Technikfolgenabschätzung

Internationale EPTA-Kon­ferenz zu gesellschaft­lichen Disruptionen

Ob großflächige und langanhaltende Ausfälle der kritischen Infrastruktur, die zunehmende Autonomie technischer Systeme mit potenziell weitreichenden Konsequenzen oder der Kollaps natürlicher Lebensräume: Mit zahlreichen Beispielen aus der internationalen Forschungs- und Beratungspraxis gingen Expertinnen und Experten in Vorträgen und Podiumsdiskussionen während der international besetzten Konferenz der europäischen Vereinigung von Institutionen der parlamentarischen Technikfolgenabschätzung (EPTA) am Montag, 17. Oktober 2022, der Frage nach, welchen Beitrag die Technikfolgenabschätzung für den politischen und gesellschaftlichen Umgang mit Disruptionen leistet.

Mit Disruptionen sind einschneidende, sich schnell vollziehende Veränderungen mit häufig zerstörerischem Charakter gemeint – etwa der 11. September 2001, ein mögliches Abreißen des Golfstroms oder die Covid-19-Pandemie. Die internationale Konferenz wurde gemeinsam vom Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung sowie vom Büro für Technikfolgen-Abschätzung beim Deutschen Bundestag ausgerichtet, die in diesem Jahr die EPTA-Präsidentschaft innehaben. Der inhaltliche Schwerpunkt lag auf den Themen: 

  • Kritische Infrastrukturen (etwa die Strom- und Wasserversorgung, das Internet), deren Ausfall um jeden Preis verhindert werden muss
  • Autonome Waffensysteme als Beispiel für softwaregestützte Systeme, die Entscheidungen mit potenziell weitreichen Konsequenzen treffen
  • Wälder als Musterbeispiel für einen Naturraum, der durch Klimawandel und andere menschliche Aktivitäten stark unter Druck steht und „umzukippen“ droht

Wissenschaft, Politik und Zivilgesellschaft

Die „permanent eskalierende Klimakrise“ gehöre für ihn zu den disruptivsten Phänomenen, denen man sich vorrangig zuwenden muss, erklärte Kai Gehring (Bündnis 90/Die Grünen), Vorsitzender des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung. Wie die Parlamentarier die wissenschaftliche Beratung aufgreifen und in politisches Handeln überführen, wollten die Wissenschaftler am Ende der Tagung von den Abgeordneten erfahren. 

Kai Gehrind sitzt vor einem Mikrofon und lächelt in die Kamera.

Die jährliche EPTA-Konferenz wird 2022 vom Deutschen Bundestag unter Leitung des Vorsitzenden des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung, Kai Gehring (im Bild), ausgerichtet. (© DBT/photothek/Kira Hofmann)

Eine Fläche in der Größenordnung von 6.800 Fußballfeldern sei im September pro Tag im brasilianischen Amazonasregenwald abgeholzt worden und auch um den europäischen und deutschen Wald sei es nicht gut bestellt, so Gehring. Dadurch werde die Klimakrise global massiv befeuert. Um die Probleme wie das Wald- oder Massenartensterben oder den CO2-Ausstoß in den Griff zu bekommen, müsse man zu einer demokratischen Konsensbildung kommen und neben wissenschaftlicher Erkenntnis und politischer Gestaltung auch auf die Kraft der Zivilgesellschaft und die Bevölkerung vor Ort setzen. 

„Nur gemeinsam schaffen wir das“

„Weil die Herausforderungen so groß sind, dass ein System allein, wie Wissenschaft oder Politik das nicht schaffen kann. Nur gemeinsam mit unseren Bevölkerungen, die oft ein größeres Problembewusstsein haben als wir, schaffen wir das“, sagte der Abgeordnete. Ein gemeinschaftliches Unterhaken auf Basis wissenschaftlicher Erkenntnis werde helfen, Disruptionen abzupuffern. 

Welche der während der Tagung erörterten Disruptionen ihrer Meinung nach die größte politische Aufmerksamkeit erfahren müsse, erklärten die sechs Berichterstatter der Berichterstattergruppe Technikfolgenabschätzung beim Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung in einer gemeinsamen Sitzung mit den Wissenschaftlern der Konferenz am Montagnachmittag.

SPD: Müssen potenzielle Konflikte identifizieren 

„Der Schutz der kritischen Infrastruktur ist eine unserer Prioritäten“, sagte Dr. Holger Becker (SPD). Aber diese müsse man in den richtigen Kontext einordnen. „Es ist ein Teil der Transformation der Gesellschaft, die sich hinbewegt in eine nachhaltige, CO2-neutrale Zukunft.“

Auch im Bereich der Technologiefolgenabschätzung gelte es abzuwägen: Wie können wir die strategischen Ziele aufeinander abstimmen? Von wo an können uns bestimmte Technologien helfen, die Klimaziele zu erreichen? Es brauche „ein Frühwarnsystem, das uns zeigt wo es widersprechende Ziele gibt“. Je früher man potenzielle Konflikte identifiziere, desto mehr lasse sich auch der politische Prozess beschleunigen. Die Technologiefolgenabschätzung könne die Werkzeuge dazu liefern, um „die strategischen Optionen zu analysieren“.

CDU/CSU sieht Handlungsbedarf bei der Politik

Nach Meinung von Lars Rohwer (CDU/CSU) erfordern Disruptionen bei der Energieversorgung die höchste Aufmerksamkeit. Disruptionen seien schon da. In der Technologiefolgenabschätzung befasse man sich immer mit der Resilienz der Gesellschaft vor der nächsten möglichen Disruption. „Wir erleben gerade so etwas in Deutschland.“

Seit August seien die Energiepreise durch die Decke gegangen. Das werde zu gesellschaftlichen und politischen Verwerfungen führen. „Wenn wir die nicht gestalten, dann gewinnen nur die Ränder und nicht die demokratische Mitte.“ Er „glaube, dass man mit demokratischen Prozessen resilient sein kann. Aber die Politik muss handeln.“

Grüne: Geeint globale Herausforderungen bewältigen

Der Klimawandel ist die größte Herausforderung für die Menschheit, fand auch Laura Kraft (Bündnis 90/Die Grünen). „Der Planet braucht uns nicht, aber wir brauchen ihn.“ Als Menschheit geeint gelte es die globalen Herausforderungen zu bewältigen und die verschiedenen Krisen zusammenzudenken, von der Klimafrage über die Energieversorgung bis zur Pandemie.

Entsprechend der Wortbedeutung von Krise (Entscheidung) müsse man sich entscheiden, „wo wir als Menschheit hin wollen und gemeinsam gegen den Klimawandel vorgehen.“ Dabei gelte es auf die Wissenschaft zu hören und auf Katastrophen wie einen großflächigen und länger andauernden Stromausfall vorbereitet zu sein. Technologiefolgenabschätzung sei ein gutes Instrument für die Politik. Auch wenn letztere manchmal nicht wisse, wie sie die Empfehlungen der Wissenschaft in bestimmte Szenarien übersetzen solle.

FDP: Risiken und Möglichkeiten aufzeigen

Wenn die kritische Infrastruktur in die Knie geht, es dunkel und kalt wird, „werden wir wieder zu Tieren, wenn Maschinen die Führung übernehmen, verlieren wir unsere Identität und wenn das Ökosystem zusammenbricht, haben wir keinen Raum und keine Nahrung mehr“: Alle drei Herausforderungen, mit der sich die Technologiefolge-Konferenz beschäftigt habe, seien wichtig und hingen zusammen, sagte Prof. Dr. Stephan Seiter (FDP).

Funktioniere allerdings die kritische Infrastruktur nicht, werden wir nicht in der Lage sein, die anderen Probleme in Angriff zu nehmen. Kurzfristig müsse also alle Aufmerksamkeit diesen Infrastrukturen gelten. „Mit der Technikfolgenabschätzung können wir Risiken und Möglichkeiten aufzeigen. Die Auswirkungen, Wirkweisen, die Kraft und die Grenzen der Wissenschaft müssen der Gesellschaft vor Augen geführt werden.“ Es gelte, wissenschaftliche Informationen in die Parlamente einzubringen und sie der Öffentlichkeit nahe zu bringen.

AfD: Altbekannte Herausforderungen

Viele der Probleme, die jetzt als vermeintlich neue Disruptionen in die öffentliche Aufmerksamkeit rückten, seien altbekannte Herausforderungen, meinte Prof. Dr. Michael Kaufmann (AfD). Mögliche „Ausfälle von Strom-, Erdgas- oder Eisenbahnsystemen sind das Problem, um das wir uns als Erstes kümmern müssen“. Am wichtigsten sei der Schutz der kritischen Infrastruktur.

Die Technikfolgenabschätzung sei „das Werkzeug, um Dinge in einer frühen Phase zu erkennen. Politik und Administration müssen dann die richtigen Entscheidungen treffen“. Die Frage des Ressourceneinsatzes stelle dabei die wohl schwierigste Frage dar, könne doch jeder Euro nur einmal ausgegeben werden. Man müsse sich fragen: Möchte man ein Problem verhindern oder möchte man dessen Folgen abmildern?

Linke: Veränderte Wasserkreisläufe berücksichtigen

Ralph Lenkert (Die Linke) plädierte dafür, das „Problem der veränderten Wasserkreisläufe“ in den Blick zu nehmen. Binnen fünf Jahren hätten wir hierzulande nun „vier Dürrejahre“ erlebt. Während sich in einigen Regionen die Wasserknappheit, durch zu geringe Niederschläge und sinkende Pegel zu einer Bedrohung entwickele, komme es andernorts zu Flutkatastrophen, durch Unwetter mit Starkregen, sei es im Ahrtal oder in Pakistan.

Die Technikfolgenabschätzung müsse dabei helfen, die sich verschiebenden Gegebenheiten der natürlichen Wasserkreisläufe bei Investitionen und Infrastrukturvorhaben mit zu berücksichtigen. Was passiere, wenn der Rhein wegen Niedrigwasser als Transportstrecke ausfalle, dutzende Atomkraftwerke in Frankreich ohne Kühlung dastünden oder man eine gigantische Fabrik in einer Region baue, der das Wasser ausgehe?

Das EPTA-Netzwerk

Dem EPTA-Netzwerk (European Parliamentary Technology Asessment Network) gehören derzeit 25 Mitglieder an. Ihre Aufgabe besteht darin, ihre jeweiligen Parlamente zu Themen aktueller Technologien und Innovationen zu beraten.

Anspruch der Technikfolgenabschätzung ist es, Orientierungswissen bereitzustellen, indem sie Chancen und Risiken frühzeitig erkennt und benennt. Zudem kann sie etwa Verletzbarkeiten und Instabilitäten identifizieren, Szenarien entwickeln und mögliche Konsequenzen verschiedener Handlungsoptionen analysieren. (ll/18.10.2022)

Zeit: Montag, 17. Oktober 2022, 9.45 Uhr bis 17 Uhr
Ort: Berlin, Marie-Elisabeth-Lüders-Haus, Sitzungssaal 3.101

Marginalspalte