Koalition und Opposition streiten über geplantes Bürgergeld-Gesetz
Einen heftigen Schlagabtausch über das von der Bundesregierung geplante Bürgergeld-Gesetz lieferten sich die Koalitionsfraktionen und die Opposition am Donnerstag, 13. Oktober 2022. So heftig, dass sogar Bundestagspräsidentin Bärbel Bas alle Beteiligten zwischenzeitig daran erinnern musste, sich nicht gegenseitig Hass und Hetze vorzuwerfen. Gegenstand der Debatte war der Gesetzentwurf der Regierung zur Einführung des Bürgergeldes (Bürgergeld-Gesetz, 20/3873), mit dem sie laut eigener Zielsetzung „Hartz IV hinter sich lassen“ möchte und den die Abgeordneten im Anschluss an die Debatte zur weiteren Beratung an den federführenden Ausschuss für Arbeit und Soziales überwiesen.
Geplant sind unter anderem grundlegende Reformen in der Zusammenarbeit zwischen Arbeitssuchenden und Jobcenter-Mitarbeitern (Kooperationsplan statt Eingliederungsvereinbarung), die Einführung einer zweijährigen Karenzzeit, in der das Vermögen und die Angemessenheit der Wohnung nicht überprüft werden und die Stärkung der Qualifizierung und Weiterbildung unter anderem durch finanzielle Anreize. Ferner soll der Soziale Arbeitsmarkt verstetigt und Sanktionen deutlich abgemildert werden. Außerdem werden die monatlichen Regelleistungen um einen Inflationsausgleich deutlich angehoben.
Ebenfalls an den Sozialausschuss überwiesen wurden ein Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Sozialen Arbeitsmarkt ausbauen – 150.000 Langzeitarbeitslose in Erwerbsarbeit bringen“ (20/3901) und ein Antrag der AfD, der die „Einführung von Bürgerarbeit“ (20/3943) vorsieht.
Minister Heil: Schutzversprechen des Sozialstaates
Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) betonte, dadurch werde das „Schutzversprechen des Sozialstaates“ erneuert. Menschen, die unerwartet in Not geraten, müsse unbürokratisch geholfen werden, das habe man während der Pandemie-Jahre erlebt.
Heil verwies darauf, dass zwei Drittel der Langzeitarbeitslosen keine abgeschlossene Berufsausbildung hätten und das jetzige System sie nur hin und wieder in eine Maßnahme vermitteln konnte. „Ausbildung statt Aushilfsjob – das ist der bessere Weg“, bekräftigte der Minister. „Wir wollen, dass sich Arbeit lohnt, deshalb haben wir den Mindestlohn erhöht und spielen nicht Bedürftige gegeneinander aus“, sagte er an Union und AfD gerichtet.
Union kritisiert „eklatante Gerechtigkeitslücke“
Die Union dagegen übte heftige Kritik. Stephan Stracke (CDU/CSU) verwies auf die hohe Zahl offener Stellen bei gleichzeitig vielen Arbeitssuchenden. Für das Problem des Fach- und Arbeitskräftemangels fände das Bürgergeld aber keine passende Antwort. Es sei eine „eklatante Gerechtigkeitslücke“, in den ersten zwei Jahren des Bürgergeldbezugs Vermögen und Wohnung nicht zu prüfen.
Die Koalition setze mit ihren abgemilderten Sanktionen zudem keine Anreize, sich schnell wieder eine Arbeit zu suchen. „Statt auf Motivation setzen Sie auf unverbindliche Kooperation.“ Außerdem warf er ihr vor, zwar viel von der Integration Langzeitarbeitsloser in den ersten Arbeitsmarkt zu reden, aber gleichzeitig die Mittel dafür im neuen Haushaltsplan zu streichen.
Grüne: Neue Perspektiven für Langzeitarbeitslose
Beate Müller-Gemmeke (Bündnis 90/Die Grünen) zeigte sich froh, „dass wir Hartz IV endlich überwinden“. Vor allem Langzeitarbeitslose bräuchten endlich neue Chancen und Perspektiven.
„Dieser Perspektivwechsel ist uns besonders wichtig.“ Denn auf die unterschiedlichen individuellen Gründe für Langzeitarbeitslosigkeit habe Hartz IV nur eine Antwort gekannt, nämlich „Aktivierung“. Bei verschiedenen Vermittlungshemmnissen helfe dies jedoch nicht, sagte sie.
AfD nennt Bürgergeld „aufgeweichtes Hartz IV“
Gerrit Huy (AfD) sagte: „Wir glauben nicht, dass das Bürgergeld funktionieren wird, es ist nur ein aufgeweichtes Hartz IV.“ Das Problem, dass acht Prozent der erwerbsfähigen Menschen Grundsicherungsleistungen bekämen, löse auch das Bürgergeld nicht.
Sie verwies auf verschiedene Nachbarländer mit deutlich schärferen Sozialleistungs-Auflagen, in denen diese Quote deutlich geringer sei. „Wir wollen nicht, dass Arbeitende die Dummen sind, deshalb haben wir einen Antrag für die Bürgerarbeit vorgelegt“, sagte sie.
FDP wirft Union Stimmungsmache vor
Jens Teutrine (FDP) entgegnete der Union: Die bisherige Grundsicherung, an der die Union so gerne festhalten wolle, habe ebenfalls keine Lösung für das Fachkräfteproblem gehabt. Unter anderem, weil „absurde Hinzuverdienstregeln“ jeden Anreiz auf Arbeitsaufnahme erstickt hätten. Er warf der Union vor, einerseits einen Inflationsausgleich bei den Regelsätzen zu unterstützen, dann wieder gegen höhere Regelsätze zu wettern.
Außerdem stimme es schlicht nicht, dass es künftig keine Sanktionen mehr gebe. „Hören Sie auf, auf Grundlage falscher Fakten Stimmung zu machen! Das ist brandgefährlich“, empörte sich Teutrine.
Linke sieht positive und negative Aspekte
Jessica Tatti (Die Linke) sagte in Richtung Koalition: „Eines muss man Ihnen lassen: Das ist das erste Gesetz, das Hartz IV nicht schlechter macht, sondern besser.“ Die Karenzzeit für Vermögen oder die erleichterten Hinzuverdienstregeln gehörten zu den positiven Aspekten.
Aber dennoch überwogen für Tatti die negativen. So kritisierte sie, dass es eben keine echte Erhöhung der Regelsätze gebe. Auch die Ideen für einen Sozialen Arbeitsmarkt und Weiterbildung seien „Verarsche auf dem Rücken der Langzeitarbeitslosen“, wenn gleichzeitig die Mittel dafür gestrichen würden.
SPD: Nachhaltige Vermittlung in gute Arbeit
Dagmar Schmidt (SPD) verteidigte dagegen den Entwurf. Es sei gut, dass sich Menschen nun in der ersten Zeit ihres Bürgergeld-Bezuges nicht auch noch um ihre Wohnung sorgen müssten.
Das neue Bürgergeld unterstütze die Menschen nicht mehr „von der Stange“, sondern individuell. Es gehe nicht mehr um schnelle Vermittlung in irgendeine Arbeit, sondern um nachhaltige Vermittlung in gute Arbeit, sagte sie.
Gesetzentwurf der Bundesregierung
Menschen im Leistungsbezug sollen sich stärker auf Qualifizierung, Weiterbildung und Arbeitsuche konzentrieren können, schreibt die Bundesregierung. Ziel sei eine dauerhafte Arbeitsmarktintegration. Außerdem solle die Berechnung der Regelbedarfe neu gestaltet werden: Die Bedarfe sollen künftig nicht mehr rückwirkend, sondern vorausschauend an die Teuerungsraten angepasst werden.
Damit die Leistungsberechtigten sich auf die Arbeitsuche zu konzentrieren können, soll laut Bundesregierung in den ersten zwei Jahre des Bürgergeldbezugs eine sogenannte Karenzzeit gelten: Die Kosten für Unterkunft und Heizung würden in tatsächlicher Höhe anerkannt und übernommen. Vermögen werde nicht berücksichtigt, „sofern es nicht erheblich ist“. Nach Ablauf der Karenzzeit werde eine entbürokratisierte Vermögensprüfung durchgeführt. Es sollen zudem höhere Freibeträge gelten.
Kooperationsplan statt Eingliederungsvereinbarung
Vorgesehen ist auch, die bisherige Eingliederungsvereinbarung durch einen Kooperationsplan abzulösen, der von den Leistungsberechtigten und den Integrationsfachkräften gemeinsam erarbeitet wird. Dieser Plan diene dann als „roter Faden“ im Eingliederungsprozess und sei ein Kernelement des Bürgergeld-Gesetzes, betont die Bundesregierung. Mit Abschluss des Kooperationsplans gelte eine Vertrauenszeit. In diesem Zeitraum werde ganz besonders auf Vertrauen und eine Zusammenarbeit auf Augenhöhe gesetzt. Lediglich wiederholte Meldeversäumnisse würden sanktioniert - mit maximal zehn Prozent Leistungsminderung.
Abgeschafft werden solle der „Vermittlungsvorrang in Arbeit“. Stattdessen sollen Geringqualifizierte auf dem Weg zu einer abgeschlossenen Berufsausbildung unterstützt werden, um ihnen den Zugang zum Fachkräftearbeitsmarkt zu öffnen. Eine umfassende Betreuung solle Leistungsberechtigten helfen, „die aufgrund vielfältiger individueller Probleme besondere Schwierigkeiten haben, Arbeit aufzunehmen“.
Antrag der Linken
Die Linksfraktion fordert einen starken Ausbau des Sozialen Arbeitsmarktes, um 150.000 Langzeitarbeitslosen eine Perspektive zu bieten. Die Abgeordneten werfen der Bundesregierung vor, sich mit der Einführung des Bürgergeldes „stillschweigend vom Ziel der Großen Koalition, 150.000 langzeitarbeitslosen Menschen mittels einer geförderten Arbeit mehr gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen“, zu verabschieden. Denn eine einfache Verstetigung des Programms „Soziale Teilhabe am Arbeitsmarkt“, wie es das Bürgergeld-Gesetz vorsehe, reiche nicht aus, kritisieren sie.
Die Linke fordert deshalb von der Bundesregierung unter anderem, das Programm „Soziale Teilhabe am Arbeitsmarkt“ weiterzuentwickeln, um 150.000 Menschen bis 2025 darin zu integrieren. Zudem soll ein mehrjähriger Modellversuch eingerichtet werden, um zu untersuchen, welche individuellen Teilhabeeffekte und regionalwirtschaftlichen Folgen es hat, wenn die individuelle Förderhöchstdauer von fünf Jahren für bestimmte Zielgruppen gestrichen werden kann, etwa bei einer Prognoseentscheidung, dass nach Ende der Förderung die geförderte Person erneut arbeitslos würde. Auch soll soziale Teilhabe als eigenständiges Ziel ins SGB II (Zweites Sozialgesetzbuch) aufgenommen sowie als eigenständige Steuerungskennzahl und für die Zielsteuerung der Jobcenter genutzt werden.
Der Lohnkostenzuschuss gemäß Paragraf 16i SGB II soll so erweitert werden, dass bei Arbeitgebern, die landesrechtlich zur Zahlung eines höheren Entgelts als nach dem Mindestlohngesetz verpflichtet sind, der höhere Landesmindestlohn für die Berechnung der Zuschusshöhe berücksichtigt wird. Außerdem sollen die Lohnkostenzuschüsse von tarifgebundenen Unternehmen so bemessen werden, dass alle Lohnbestandteile (inklusive tariflich geregelter Einmalzahlungen) übernommen werden.
Antrag der AfD
Die AfD-Fraktion fordert eine aktivierende Grundsicherung in Form einer sogenannten Bürgerarbeit. Darin heißt es: „Wer sich nicht selbst helfen kann, dem stellt der Staat Unterstützungsleistungen zur Verfügung, um wieder auf die Beine zu kommen. Ein langfristiger Transferbezug muss jedoch in einer Welt begrenzter Ressourcen die Ausnahme bleiben.“ Die Bundesregierung wird aufgefordert, einen Gesetzentwurf vorzulegen, mit dem die Leistungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende nach dem SGB II (Bürgergeld) für volljährige erwerbsfähige Leistungsbezieher nach einer Karenzzeit von sechs Monaten grundsätzlich an die Teilnahme an der „Bürgerarbeit“ mit 15 Wochenstunden geknüpft werden, soweit nicht bereits eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung mit mindestens 20 Wochenstunden besteht.
Außerdem soll eine „Sachleistungs-Debitkarte“ für volljährige erwerbsfähige Grundsicherungsempfänger eingeführt werden, mit der als Alternative zu der Gewährung von Barmitteln die Leistungsgewährung in bestimmten Fällen - wie etwa der Verweigerung der „Bürgerarbeit“ – unbar über die Debitkarte erfolgt. Die Erreichbarkeit für volljährige erwerbsfähige Leistungsbezieher soll „unmissverständlich so geregelt werden, dass die Leistungsbezieher sich grundsätzlich im zeit- und ortsnahen Bereich im Inland aufzuhalten haben“, fordert die AfD-Fraktion. (che/hau/13.10.2022)