzehntelang.
Doch meine Gefühle ließen sich nicht abstellen oder unterdrücken. In meinem Inneren bewahrte ich mir den Rest eines Traumes von einem „freien und normalen“ Leben. Durch die jahrelange Arbeit von Aktivisten und Vorbildern ermutigt, entschloss ich mich spät in meinem Leben, mich endlich als schwuler Mann öffentlich zu zeigen. Dies war eine Befreiung, nach der ich zum ersten Mal das Gefühl hatte: Ich bin ich!
(Beifall)
Und die Erfahrung gemacht zu haben, von anderen Menschen so geliebt zu werden, wie ich bin, kann ich kaum beschreiben. Für heterosexuelle Menschen ist das überhaupt keine Frage - für mich jedoch war es eine überwältigende Erfahrung, dass angefangen von meinen Geschwistern immer mehr Menschen zu mir standen. Dadurch konnte ich selbst aktiv werden und engagiere mich bis heute für die gleichberechtigte Teilhabe von queeren Menschen in meiner jetzigen Heimatstadt Mannheim und darüber hinaus. All denen, die mir bisher auf meinem Weg geholfen und mich begleitet haben, möchte ich sehr herzlich danken.
(Beifall)
Ich weiß, dass viele Menschen aus der queeren Community ähnliche Erfahrungen wie ich gemacht haben, dass viele Menschen wie ich jahrzehntelang versteckt gelebt haben und weiterhin versteckt leben.
Ich setze mich mit meiner ganzen Kraft dafür ein, dass unsere Geschichte nicht vergessen wird - gerade heute, wo die queere Community erneut großen Anfeindungen weltweit und auch in Deutschland ausgesetzt ist. Es ist mir wichtig, dass die Jugend nicht vergisst, was es für Mühe und Kraft gekostet hat, dass wir so leben können, wie wir jetzt leben dürfen.
Sie, Herr Bundespräsident, sagten 2018:
„Zu unserem Gedenken muss aber auch die Zeit nach 1945 gehören. … Die Würde von Homosexuellen, sie blieb antastbar. Zu lange hat es gedauert, bis auch ihre Würde etwas gezählt hat in Deutschland.“
Deswegen ist die heutige Gedenkstunde wichtig - nicht nur wichtig für mich persönlich, sondern für die gesamte Community.
(Beifall)
Die Gedenkstunde ist ein Zeichen der Anerkennung und ein Signal in die Gesellschaft hinein. Denn sie drückt Trauer über das Leiden aus, das queeren Menschen im Nationalsozialismus angetan wurde. Sie macht aber auch das Unrecht, das 1945 eben nicht endete, sichtbar und gibt den Betroffenen deswegen etwas von ihrer Würde zurück. Ich spreche deswegen auch für all diejenigen, die sich bis heute wegen ihrer sexuellen Orientierung oder ihrer geschlechtlichen Identität verstecken müssen, die deswegen beschimpft, angefeindet, bedroht, ja sogar getötet werden. Sie alle - „wir“ alle stehen hier.
Wie gesagt: Dass ich jetzt vor Ihnen sprechen konnte, ist noch nicht selbstverständlich!
Ich danke Ihnen.
(Anhaltender Beifall - Die Anwesenden erheben sich)
Friedrich Hollaender (1896-1976)
„Wenn ich mir was wünschen dürfte“ (1931)
vorgetragen von Georgette Dee
Begleitung: Tobias Bartholmeß (Flügel)
(Beifall)