Zeit:
Montag, 28. November 2022,
14
bis 19 Uhr
Ort: Berlin, Marie-Elisabeth-Lüders-Haus, Sitzungssaal 3.101
Sachverständige und Abgeordnete haben am Montag, 28. November 2022, lang und intensiv in einer öffentlichen Anhörung des Rechtsausschusses über eine mögliche Neuregelung des assistierten Suizides und der Sterbebegleitung debattiert. Grundlage der Anhörung waren drei fraktionsübergreifende Gesetzentwürfe von Abgeordnetengruppen in Reaktion auf ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 2020. Das Gericht hatte das 2015 beschlossene Verbot der geschäftsmäßigen Sterbehilfe in Paragraf 217 des Strafgesetzbuches für verfassungswidrig und nichtig erklärt.
Ein zweiter Teil der Anhörung befasste sich mit einem Antrag zur Suizidprävention.
Zum ersten Teil der Anhörung waren elf Sachverständige geladen, zum zweiten Teil fünf. Im ersten Teil der Anhörungen äußerten sich Vertreterinnen aus Medizin, Rechtswissenschaft, Medizinethik sowie der Hospizarbeit. Thematisch ging es vor allem um die allgemeine rechtliche Bewertung der Entwürfe vor dem Hintergrund des Verfassungsgerichtsurteils, die Einordnung der unterschiedlichen Beratungskonzepte sowie die Bedeutung von Suizidprävention.
Die reale Zugangsmöglichkeit zum assistierten Suizid
Von den fünf geladenen Sachverständigen mit juristischem Hintergrund sprachen sich vier gegen den Gesetzentwurf der Gruppe von 85 Abgeordneten um Prof. Dr. Lars Castellucci (SPD) (20/904) aus. Rechtsanwalt Prof. Dr. Christoph Knauer, Vorsitzender des Ausschusses Strafprozessrecht der Bundesrechtsanwaltskammer, prognostizierte, dass der Castellucci-Entwurf vor dem Bundesverfassungsgericht keinen Bestand haben würde. Die vorgeschlagene Regelung enge die reale Zugangsmöglichkeit zum assistierten Suizid, den das Gericht angemahnt hatte, zu sehr ein, argumentierte Knauer. Das vorgesehene Beratungs- und Untersuchungsverfahren sei eine „Überregulierung“ und konterkariere die Vorgaben des Gerichts, führt der Jurist weiter aus.
Ähnliche Argumente brachte die Rechtsanwältin Dr. Gina Greeve für den Deutschen Anwaltsverein gegen den Castellucci-Entwurf in Stellung. Der Entwurf sei nicht vereinbar mit den verfassungsgerichtlichen Vorgaben, sagte Greeve. Durch die strafrechtliche Regelung würde ein freiverantwortlich gefasster Sterbewunsch faktisch ins Leere laufen und unterbunden, kritisierte Greeve.
„Keine verfassungsrechtliche Schutzpflicht“
Der Rechtswissenschaftler Prof. Dr. Karsten Gaede (Bucerius Law School, Hamburg) betonte, es gebe keine „verfassungsrechtliche Schutzpflicht“, die erneut eine allumfassende Strafrechtsnorm erzwinge. Die im Castellucci-Entwurf vorgesehenen Regelungen drohten vielmehr alle Beteiligten zu überfordern.
Wie auch andere Sachverständige betonte der Rechtswissenschaftler Prof. Dr. Helmut Frister (Heinrich Heine Universität Düsseldorf) die Notwendigkeit einer Regulierung in dem Bereich. Das gelte etwa für den Schutz vor nicht freiverantwortlichen Suizidentscheidungen in Form einer Verpflichtung auf ein Verfahren zur Feststellung der Freiverantwortlichkeit. Dieses Verfahren müsse notwendigerweise schlank ausgestaltet werden. In seiner schriftlichen Stellungnahme kritisierte Frister am Castellucci-Entwurf „teilweise überzogenen Verfahrensanforderungen“. Ob sich der Entwurf damit im Bereich der Verfassungswidrigkeit bewegt, wollte Frister in der Anhörung nicht beurteilen.
Kritik auch an anderen Entwürfen
Der Rechtswissenschaftler Prof. Dr. Arndt Sinn (Universität Osnabrück) argumentierte hingegen, dass der Entwurf den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts entspreche und einen legitimen Zweck, nämlich die Autonomie der suizidwilligen Person und das Rechtsgut Leben zu schützen, verfolge. Er regte allerdings eine regelungstechnische Änderung an. Sinn führte aus, dass es aktuelle viel Unklarheit in dem Bereich gebe. Der Castellucci-Entwurf würde nicht über die geltende Rechtslage hinausgehen, aber zu mehr Transparenz über Gebote und Verbote führen. Dem Vorwurf, es gehe im Kern nicht um das Strafrecht, wies Sinn zurück. Am Ende stelle sich jeder Hilfswillige die Frage nach Strafbarkeit, sagte Sinn.
Der Rechtswissenschaftler übte zudem Kritik an den beiden anderen Entwürfen – sie blieben hinter dem Schutzkonzept des Castellucci-Entwurfes zurück. Dem Entwurf der Gruppe von 68 Abgeordneten um Katrin Helling-Plahr (FDP) sehe nur ein Recht auf Beratung vor (20/2332). Damit werde der Schutz der autonomen Entscheidung nicht abgedeckt, es werde nicht sichergestellt, dass ein freiverantwortlicher Wille vorliegt, meinte Sinn. Mit Blick auf den Entwurf der 45 Abgeordneten (20/2293) um Renate Künast (Bündnis 90/Die Grünen) kritisierte der Rechtswissenschaftler die darin in einer bestimmten Konstellation vorgesehene Behördenentscheidung. Das sei eher abschreckend, als dass damit der Autonomie zur Geltung verholfen werde, meinte der Jurist.
Die Einbindung von Behörden
Der Rechtswissenschaftler Gaede argumentierte hingegen, dass es jenseits behandlungsbedürftiger Erkrankungen keinen Grund gebe, eine alleinige Entscheidung der Ärzteschaft über die Verschreibung tödlich wirkender Medikamente vorzusehen und kritisierte damit die Entwürfe der Gruppen Castellucci und Helling-Plahr. Das im Künast-Entwurf vorgesehen Kriterium einer medizinischen Notlage, die den Einbezug von Ärztinnen und Ärzten vorsieht und in andere Fällen einen Einbezug von Behörden, sei hingegen praktikabel, sagte Gaede. Ähnlich argumentierte die Vertreterin des Deutschen Anwaltsvereins. Die Differenzierung sei – auch hinsichtlich des Urteils des Verfassungsgerichts – zulässig und erforderlich, meinte Greeve.
Kritischer sah die Unterscheidung zwischen schwerkranken Suizidwilligen und nicht-schwerkranken der Rechtsanwalt Knauer. Dies sei nicht vom Urteil des Bundesverfassungsgerichts gedeckt. Wie auch der Rechtswissenschaftler Frister sah Knauer die Einbindung von Behörden eher kritisch.
Schutzkonzepte für Menschen in suizidalen Krisen
Die beiden Sachverständigen mit medizinischem Hintergrund sprachen sich insbesondere für eine stärkere Suizidprävention aus. Dr. Ute Lewitzka (Universitätsklinikum Carl Gustav Carus Dresden) sagte, es brauche „vor einer Regelung der Suizidassistenz dringend eine Regelung der Suizidprävention im Sinne einer gesetzlichen Regelung.“ In ihrer Stellungnahme stellte sie sich hinter die im Castellucci-Entwurf vorgesehene mindestens zweimalige Beratung von Sterbewilligen durch Fachärzte für Psychiatrie und Psychotherapie.
Prof. Dr. Barbara Schneider (LVR-Klinik Köln) argumentierte aus der Perspektive der Suizidologie. Sie führte aus, dass Menschen in suizidalen Krisen in ihrer Wahrnehmung und Entscheidungsfindung eingeschränkt seien. Das bedeute aber nicht, dass ihre Freiverantwortlichkeit eingeschränkt sei. Darum bedürfe es eines Schutzkonzeptes für Menschen in suizidalen Krisen. Die bislang vorgestellten Konzepte für die Beratung sehe sie kritisch, führte Schneider aus. Menschen, die einen Suizid in Erwägung ziehen, bräuchten keine kurzen Gespräche, sondern langfristige Angebote und einfühlsame, vertrauensvolle, psychosoziale und gegebenenfalls therapeutische Begleitung, sagte die Chefärztin der Abteilung für Abhängigkeitserkrankungen.
„Die ideale Sterbehilfe bedeutet Lebensqualität“
Prof. Dr. Winfried Hardinghaus, Vorsitzender des Deutschen Hospiz- und Palliativ-Verbands, und Kerstin Kurzke, Leiterin der Hospiz- und Trauerarbeit des Malteser Hilfsdiensts in Berlin, sprachen sich vor allem dafür aus, dass Träger des Gesundheits- und Sozialwesen nicht dazu gezwungen werden dürften, Suizidhilfe in ihren Einrichtungen durchzuführen beziehungsweise zu dulden. Beide berichteten zudem aus ihrer Berufspraxis und forderten eine deutliche Stärkung der Palliativ- und Hospizarbeit sowie der Suizidprävention.
Aus medizinethischer Sicht beschrieb Prof. Dr. Bettina Schöne-Seifert (Universität Münster) den grundsätzlichen Konflikt in der Debatte. Sie sprach sich ferner für eine Beratungspflicht aus und betonte die Notwendigkeit, Ärztinnen und Ärzte in den Prozess einzubeziehen. Der Sachverständige Maximilian Schulz schilderte seine Sicht auf die Sterbehilfe, zu der er auch öffentlich im „Spiegel“ Stellung bezogen hatte. Er sprach sich für einen möglichst einfachen und ungehinderten Zugang aus und unterstütze den Entwurf der Gruppe Helling-Plahr. „Die ideale Sterbehilfe bedeutet für mich Lebensqualität! Sie schenkt mir Zeit, die ich nicht darauf verwenden muss, die Art und den Zeitpunkt eines würdigen Todes entweder strafrechtlich abzustimmen oder von meiner medizinischen Notlage abhängig machen zu müssen“, sagte Schulz.
„Das Recht auf selbstbestimmtes Sterben“
Mit ihren Gesetzentwürfen reagieren die Abgeordneten auf ein Urteil des Bundesverfassungsgerichtes vom 26. Februar 2020. Die Karlsruher Richterinnen und Richter hatten seinerzeit das am 6. November 2015 vom Bundestag beschlossene und am 10. Dezember desselben Jahres in Kraft getretene Verbot der geschäftsmäßigen Sterbehilfe für verfassungswidrig erklärt. Die in Paragraf 217 Strafgesetzbuch normierte Regelung hatte sich im Bundestag gegen drei konkurrierende Entwürfe durchgesetzt. Danach konnte sich strafbar machen, wer geschäftsmäßig die Selbsttötung eines anderen fördert. Auf ein kommerzielles Interesse kam es dabei nicht an, als geschäftsmäßig galt ein auf Wiederholung angelegtes Handeln. Die Abgeordneten hatten dabei unter anderem das Wirken von Sterbehilfe-Organisationen im Blick.
Dem Verbot der geschäftsmäßigen Sterbehilfe hielt das Verfassungsgericht entgegen, dass die Verfassung ein „Recht auf selbstbestimmtes Sterben“ umfasse und dafür auch Hilfe Dritte in Anspruch zu nehmen. Die Schutzpflicht des Staates für die Autonomie Suizidwilliger sowie für das Leben könne grundsätzlich eine strafrechtliche Regelung des Sachverhaltes rechtfertigen. Allerdings habe die vom Bundestag beschlossene Regelung die Möglichkeiten eines assistierten Suizids so sehr eingeschränkt, dass dem Einzelnen faktisch kein Raum zur Wahrnehmung seiner verfassungsrechtlichen geschützten Freiheit verbleibe, stellten die Richterinnen und Richter fest. Vor diesem Hintergrund schlagen alle drei Gesetzentwürfe einen Weg vor, wie Sterbewillige Hilfe zur Selbsttötung in Anspruch nehmen können. Die Entwürfe eint dabei zudem, dass sie auch den Zugang zu tödlich wirkenden Medikamenten regeln. Zudem sind in allen Entwürfen Beratungspflichten, wenn auch in stark divergierendem Umfang, vorgesehen, bevor ein tödliches Medikament verschrieben werden darf.
Gruppe Castellucci: Grundsätzliches Verbot mit Ausnahmen
Der wesentliche Unterschied zwischen den Entwürfen ist, wie sie sehr sie das postulierte Recht auf selbstbestimmtes Sterben beziehungsweise die Schutzpflicht für die Autonomie und das Leben betonen. Daraus folgt auch ein unterschiedlicher Bezug zum Strafrecht. Der „Entwurf eines Gesetzes zur Strafbarkeit der geschäftsmäßigen Hilfe zur Selbsttötung und zur Sicherstellung der Freiverantwortlichkeit der Entscheidung zur Selbsttötung“ (20/904) der Gruppe von 85 Abgeordneten aus Reihen aller Fraktionen mit Ausnahme der AfD um den Abgeordneten Prof. Dr. Lars Castellucci (SPD) bezieht sich auf die vom Verfassungsgericht beschriebene Möglichkeit einer strafrechtlichen Regelung und sieht ein grundsätzliches Verbot der geschäftsmäßigen Sterbehilfe vor.
Verstöße sollen mit einer Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe geahndet werden können. Nicht rechtswidrig ist die geschäftsmäßige Sterbehilfe danach, wenn bestimmte Voraussetzungen hinsichtlich Beratungspflichten und Wartezeiten erfüllt sind. Konkret sollen Sterbewillige im Regelfall mindestens zwei Untersuchungen durch Fachärztinnen beziehungsweise Fachärzte für Psychiatrie oder Psychotherapie sowie mindestens eine weitere Beratung absolvieren. Zudem ist ein Verbot für die Werbung für die Hilfe zur Selbsttötung vorgesehen, das sich an das abgeschaffte Werbeverbot für Schwangerschaftsabbrüche in Paragraf 219a Strafgesetzbuch anlehnt.
Gruppe Helling-Plahr: Jeder hat das Recht, Hilfe beim Suizid zu leisten
Die Entwürfe der Gruppe um 68 Abgeordnete (20/2332) aus den Reihen von SPD, Grünen, FDP und Linken um die Abgeordnete Katrin Helling-Plahr (FDP) sowie der Gruppe von 45 Abgeordneten aus den Reihen von SPD und Grünen (20/2293) um die Abgeordnete Renate Künast (Bündnis 90/Die Grünen) eint hingegen, dass ihre Regelungsvorschläge vor allem darauf abzielen, Sterbewilligen Zugang zu tödlich wirkenden Medikamenten zu verschaffen und sich dabei unterstützen zu lassen.
Die Gruppe Helling-Plahr will mit ihrem Entwurf die Suizidhilfe in einem eigenen „Gesetz zur Wahrung und Durchsetzung des Selbstbestimmungsrechts am Lebensende (Suizidhilfegesetz)“ regeln. Danach sollen sich Sterbewillige durch einen Arzt beziehungsweise Ärztin nach Aufklärung ein tödlich wirkendes Medikament verschreiben lassen dürfen. Voraussetzung dafür ist unter anderem eine Beratung durch eine staatliche anerkannte Beratungsstelle, deren Ausgestaltung ebenfalls in dem Entwurf geregelt wird. Festgeschrieben werden soll auch, dass Dritte ein Recht haben, Menschen, die ihr Leben beenden wollen, Hilfe zu leisten und sie bis zum Eintritt des Todes zu begleiten. Zudem soll niemand aufgrund seiner oder ihrer Berufszugehörigkeit untersagt werden dürfen, diese Hilfe beziehungsweise Begleitung zu leisten. Wie die Abgeordneten ausführen, sollen damit gegenläufige Regelungen in den berufsständischen Ordnungen der Ärzteschaft abgelehnt werden.
Gruppe Künast: Zulassung für Sterbehilfe-Organisationen
Der Entwurf der Gruppe Künast wiederum sieht als Kernstück ein „Gesetz zum Schutz des Rechts auf selbstbestimmtes Sterben“ vor. In diesem wird verfahrenstechnisch zwischen Sterbewilligen in einer medizinischen Notlage und jenen, die sich nicht in einer medizinischen Notlage befinden, unterschieden. Im ersteren Fall sollen ebenfalls Ärztinnen oder Ärzte für die Verschreibung als auch für die Beratung zuständig sein. In das Verfahren sollen im Regelfall zwei Ärztinnen beziehungsweise Ärzte involviert werden. Im letzteren Fall soll der Sterbewillige seinen Sterbewunsch glaubhaft darlegen und einen Antrag bei einer vom jeweiligen Land zu bestimmenden Stelle stellen.
Weitere Voraussetzung ist unter anderem eine zweimalige Beratung in einer unabhängigen, staatlich zugelassenen Beratungsstelle. Der Entwurf sieht zudem Regelung für das Wirken von Hilfsanbietern vor, etwa zur Abgabe der tödlich wirkenden Medikamente an diese Hilfsanbieter. Für Hilfsanbieter ist eine Zulassung erforderlich. Der Entwurf sieht ferner strafrechtliche Regelungen vor. Danach soll mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren bestraft werden, wer unrichtige oder unvollständige Angaben macht, um für andere oder zum Missbrauch für Straftaten eine Bescheinigung für die Abgabe des Betäubungsmittels zu erhalten. Als Ordnungswidrigkeit soll unter anderem die „grob anstößige“ Werbung geahndet werden können.
Antrag zur Suizidprävention
In dem fraktionsübergreifenden Gruppenantrag setzen sich zahlreiche Abgeordnete für eine Stärkung der Suizidprävention ein. In Deutschland nähmen sich jedes Jahr mehr als 9.000 Menschen das Leben, die Zahl der Suizidversuche liege geschätzt zehn Mal so hoch, heißt es in dem Antrag (20/1121). Die Abgeordneten fordern eine Enttabuisierung und Entstigmatisierung von Suizidgedanken durch mehr Information und Aufklärung.
Durch verbesserte Lebensbedingungen müsse der Suizidalität vorgebeugt werden. Genannt werden die Armutsbekämpfung und Konzepte gegen Vereinsamung. Menschen mit Suizidgedanken bräuchten leicht erreichbare Angebote zur Beratung, Behandlung und Unterstützung am Lebensende. Zudem sollte der Zugang zu Suizidmitteln und -orten reduziert werden. Die Abgeordneten schlagen unter anderem einen bundesweiten Suizidpräventionsdienst vor, der Menschen mit Suizidgedanken und Angehörigen rund um die Uhr online sofortigen Kontakt mit geschultem Personal ermöglicht.
Antrag stößt auf Zustimmung
Der fraktionsübergreifende Gruppenantrag stieß bei Sachverständigen auf Zustimmung. Das wurde während des zweiten Teils der öffentlichen Anhörung deutlich. Zuvor hatten die Expertinnen und Experten mehrere Gesetzentwürfe zur Neuregelung der Suizidhilfe beziehungsweise der Sterbebegleitung beraten.
Suizidprävention sei enorm wichtig, sagte Prof. Dr. Helmut Frister vom Lehrstuhl für Strafrecht und Strafprozessrecht an der Heinrich Heine Universität Düsseldorf und Mitglied des Deutschen Ethikrates. Frister nannte es richtig, wenn in dem Antrag davon die Rede sei, dass die Akzeptanz des Rechts auf Suizid Grundlage der Suizidprävention sei. Das bedeute aber auch, dass Suizidprävention „nicht mehr eine Prävention um jeden Preis ist, sondern die Funktion hat, Entscheidungsspielräume wieder zu eröffnen und eine selbstbestimmte Entscheidung zu ermöglichen“. Wenn also nach Beratung die Entscheidung gegen das eigene Leben gefällt wird, sei das „keine Niederlage für den Berater“. Eine selbstbestimmte Entscheidung können schließlich in beide Richtungen ausfallen. Frister sprach sich dafür aus, die durch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts nötig gewordene Neuregelung der Suizidassistenz und die Suizidprävention einheitlich zu behandeln und einer gesetzlichen Regelung zuzuführen.
Das Spektrum der Suizidprävention
Prof. Dr. Andreas Lob-Hüdepohl von der Katholische Hochschule für Sozialwesen Berlin sagte, Suizidprävention umfasse ein breites Spektrum an vorsorgenden und vorbeugenden Interventionen und Handlungsfeldern. Sie diene nicht der Verhinderung von Suiziden sondern der Vorbeugung und Verhinderung von Lebenslagen, in denen sich Menschen genötigt sehen, ihrem Leben ein Ende zu setzen. Suizidprävention müsse sehr niedrigschwellig sein, aufklären und die gesamte Bevölkerung in den Blick nehmen, betonte Lob-Hüdepohl, der ebenfalls Mitglied des Deutschen Ethikrates ist. Der Antrag greife wesentliche Aspekte der genuin ethisch gebotenen Suizidprävention auf, befand er. Lob-Hüdepohl sagte weiter: Es brauche eine Normalisierung, die zu Enttabuisierung und zu Entstigmatisierung führe. Sie müsse aber abgegrenzt werden von einer Normalisierung, „die auf eine schleichende Gewöhnung hinausläuft“.
Auch Heiner Melching, Geschäftsführer der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin, bewertete den Antrag positiv. Als Paliativmediziner sei er geübt im Umgang mit Sterbenden und mit Sterbewünschen, sagte Melching. „Die Hospiz- und Palliativversorgung leistet nach unserem Verständnis Prävention“, so der Geschäftsführer der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin. Anders als Professor Frister sprach er sich für eine getrennte Betrachtung dieses „wunderbaren Entwurfes“ aus. Dies tue er schon aus pragmatischen Gründen, damit im Falle einer Verfassungsklage gegen ein Sterbehilfegesetz die Regelung zur Suizidprävention nicht mit runterfällt.
„Nicht auf Ehrenamt und Spenden reduzieren“
Prof. Dr. Barbara Schneider, Chefärztin der Abteilung Abhängigkeitserkrankungen an der LVR-Klinik Köln, begrüßte den Antrag und forderte zugleich, die Arbeit der in der Suizidprävention Tätigen nicht nur ideell zu würdigen, sondern auch finanziell abzusichern. „Dies ist derzeit leider nicht der Fall“, sagte sie. Es sei nicht vermittelbar, wenn es auf der einen Seite ein staatlich finanziertes Beratungsnetz für den Zugang zum attestierten Suizid geben soll – Beratungsstellen und Angebote, die den Menschen in Krisen das Leben und ihre Selbstbestimmung ermöglichen wollten, aber große Schwierigkeiten hätten, ihr Angebot aufrechtzuerhalten. Suizidprävention koste Geld und sei keine Aufgabe, die auf Ehrenamt und Spendenfinanzierung reduziert werden könne, sagte Schneider.
In Übereinstimmung mit ihren Vorrednern betonte sie, Suizidprävention sehe nicht vor, den Betroffenen ihre Suizidgedanken auszureden. Die Gespräche seien immer ergebnisoffen. Sie sollten den Betroffenen helfen, selbstbestimmt zu entscheiden.
„Suizidwünsche in Lebenswünsche verwandeln“
Positiv war auch die Bewertung durch Prof. Dr. Bettina Schöne-Seifert vom Institut Ethik, Geschichte und Theorie der Medizin an der Universität Münster. Der Antrag verdiene jede Zustimmung. Er greife Sachen auf, die längst schon überfällig seien – etwa die Finanzierung, die Forschungsausstattung und die Etablierung von Beratungsstellen.
Der Antrag sei aber weitgehend unabhängig von der Suizidbegleitungsfrage, sagte Schöne-Seifert. Es müsse darum gehen, möglichst viele unfreie Suizide zu verhindern. Das könne durch Prävention gelingen und sei auch ein Ziel dieses Antrags. Ein zweites Ziel sei es, freie Suizidwünsche in freie Lebenswünsche zu verwandeln. Gleichzeitig gelte es aber auch, freie Suizidvorhaben nicht zu sabotieren. „Diese Ziele dürfen nicht miteinander verrechnet oder zusammengeführt werden“, sagte sie. Wenn es ein liberaleres Suizidhilfegesetz gebe, was sie ganz stark favorisiere, werde es mehr Suizide geben. „Darauf müssen wir gefasst sein und können das nicht hinterher als Versagen dieses Ansatzes abstempeln“, machte Schöne-Seifert deutlich. (scr/hau/29.11.2022)