Westig: Deutsch-französischer Jugendaustausch ist essenziell
Den 60. Jahrestag der Unterzeichnung des Elysée-Vertrags feiern Deutschland und Frankreich am am 22. Januar 2023. Im Lauf der Jahrzehnte haben sich die Beziehungen beider Länder vertieft. Seit zwanzig Jahren gibt es einen gemeinsamen Ministerrat, 2019 wurde die Deutsch-Französische Parlamentarische Versammlung eingerichtet. In der Deutsch-Französischen Parlamentariergruppe pflegen Abgeordnete des Bundestages bereits seit dem 19. Januar 1959 die bilateralen Beziehungen.
„Im konsequenten Austausch mit unseren französischen Kolleginnen und Kollegen ist es unser Ziel, das gegenseitige Verständnis füreinander zu vertiefen“, sagt Nicole Westig (FDP), Vorsitzende der Deutsch-Französischen Parlamentariergruppe, und unterstreicht die Bedeutung des Jugendaustauschs zwischen beiden Ländern. Im Interview spricht Westig über die aktuellen Herausforderungen der Zusammenarbeit, die Rolle der Parlamentariergruppe dabei, und darüber, wie sie selbst der Austausch mit Frankreich geprägt hat. Das Interview im Wortlaut:
Frau Westig, 60 Jahre Elysée-Vertrag zwischen Deutschland und Frankreich, eine jahrzehntelange Geschichte der Aussöhnung und Zusammenarbeit liegt hinter beiden Ländern, Generationen haben mittlerweile an der Pflege der deutsch-französischen Beziehungen gearbeitet. Was hat sich die deutsch-französische Parlamentariergruppe im Deutschen Bundestag in der neuen Wahlperiode vorgenommen, um die Partnerschaft zwischen beiden Ländern zu festigen und weiterzuentwickeln?
60 Jahre Elysée-Vertrag – das ist wahrlich ein Grund zur Freude und zum Feiern. Natürlich möchte auch die Parlamentariergruppe ihren Beitrag dazu leisten, weiter erfolgreich zusammenzuarbeiten und die Verbundenheit zu vertiefen. Im konsequenten Austausch mit unseren französischen Kolleginnen und Kollegen ist es unser Ziel, das gegenseitige Verständnis füreinander zu vertiefen. Das gilt insbesondere auch für unterschiedliche Positionen Deutschlands und Frankreichs. Hier zählt jede einzelne Begegnung auf parlamentarischer Ebene.
Haben Sie sich schon mit Ihren neu gewählten französischen Kolleginnen und Kollegen getroffen? Hat sich in der Assemblée nationale bereits eine Deutschland-Freundschaftsgruppe konstituiert?
Dadurch, dass in Frankreich die Parlamentswahl gut ein Dreivierteljahr nach unserer Bundestagswahl stattfand, waren wir zeitweise ein wenig in der Schwebe. Zunächst musste die deutsche Seite sich neu formieren, dann die französische. Jetzt gilt es, schnell die Kontakte wiederherzustellen, gerade auch für die neu hinzugekommenen Kolleginnen und Kollegen. Einen ersten Aufschlag wird es anlässlich der Feierlichkeiten am kommenden Sonntag in Paris geben. Dort werde ich auch den neuen Vorsitzenden der Französisch-Deutschen Freundschaftsgruppe in der Assemblée nationale, Sylvain Maillard, kennenlernen. Darauf freue ich mich schon.
Was sind die wichtigsten Anknüpfungspunkte für die Zusammenarbeit in den kommenden Monaten?
In den Medien stehen vor allem die Themen Energieversorgung und Verteidigung im Mittelpunkt. Das sind natürlich wichtige Fragen, die auch die Mitglieder der Parlamentariergruppe beschäftigen. Anknüpfen wollen wir aber auch auf zivilgesellschaftlicher Ebene. Dabei geht es besonders um die Jugend. Gerade nach der pandemiebedingten Pause müssen wir die Begegnungen Jugendlicher unserer beiden Länder wieder forcieren. Dazu gehört auch, dass wir junge Menschen hier und in Frankreich wieder motivieren, die jeweils andere Sprache zu lernen. Dass es für die deutsch-französische Freundschaft essenziell ist, Jugendliche diesseits und jenseits des Rheins füreinander zu begeistern, darüber bin ich mir auch mit dem neuen französischen Botschafter hier in Berlin, François Delattre, sehr einig.
Zu einem drängenden Thema ist in beiden Ländern die Frage der Energieversorgung geworden. Können die Parlamentarier, über die Bewältigung der aktuellen Krise hinaus, Impulse für eine zukunftsgerichtete Zusammenarbeit im Energiesektor geben?
Selbstverständlich. Gerade im Bereich der Energieversorgung gibt es große Synergieeffekte, die wir nutzen können. Ein aktuelles Thema hier ist zum Beispiel die engere Zusammenarbeit im Bereich des Wasserstoffs. Eine nachhaltige Wasserstoffwirtschaft öffnet vielfältige Chancen für Deutschland und Frankreich, und damit für ganz Europa. Das thematisiere ich immer wieder bei den verschiedensten Anlässen im deutsch-französischen Rahmen.
Die Kooperation der beiden Länder in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik scheint sich zurückentwickelt zu haben. Dabei blicken die beiden Länder schon auf lange Erfahrungen in dem Bereich zurück. Woran scheitert eine engere Kooperation im Rüstungs- und Verteidigungsbereich?
Auf diesen langen Erfahrungen sollten und können wir auch aufbauen. Es ist richtig, dass kurzzeitig der Abstimmungsbedarf auf beiden Seiten etwas größer war, doch das soll den deutsch-französischen Motor noch längst nicht abwürgen. Ich würde auch nicht von einem Scheitern der Kooperation sprechen. Vielmehr sehen wir uns angesichts des russischen Angriffskriegs mit einer Situation konfrontiert, von der wir erwartet und erhofft hätten, sie niemals mehr in Europa vorzufinden. Dass für dieses Extremszenario nicht alles von Beginn an perfekt abgestimmt ist, ist wohl der Komplexität der Situation geschuldet. Was zählt, ist jedoch das Ergebnis: Die Einigung im November in Sachen FCAS (Luftkampfsystem „Future Combat Air System“, Anm. d. Red.), Europas größtem Rüstungsprojekt, ist ein großer Schritt für die zukünftige deutsch-französische Rüstungskooperation.
Was wäre jetzt in dem Bereich nötig und was ist realistisch?
Mit der angesprochenen Einigung in Bezug auf FCAS hat sich schon sehr viel getan. 3,2 Milliarden Euro wurden dazu von Deutschland, Frankreich und Spanien zur Verfügung gestellt, um das Projekt für die nächsten drei Jahre zu finanzieren. Ab 2040 soll das System einsatzfähig sein, was ich ausdrücklich begrüße.
Was macht die deutsch-französischen Beziehungen so einzigartig?
60 Jahre sind eine lange Zeit. Wir können stolz darauf sein, dass wir mit dem Elysée-Vertrag die einstige erbitterte Feindschaft in tiefe, ehrliche und zukunftsträchtige Freundschaft umwandeln konnten. Neben den zahlreichen deutsch-französischen Institutionen, der engen politischen Zusammenarbeit und unzähligen universitären Austauschprogrammen macht für mich vor allem eines unsere Freundschaft aus: persönliche Begegnungen. Davon lebt diese Freundschaft. Mit der Entspannung der Corona-Lage lebt der so wichtige persönliche Austausch auch wieder auf.
Sind sich die Menschen dies- und jenseits des Rheins bewusst über die Bedeutung Deutschlands und Frankreichs für ein funktionierendes und starkes Europa?
Ganz bestimmt. Dieses Bewusstsein ist immer auch ein Ergebnis der Jugendarbeit. Wir haben es uns zur Aufgabe gemacht, die deutsch-französischen Beziehungen fest in unserem Leben und bereits im Schulunterricht zu verankern. Gerade deshalb betone ich immer wieder die Relevanz der Jugendarbeit und der vielen Austauschprogramme. Davon lebt dieses Bewusstsein.
Genauso alt wie der nun gefeierte Elysée-Vertrag ist das Deutsch-Französische Jugendwerk (DFJW). Hat die Organisation genug Strahlkraft, um neue Generationen für Erhalt und Weiterentwicklung der ambitionierten deutsch-französischen Zusammenarbeit zu begeistern?
Mit dem DFJW, das 1963 in meiner Heimatstadt Bad Honnef gegründet wurde und lange dort seinen Sitz hatte, bin ich in gutem Kontakt. Seit der Gründung haben 9,5 Millionen Jugendliche in 352.000 Austauschprogrammen deutsch-französische Freundschaft gelebt und erlebt. Und wenn ich eben gesagt habe, wie sehr uns die Jugend als Zukunft der deutsch-französischen Freundschaft am Herzen liegt, dann bietet das DFJW die Grundlage dafür. Die nötige Strahlkraft hat das DFJW auf jeden Fall.
Was für Themen liegen Ihnen in der grenzübergreifenden Jugendarbeit besonders am Herzen?
Zuerst denke ich da an die Jugendarbeit an sich. Das Thema kann man nicht oft genug in den Vordergrund ziehen. Dazu gehört zum einen der grenzübergreifende Austausch, sei es schulisch oder akademisch. Gerade hier ist das DFJW ein exzellenter Ansprechpartner. Daneben ist mir besonders wichtig, dass wir wieder mehr Wert auf das Erlernen der jeweiligen Sprache legen. Dass wir die Sprache des jeweils anderen sprechen, bildet die Grundlage für das bessere Verständnis und das Schaffen von Vertrauen.
Was ist Ihre persönliche Vision von den deutsch-französischen Beziehungen?
Ich habe als Schülerin mehrfach an Austauschen mit den französischen Partnerstädten meiner Geburtsstadt teilgenommen. Mein Bezug zu Frankreich ist daher sehr emotional und ich weiß, dass sehr viele Menschen in Deutschland so empfinden. Und das gilt umgekehrt auch für viele Französinnen und Franzosen. Meine Vision ist, dass aus dieser emotionalen Bindung füreinander etwas Großes für Europa erwächst. Es gibt gewiss viele Unterschiede zwischen Deutschland und Frankreich, doch dadurch, dass wir auf allen Ebenen miteinander reden, uns buchstäblich austauschen, können wir die Unterschiede überwinden. Und so gelingt die deutsch-französische Freundschaft und trägt damit essenziell zur europäischen Einigung bei.
(ll/17.01.2023)