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Rede von Rozette Kats bei der Gedenkstunde für die Opfer des Nationalsozialismus

[Stenografischer Dienst]

Sehr geehrte Frau Bundestagspräsidentin Bas!
Sehr geehrte Abgeordnete des Deutschen Bundestages!
Liebe Menschen!

Ich danke für die Einladung, heute zu Ihnen sprechen zu können. Denn heute - am Tag der Befreiung von Auschwitz vor 78 Jahren - erinnern wir im Besonderen an Menschen, die damals verfolgt und ermordet wurden, weil sie sexuellen und geschlechtlichen Minderheiten angehörten. Ich selbst gehöre keiner sexuellen Minderheit an. Ich habe den Holocaust als jüdisches Kind in Amsterdam überlebt. Aber wenn ich auf die Erfahrungen derjenigen höre, die als sexuelle Minderheiten ausgegrenzt und verfolgt wurden, erkenne ich wichtige Gemeinsamkeiten mit meinem eigenen Leben. Gestatten Sie mir, dass ich darum zunächst kurz von meinem eigenen Leben erzähle.

Im Februar 1943, ich war acht Monate alt, gaben mich meine Eltern an ein niederländisch-humanistisches Ehepaar. Meine Mutter war zu der Zeit schwanger mit meinem kleinen Bruder. Er kam dann im Durchgangslager Westerbork in den Niederlanden zur Welt. Von da aus wurden meine Eltern und mein kleiner Bruder zusammen mit Hunderten anderen jüdischen Kindern, Frauen und Männern in einem überfüllten Viehtransport-Zug nach Auschwitz deportiert. Schon kurz nach ihrer Ankunft wurden die meisten von ihnen in Gaskammern umgebracht. Auch meine Mutter und mein Babybruder. Mein Vater musste noch vier Monate Schwerstarbeit leisten, bevor auch er ermordet wurde.
Ich aber wuchs bei meinen Pflegeeltern auf. Nicht als Rozette, meinem richtigen Namen. Um mich zu schützen, hatten sie mir den Namen „Rita“ gegeben.
Am Vorabend meines sechsten Geburtstags nahm mich mein Pflegevater auf den Schoß und erklärte mir: „Rita - dein richtiger Name ist Rozette. Wir sind nicht deine wirklichen Eltern. Deine Eltern wurden in Auschwitz ermordet, weil sie Juden waren.“ Und er fügte hinzu: „Doch du musst keine Angst haben. Wir lieben dich und sorgen für dich, bis du groß bist. Und wir brauchen auch nicht mehr darüber zu sprechen.“
Aber ich hatte Angst. Ich verstand nicht, was meinen Eltern geschehen war. Ich verstand nicht, warum jemand sie hatte ermorden wollen. Und was bedeutete „jüdisch“? Ich verstand nur, dass ich dann wohl auch jüdisch war, wie meine Eltern. Alles war viel zu schrecklich für ein Kind von sechs Jahren. Unbewusst habe ich damals beschlossen: Wenn ich mich nur gut anpasse und nicht weiterfrage, wird mir schon nichts geschehen. Ich muss nur weiter die Maske des nicht-jüdischen Kindes tragen.
Im Grunde dauerte dieses Nicht-wissen-Wollen und dieses Verschweigen mehr als mein halbes Leben. Ich führte ein Doppelleben, was von niemandem bemerkt wurde. Und dieses Doppelleben machte mich krank.

Erst viele Jahre später - 1992 - wurde in Amsterdam eine Konferenz für Menschen wie mich organisiert: für jüdische Kinder, die während des Kriegs versteckt worden waren. Ich war nun 50 Jahre alt und traf endlich mehr Menschen, die Ähnliches wie ich erlebt hatten. Das war meine Befreiung: ein Coming-out aus meinem Versteck. Ich war nicht mehr die Einzige.

Seitdem hat sich mein Leben deutlich verbessert. Bis heute bin ich aktiv, unter anderem für die Gedenkstätte Westerbork. So berichte ich auch aus meinem Leben an Schulen und bei anderen Veranstaltungen in den Niederlanden und Deutschland. Auch ich lerne viel bei diesen Veranstaltungen und Begegnungen. In jüngster Zeit berühren mich besonders Gespräche mit jungen Flüchtlingen, die viel von sich erkennen in meiner Geschichte.

Was ich als kleines Kind lernen musste, das mussten jedoch auch viele Angehörige sexueller und geschlechtlicher Minderheiten vor - und leider auch nach - 1945 lernen: Denn es macht Menschen krank, wenn sie sich verstecken und verleugnen müssen.
Und noch etwas habe ich verstanden: Das Versprechen „Nie wieder!“ meinte längst nicht alle Opfergruppen der Nationalsozialisten. Roma und Sinti mussten noch jahrzehntelang um Anerkennung kämpfen; das wurde gesagt. Und wiederum erst sehr spät wurde verstanden, dass zum Beispiel der Haftgrund „asozial“ eine Nazi-Definition war, die auch zur Verurteilung lesbischer Frauen missbraucht wurde.

Ich weiß sehr wohl, dass es bei verschiedenen Opfergruppen lange Zeit Vorbehalte gegeneinander gab. Bei mancher der jährlichen Gedenkveranstaltungen galt noch vor wenigen Jahrzehnten, dass nicht an homosexuelle Männer erinnert werden sollte. Ich halte das für falsch. Darum habe ich die Petition, initiiert von dem Historiker und Freund Lutz van Dijk, um auch an sexuelle und geschlechtliche Minderheiten im Bundestag zu erinnern, als eine der Ersten damals unterzeichnet.

Denn: Wenn Menschen in Kategorien von mehr oder weniger „wertvoll“ eingeteilt werden, wenn bestimmte Opfergruppen gar als weniger „wertvoll“ als andere angesehen werden, dann bedeutet das am Ende nur eins: dass die nationalsozialistische Ideologie weiterlebt. Und leider bis heute weiter wirkt, wenn wir Gewalttaten gegen queere Menschen noch immer erleben müssen.

Heute bin ich 80 Jahre alt. Ich habe nicht vergessen, wie schlimm es ist, sich verleugnen und verstecken zu müssen. Darauf gibt es nur eine Antwort: Jeder Mensch, der damals verfolgt wurde, verdient achtungsvolle Erinnerung. Jeder Mensch, der heute verfolgt wird, hat Anspruch auf unsere Anerkennung und unseren Schutz!

Und das noch: Ich wünsche mir für unsere Kinder, für alle Kinder dieser Welt, dass jede Form von Diskriminierung, aber im Extremen auch Kriege, wo auch immer in der Welt, nicht als normal empfunden werden müssen, sondern als schreckliche Abweichungen, die es zu überwinden gilt!

Ich danke Ihnen, dass Sie heute im Bundestag an die Verfolgung sexueller und geschlechtlicher Minderheiten in der NS-Zeit und danach erinnern. Ich bin gern aus den Niederlanden zu Ihnen gekommen, zusammen mit meiner Tochter Mirjam, die meine Arbeit einmal auf ihre Weise fortsetzen wird.

Ich danke Ihnen, weil Sie damit endlich früheres Unrecht anerkennen und so allen Menschen heute Mut machen. Auch mir.

Vielen Dank.