Zeit:
Montag, 28. November 2022,
10 Uhr
Ort: Berlin, Paul-Löbe-Haus, Sitzungssaal E 600
Gute Noten für das geplante Chancen-Aufenthaltsrecht und klare Ablehnung des Vorhabens haben sich bei einer Sachverständigen-Anhörung am Montag, 28. November 2022, im Ausschuss für Inneres und Heimat unter der Leitung von Prof. Lars Castellucci (SPD) gegenüber gestanden. Bewertet wurde der von der Bundesregierung dazu eingebrachte Gesetzentwurf (20/3717). Danach sollen unter anderem Ausländer, deren Aufenthalt in Deutschland am 1. Januar 2022 seit fünf Jahren geduldet wurde, ein einjähriges Chancen-Aufenthaltsrecht erwerben können. Zudem ging es um zwei Gesetzentwürfe und einen Antrag der Fraktion Die Linke zum Familiennachzug und zum Bleiberecht. (20/1850, 20/1851).
Forderung nach Ende von Duldungen
Kerstin Becker, Der Paritätische Gesamtverband, begrüßte die Einführung eines Chancen-Aufenthaltsrecht als Brücke in eine der bereits bestehenden Bleiberechtsregelungen. Es bedürfe jedoch noch wesentlicher Korrekturen, damit nicht das Ziel verfehlt werde, Kettenduldungen zu beenden sowie die Integrationen der betroffenen Menschen zu fördern. So müsse der Stichtag 1. Januar 2022 gestrichen werden, damit auch in Zukunft Menschen, die sich länger als fünf Jahre in Deutschland aufhalten, die Regelungen in Anspruch nehmen können.
Anne Courbois vom Deutschen Industrie- und Handelskammertag (DIHK) wies auf das Risiko für Unternehmen hin, geduldete Ausländer einzustellen. Es bestehe das Risiko, dass sie von einem Tag auf den anderen abgeschoben würden. Auch weil hier das Gesetzesvorhaben Verbesserungen verspreche, sei es grundsätzlich zu begrüßen. Mit Blick auf die Praxis gebe es Verbesserungsbedarf.
Kritik an Ungleichbehandlung und „Flickenteppich“-Lösung
Prof. Andreas Dietz, Verwaltungsgericht Augsburg, Vorsitzender Richter der 6. Kammer, machte migrationsrechtliche Einwände gegen den Gesetzentwurf geltend, da er die von einer Chancen-Aufenthaltserlaubnis Begünstigten gegenüber vergleichbaren Gruppen von Ausländern zu Unrecht deutlich bevorzuge. Die Begünstigten beschrieb er als Gruppe unerlaubt im Bundesgebiet Aufhältiger, die die Kernvoraussetzungen jedes Aufenthaltstitels - Identitätsklärung, Passbesitz - nicht erfüllten. Sie würden bevorzugt gegenüber jenen Ausländern, die ordnungsgemäß einreisen und sich erlaubt in Deutschland aufhalten.
Sophia Eckert, terre des hommes Deutschland, befand bei grundsätzlicher Zustimmung zum Gesetzentwurf, dass insbesondere beim Chancen-Aufenthaltsrecht Anpassungen notwendig seien. So sei ein Flickenteppich in der bundesdeutschen Erteilungspraxis zu befürchten, da Ausländerbehörden weiterhin teils große Entscheidungsspielräume hätten.
Pro und Contra Stichtagsregelung
Kristian Garthus-Niegel vom Sächsischen Flüchtlingsrat empfahl, dem Antrag der Fraktion Die Linke stattzugeben. Danach sollten Kettenduldungen wirksam beendet werden durch die Einführung einer stichtagsunabhängigen Regelung, durch Erleichterungen beim Übergang in ein dauerhaftes Bleiberecht und durch Abmilderung der im aktuellen Gesetz bestehenden sowie im Regierungsentwurf vorgesehenen Ausschlussgründe der Bleiberechtsregelungen.
Holger Kolb, Sachverständigenrat für Integration und Migration, strich heraus, dass zum einen der Tatsache Rechnung getragen werde, dass eine Vielzahl von Flüchtlingen, die im Rahmen der Flüchtlingskrise 2015/2016 eingereist waren, längerfristig in Deutschland aufhältig bleiben werde und für sie ein aufenthaltsrechtlicher Umgang gefunden werden müsse. Durch das vorgesehene Ablaufdatum am 1. Februar 2026 werde deutlich, dass keine dauerhafte Relativierung des Ergebnisses eines Asylverfahrens erfolgen werde.
Kommunen sehen Vorhaben sehr skeptisch
Klaus Ritgen meinte, der Deutsche Landkreistag lehne die Einführung eines Chancen-Aufenthaltsrechts in der vorgeschlagenen Ausgestaltung ab. Es gebe keinen Bedarf für weitere Bleiberechtsregelungen. Darüber hinaus würden Ausländer ermutigt, illegal und ohne Aussicht auf ein Aufenthaltsrecht nach Deutschland einzureisen oder ihrer Ausreisepflicht nicht nachzukommen. Die vorgeschlagenen Regelungen würden auch nicht zu einer Entlastung der Ausländerbehörden führen. Vielmehr sei das Gegenteil der Fall.
Für den Deutschen Städtetag erklärte Daniela Schneckenburger, die kommunalen Ausländerbehörden müssten dringend in den Blick genommen werden. Sie arbeiteten seit Jahren im Krisenmodus und seien zusätzlich durch die Aufnahme von Kriegsflüchtlingen aus der Ukraine in einer Art und Weise belastet wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Sie regte an, das Gesetz nicht unmittelbar in Kraft treten zu lassen, damit sich die Behörden darauf vorbereiten können.
Umgang mit ausreisepflichtigen Personen
Axel Ströhlein, Präsident des Bayerischen Landesamtes für Asyl und Rückführungen, strich heraus, das angepeilte Chancen-Aufenthaltsrecht beziehe sich auf einen Personenkreis, bei dem das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge und die Gerichte zu dem Ergebnis gekommen seien, dass diesen weder Asyl noch Flüchtlingsschutz, subsidiärer Schutz oder Abschiebungsschutz zustehe. Mit der geplanten Neuregelung werde der Sinn und Zweck des Asylrechts ausgehöhlt. Es könne das Signal gesendet werden, dass sich eine fehlende Mitwirkung bei der Identitätsregelung lohne und zu einem Aufenthaltstitel führe.
Prof. Daniel Thym von der Universität Konstanz lenkte den Blick darauf, dass beim Umgang mit ausreisepflichtigen Personen der Gesetzgeber mit einem Zielkonflikt zwischen Integrationsförderung und Migrationssteuerung konfrontiert sei. Dieser Zielkonflikt werde durch eine vergangenheitsbezogene Stichtagsregelung nach dem Modell des Chancen-Aufenthaltsrechts besser austariert als durch dauerhafte Legalisierungsmöglichkeiten.
Sachverständige betonen Bedeutung einer Regelung
Barbara Weiser, Caritasverband für die Diözese Osnabrück, begrüßte die vorgeschlagene Schaffung eines Chancen-Aufenthaltsrecht, die Erleichterungen beim Übergang von einer Duldung in eine Aufenthaltserlaubnis sowie die Eröffnung des Zugangs zu Integrations- und Berufssprachkursen für alle Asylsuchenden mit einer Aufenthaltsgestattung. Um die Praxis der Kettenduldungen in einem relevanten Umfang zu beenden und den Betroffenen eine realistische Chance auf einen dauerhaften Aufenthalt zu geben, seien verschiedene Änderungen nötig. Zentral sei dabei die Schaffung einer stichtagsfreien Regelung.
Philipp Wittmann, Richter am Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg, meinte, der Gesetzgeber gehe mit dem Thema der Kettenduldung und der Beschleunigung von Asylverfahren zwei Großthemen an. Er äußerte Bedenken, ob durch die Änderung von Rahmenbedingungen deutliche Verbesserungen zu erreichen seien.
Gesetzentwurf der Bundesregierung
Mit der Einführung eines sogenannten „Chancen-Aufenthaltsrechts“ will die Bundesregierung langjährig geduldeten Ausländern ermöglichen, die Voraussetzungen für ein Bleiberecht in Deutschland zu erfüllen. Dazu zählen insbesondere die Sicherung des Lebensunterhalts, Kenntnisse der deutschen Sprache und der Identitätsnachweis, wie aus ihrem Gesetzentwurf (20/3717) hervorgeht. Danach sollen zugleich die geltenden Bleiberechtregelungen weiterentwickelt sowie die Abschiebung von Straftätern und Gefährdern konsequenter durchgesetzt werden. Weitere Neuregelungen betreffen unter anderem Erleichterungen bei der Fachkräfteeinwanderung und den Zugang von Asylbewerbern zu Integrationskursen.
Das einjährige Chancen-Aufenthaltsrecht sollen Menschen erhalten, die am 1. Januar 2022 seit fünf Jahren geduldet, gestattet oder mit einer Aufenthaltserlaubnis in Deutschland gelebt haben. Profitieren sollen davon nur Ausländer, die sich zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung bekennen. Straftäter sollen vom Chancen-Aufenthaltsrecht grundsätzlich ausgeschlossen bleiben, ebenso Personen, die ihre Abschiebung aufgrund von wiederholten, vorsätzlichen und eigenen Falschangaben oder aktiver Identitätstäuschung verhindern. Sofern die Voraussetzungen für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach der einjährigen Aufenthaltsdauer nicht erfüllt sind, sollen die Betroffenen in den Status der Duldung zurückfallen. Ende vergangenen Jahres haben sich der Vorlage zufolge in Deutschland 242.029 geduldete Ausländer aufgehalten, davon 136.605 seit mehr als fünf Jahren.
Bleiberecht für gut integrierte junge Menschen
Ferner sieht das Gesetz laut Bundesinnenministerium vor, bestehende Bleiberechtsregelungen so anzupassen, dass mehr Menschen davon profitieren können. Danach sollen gut integrierte Jugendliche und junge Volljährige nach drei Jahren Aufenthalt in Deutschland sowie bis zum 27. Lebensjahr die Möglichkeit für ein Bleiberecht bekommen. Besondere Integrationsleistungen von Geduldeten sollen gewürdigt werden, indem ihnen künftig nach sechs Jahren – oder schon nach vier Jahren bei Zusammenleben mit minderjährigen Kindern – ein Bleiberecht eröffnet wird. Die Voraufenthaltszeiten würden damit um jeweils zwei Jahre reduziert.
Zudem sollen bestimmte Regelungen aus dem Fachkräfteeinwanderungsgesetz entfristet werden, um den Standort Deutschland für Fachkräfte aus Nicht-EU-Staaten attraktiver zu machen. Der Familiennachzug zu solchen Fachkräften soll laut Gesetzentwurf dadurch erleichtert werden, dass nachziehende Angehörige keinen Sprachnachweis erbringen müssen. Der Zugang zu Integrationskursen und Berufssprachkursen soll künftig allen Asylbewerbern im Rahmen verfügbarer Plätze offenstehen.
Rückführung von Straftätern und Gefährdern
Konsequenter als bisher soll die Rückführung vor allem von Straftätern und Gefährdern durchgesetzt werden. Vorgesehen ist, für diese Personen die Ausweisung und die Anordnung von Abschiebungshaft zu erleichtern.
Eine weitere Neuregelung zielt auf Flüchtlinge mit einer abgeschlossenen ärztlichen Ausbildung ab, denen aufgrund nicht verfügbarer Unterlagen oder Nachweise eine Approbation oder Erlaubnis zur vorübergehenden Ausübung des ärztlichen Berufs nicht zeitnah erteilt werden kann. Daher soll zur kurzfristigen Lösung sowie zur Sicherstellung einer ausreichenden und qualifizierten Versorgung in Aufnahmeeinrichtungen befristet eine Ermächtigung zur vorübergehenden Ausübung von Heilkunde eingeführt werden, die auf die Versorgung anderer Schutzsuchender in der entsprechenden Einrichtung beschränkt ist.
Erster Gesetzentwurf der Linken
Ausländische Ehepartner sollen nach dem Willen der Fraktion Die Linke künftig nicht mehr vor einem Familiennachzug nach Deutschland bereits im Ausland deutsche Sprachkenntnisse nachweisen müssen (20/1850). Danach soll als Voraussetzung für den Ehegattennachzug eine Erklärung reichen, „den erforderlichen Sprachnachweis unverzüglich nach der Ankunft erbringen zu wollen“. „Unverzüglich“ soll in diesem Zusammenhang bedeuten, dass nach der Einreise ohne schuldhaftes Verzögern der - im Regelfall ohnehin erforderliche - Besuch eines Integrationskurses eingeleitet werden muss, wie die Fraktion in der Begründung ausführt. Verzögerungen des Beginns eines Integrationskurses, die nicht im Verschulden der Betroffenen liegen, seien unbeachtlich.
Der Nachweis einfacher deutscher Sprachkenntnisse bereits im Ausland wird der Vorlage zufolge seit 2007 von ausländischen Ehepartnern grundsätzlich als Voraussetzung für den Familiennachzug nach Deutschland verlangt. Dabei seien auch schriftliche Deutschkenntnisse erforderlich. Mehr als 10.000 Ehegatten bestünden jedes Jahr die geforderten Sprachprüfungen im Ausland nicht und könnten deshalb nicht mit ihren in Deutschland lebenden Partnerinnen und Partnern zusammenkommen. Das sei für viele Betroffene eine unzumutbare Belastung und auch unverhältnismäßig, denn die deutsche Sprache könne sehr viel leichter in Deutschland erworben werden. Vor diesem Hintergrund haben sich SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP auf eine Änderung der Rechtslage verständigt, wie es in der Vorlage weiter heißt: „Zum Ehepartner oder zur Ehepartnerin nachziehende Personen können den erforderlichen Sprachnachweis auch erst unverzüglich nach ihrer Ankunft erbringen“, zitiert die Fraktion darin den Koalitionsvertrag der drei Parteien. Mit dem Gesetzentwurf solle dieses Vorhaben schnellstmöglich umgesetzt werden.
Zweiter Gesetzentwurf der Linken
Die Fraktion Die Linke dringt in ihrem zweiten Gesetzentwurf auf rasche Erleichterungen beim Bleiberecht für Ausländer (20/1851). Danach sollen gut integrierte Jugendliche und Heranwachsende bereits nach einem drei- statt bisher vierjährigem Aufenthalt in Deutschland und bis zum 27. statt 21. Lebensjahr ein Bleiberecht erhalten können. Auch sieht der Gesetzentwurf vor, dass ein Bleiberecht „bei nachhaltiger Integration“ bereits nach sechs statt bisher acht Jahren Aufenthalt in Deutschland bei Einzelpersonen und nach vier statt bislang sechs Jahren bei Familien möglich ist. Ferner soll der Vorlage zufolge einer geduldeten Person eine einjährige „Aufenthaltserlaubnis auf Probe“ erteilt werden, wenn sie am 1. Januar 2022 seit fünf Jahren in Deutschland lebte, sich zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung der Bundesrepublik bekennt und nicht wegen einer im Bundesgebiet begangenen vorsätzlichen Straftat verurteilt wurde.
Dabei sollen nach dem Willen der Fraktion Geldstrafen von insgesamt bis zu 50 Tagessätzen oder bis zu 90 Tagessätzen wegen Straftaten, die nach dem Aufenthalts- oder dem Asylgesetz nur von ausländischen Staatsangehörigen begangen werden können, grundsätzlich außer Betracht bleiben. Auch sollen dabei laut Gesetzentwurf „bei einer Gesamtwürdigung des Charakters und der Schwere der Straftat beziehungsweise des bisherigen Lebensverlaufs beziehungsweise der absehbaren Lebensperspektiven in Deutschland im Einzelfall weitere Ausnahmen gemacht werden können, wenn dies aus humanitären Gründen geboten ist“. Die einjährigen Dauer dieser „Aufenthaltserlaubnis auf Probe“ soll der Vorlage zufolge genutzt werden, „um die übrigen Voraussetzungen für ein Bleiberecht erfüllen zu können, insbesondere in Bezug auf Nachweise zur Lebensunterhaltssicherung und zur Identität“.
Antrag der Linken
„Keine Abschiebungsoffensive - Für ein wirksames Bleiberecht“ lautet der Titel eines Antrags der Fraktion Die Linke (20/3973). Darin fordert die Fraktion die Bundesregierung auf, ihren Gesetzentwurf für ein Chancen-Aufenthaltsrecht in geänderter Fassung erneut einzubringen, „um sowohl humanitären Anliegen als auch dem Vorhaben, Kettenduldungen wirksam zu beenden, gerecht werden zu können“. Insbesondere sollte es nach dem Willen der Fraktion eine stichtagsunabhängige Regelung und Erleichterungen beim Übergang in ein dauerhaftes Bleiberecht geben. „Ausschlussgründe müssen deutlich abgemildert werden; die im Koalitionsvertrag vorgesehene Abschaffung der ,Duldung light' ist ebenso zu regeln wie die Möglichkeit einer eidesstattlichen Versicherung bei der Klärung der Identität“, heißt es in der Vorlage weiter. Bis zum Inkrafttreten einer Neuregelung müsse sich das Bundesinnenministerium für einen bundesweiten Abschiebestopp für Personen einsetzen, die absehbar unter die Neuregelung fallen werden.
Zugleich wird die Bundesregierung in der Vorlage aufgefordert, einen Gesetzentwurf vorzulegen, „mit dem die seit 2015 vorgenommenen Verschärfungen im Abschiebungsverfahren beziehungsweise bei der Abschiebungshaft zurückgenommen werden“. Des Weiteren dringen die Abgeordneten die Bundesregierung, einen Gesetzentwurf vorzulegen, „mit dem alle Formen von Abschiebungshaft ersatzlos gestrichen werden“. (fla/ste/sto/28.11.2022)