Vor 60 Jahren: Dreitägige Fragestunde zur Spiegel-Affäre
Vor 60 Jahren, am 7. November 1962: Bundestagspräsident D. Dr. Eugen Gerstenmaier (1906-1986, CDU/CSU) eröffnet die Fragestunde. Sie beginnt mit den dringlichen Anfragen. Dabei handelt es sich um Fragen von offensichtlich dringendem öffentlichen Interesse, die der Parlamentspräsident ausnahmsweise für die Fragestunde zulassen kann, wenn sie spätestens am vorhergehenden Tag bis 12 Uhr mittags eingereicht worden sind.
Die SPD-Opposition hatte zwei Tage zuvor, am 5. November 1962, 18 solcher Fragen (4/708) eingereicht, die sich allesamt um die Begleitumstände der Spiegel-Affäre drehen – besonders um die nächtliche Besetzung der Redaktionsräume und die Verhaftung des Spiegel-Redakteurs Conrad Ahlers und seiner Frau in Málaga durch die spanische Polizei. Die Sozialdemokraten hoffen so von der Bundesregierung Antworten zur Aufklärung des Geschehens zu bekommen.
Verhaftungen und Durchsuchungen beim Spiegel
Knapp zwei Wochen vorher, am 26. Oktober 1962, hatte die Polizei auf Betreiben der Bundesanwaltschaft in einer nächtlichen Aktion die Redaktionsräume des Nachrichtenmagazins „Der Spiegel“ in Hamburg und Bonn durchsucht und versiegelt. Herausgeber Rudolf Augstein (1923-2002), die Chefredakteure Johannes K. Engel (1927-2018), Claus Jacobi (1927-2013) und weitere Redakteure, darunter der stellvertretende Chefredakteur und Militärexperte des Blattes, Conrad Ahlers (1922-1980), an seinem Urlaubsort in Spanien, waren unter dem Verdacht des Landesverrats verhaftet worden.
Anlass der Polizeiaktion war der Spiegel-Artikel „Bedingt abwehrbereit“ über das Nato-Manöver „Fallex 62“ in der Spiegelausgabe Nr. 41 / 09.10.1962. In ihm hatte der Spiegel über atomare Planungen der Bundeswehr berichtet und sich kritisch zum Verteidigungskonzept der Bundeswehr und zur Militärpolitik des amtierenden Bundesverteidigungsministers und CSU-Vorsitzenden Dr. h. c. Franz Josef Strauß (1915-1988) geäußert. Die Bundesanwaltschaft ermittelt wegen des Verdachts auf Weitergabe von Staatsgeheimnissen in 41 Fällen.
Bundesjustizminister nicht informiert
Die öffentliche Empörung über den massiven Eingriff in die Pressefreiheit ist groß und löst eine Welle des Protests gegen die Polizeiaktion aus. Bundesjustizminister Dr. Wolfgang Stammberger (1920-1982, FDP), der erst am 27. Oktober über das Vorgehen der ihm unterstellten Bundesanwaltschaft unterrichtet worden war, will deshalb zurücktreten.
Die Staatssekretäre Volkmar Hopf (1906-1997, Bundesverteidigungsministerium) und Dr. Walter Strauß (1900-1976, Bundesjustizministerium) werden in diesem Zusammenhang beurlaubt beziehungsweise entlassen, eine offizielle Stellungnahme der Bundesregierung erfolgt bis dahin nicht.
18 Dringlichkeitsfragen
Die erhoffte Aufklärung der Begleitumstände im Bundestag verläuft eher zäh. Drei Tage lang müssen sich die zuständigen Minister im Bundestag den Fragen der Opposition stellen. Wegen der immensen Zahl an Zusatzfragen erstreckt sich die Beantwortung der 18 Dringlichkeitsfragen auch auf die Fragestunden am Donnerstag und Freitag.
Allein zur Frage des SPD-Abgeordneten Karl Wittrock (1917-2000) an den Bundesjustizminister: „Wer veranlasste die spanische Polizei, den Spiegel-Redakteur Ahlers in Málaga festzunehmen?“ folgen 32 Zusatzfragen, die von Bundesinnenminister Hermann Höcherl (1912-1989, CDU/CSU), in Vertretung des erkrankten Justizministers Stammberger, und von Bundesverteidigungsminister Strauß beantwortet werden.
Erklärung des Bundeskanzlers
In einer Erklärung am 7. November 1962, außerhalb der Fragestunde, verteidigt Bundeskanzler Dr. Konrad Adenauer (1876-1967, CDU) das Vorgehen der Behörden: „Sehen Sie, meine Herren, da habe ich mich allerdings verpflichtet gefühlt – und ich glaube, ich hatte diese Pflicht –, hier hinzutreten und mich vor alle die Beamten zu stellen, die an diese außerordentlich unangenehme und schwere Aufgabe mit Tatkraft herangegangen sind.“
Adenauer: Ein Abgrund von Landesverrat im Lande
In der von vielen Zwischenrufen aufgeheizten Stimmung sagt Adenauer: „Es ist Landesverrat ausgeübt worden – das ist sehr wahrscheinlich – von einem Manne, der eine Macht, eine journalistische Macht in Händen hatte.“
Begleitet von lebhaften Zurufen fährt er fort: „Nun, meine Damen und Herren, wir haben einen Abgrund von Landesverrat im Lande. (Abgeordneter Seuffert: Wer sagt das?) – Ich sage das. (Laute Rufe von der SPD: Aha! So? – Abgeordneter Seuffert: Ist das ein schwebendes Verfahren oder nicht?) Denn, meine Damen und Herren, wenn von einem Blatt, das in einer Auflage von 500.000 Exemplaren erscheint, systematisch, um Geld zu verdienen, Landesverrat getrieben wird – –“
Höcherl: Das ist etwas außerhalb der Legalität
Durch hartnäckige Zusatzfragen gelingt es der SPD am zweiten Tag der Fragestunde in der 46. Plenarsitzung am 8. November, Bundesinnenminister Höcherl nach mehreren Ausflüchten und dem Hinweis, dass Interpol für die Verhaftung von Ahlers in Spanien nicht zuständig gewesen sei, es habe wohl – wie im Falle des Studienrats Zind – „den kurzgeschlossenen Verkehr zwischen den Kriminalpolizeien gegeben“, das Zugeständnis zu entlocken: „Das ist, ich möchte einmal sagen, etwas außerhalb der Legalität, (Zuruf von der SPD: Aha!) aber wir alle sind der Meinung, – – (Anhaltende Zurufe und Lachen bei der SPD.)“
„Wenn nun die Polizei versucht haben sollte – ich kann das noch nicht verifizieren –, einen Landesverräter vielleicht auch auf diesem kurzgeschlossenen Wege zu bekommen, dann könnte man sagen: Es ist außerhalb der Bestimmungen; (Zurufe von der SPD) aber moralische Vorwürfe möchte ich deswegen niemanden machen. (Beifall bei der CDU/CSU)“
Widersprüchliche Aussagen von Strauß
Auch Bundesverteidigungsminister Strauß muss im Laufe der Fragestunden, entgegen einer Behauptung vom 3. November 1962 in einem Zeitungsinterview mit dem 8-Uhr-Blatt, mit der Sache nichts zu tun gehabt zu haben, am 9. November einräumen, doch an der Festnahme von Ahlers in Spanien beteiligt gewesen zu sein. Nachdem es der Opposition in der Fragestunde am 8. November noch nicht gelungen war, den Bundesverteidigungsminister zu einem Eingeständnis seiner Beteiligung an der Verhaftung Ahlers in Málaga zu bewegen, gelingt dies schließlich in der dritten Fragestunde am 9. November.
Auf die Zusatzfrage des stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden der SPD, Fritz Erler (1913-1967), zur Frage des Abgeordneten Dr. Karl Mommer (1910-1990) an den Bundesminister der Verteidigung: „Hat nach der Weitergabe des Gutachtens vom Bundesverteidigungsministerium an das Bundesjustizministerium beziehungsweise an die Bundesanwaltschaft nun im Sinne der Ausführungen des Herrn Ministers Herr Staatssekretär Hopf, der Herr Verteidigungsminister selbst oder wer sonst mit dem Militärattaché in Madrid, Oster, telefoniert, und durch dieses Telefongespräch den ersten Anstoß zur vorläufigen Festnahme des Ehepaares Ahlers durch die spanischen Behörden unter Einschaltung von Herrn Oster gegeben?“, antwortet der Verteidigungsminister: „Abgesehen davon, dass auch hier der Zusammenhang mit der eigentlich gestellten Frage nicht mehr zu erkennen ist, (Zustimmung bei der CDU/CSU) steckt in dieser Frage eine Feststellung, deren Richtigkeit oder Unrichtigkeit ich nicht überprüfen kann.“
Dann muss er zugeben, doch selbst mit dem Militärattaché Oster wegen der Verhaftung Ahlers gesprochen zu haben: „Da der Militärattaché – ich weiche dem nicht aus, das wäre eine völlig falsche Annahme oder Unterstellung – bei Anruf den Sachverhalt nicht kennen wollte, sondern sagte: ,Ich kenne nur die Stimme des Ministers', bin auch ich mit ihm verbunden worden und habe ihm das wiederholt, was vorlag: (Zurufe von der SPD: Aha.)“ Am Vortag hatte er dazu noch erklärt: „Auf dem Wege der Amtshilfe für die Strafverfolgungsbehörden hat das Verteidigungsministerium den Militärattaché in Madrid gefragt, ob diese Mitteilung zutreffe.“ Dass er selbst mit dem Militärattaché gesprochen hatte, hatte er da noch nicht mitgeteilt.
Verteidigungsminister muss zurücktreten
Später stellt sich heraus, dass Strauß den Militärattaché der deutschen Botschaft in Madrid, Oberst Achim Oster, telefonisch angewiesen hatte, alles zu Ahlers’ Verhaftung Notwendige zu veranlassen. Nicht nur die Opposition fühlt sich belogen. Auch die fünf FDP-Minister (Hans Lenz, Wolfgang Mischnick, Walter Scheel, Dr. Wolfgang Stammberger und Dr. Heinz Starke) im Kabinett des Bundeskanzlers Adenauer fordern den Rücktritt des Bundesverteidigungsministers und treten am 19. November 1962 zurück.
Tags darauf kündigen auch die Minister der CDU/CSU ihre Bereitschaft zum Amtsverzicht an. Unter dem Druck der Opposition, der FDP und auch der Öffentlichkeit tritt Bundesverteidigungsminister Strauß am 30. November 1962 zurück. Um die Koalition mit der FDP fortsetzen zu können, kündigt Bundekanzler Adenauer am 7. Dezember 1962 seinen Rücktritt für den Herbst 1963 an.
Das Ende der Spiegelaffäre
Am 13. Mai 1965 lehnt der Bundesgerichtshof die Eröffnung des Hauptverfahrens gegen Augstein und Ahlers wegen fehlender Beweisgründe ab. Der Vorwurf des Landesverrats wird zurückgewiesen. Weitere Verdächtige sind bereits vorher außer Verfolgung gesetzt worden.
Auch die politisch Verantwortlichen gehen straffrei aus der Affäre. Am 3. Juni 1965 stellt die Bonner Staatsanwaltschaft das Ermittlungsverfahren gegen Strauß, Hopf und Oster wegen Freiheitsberaubung und Amtsanmaßung infolge Fehlens subjektiver Straftatbestände ein. Zwar hätten sie sich der Amtsanmaßung und der Freiheitsberaubung schuldig gemacht. Eine grundsätzliche Beschneidung der Pressefreiheit sei jedoch nicht beabsichtigt gewesen. Sie hätten vielmehr unter dem Eindruck akuter Kriegsgefahr während der Kuba-Krise gehandelt, also unter den Bedingungen eines anscheinend bevorstehenden Staatsnotstands. Die mit der Aktion gegen den „Spiegel“ befassten Instanzen seien deshalb aus verständlicher, wenngleich im Endeffekt übertriebener Sorge um die Sicherheit der Bundesrepublik angesichts äußerer Bedrohungen motiviert gewesen, weshalb von einer Bestrafung abgesehen wurde, so die Begründung.
Die Verfassungsbeschwerde des Spiegels wird am 5. August 1966 zurückgewiesen. Nur vier der acht Bundesverfassungsrichter vertreten die Ansicht, dass die Haft- und Durchsuchungsbefehle gegen das Grundgesetz verstoßen hätten. (klz/02.11.2022)