Wahlprüfung

Keine Entschei­dung über Thiel-Ein­spruch vor der Sommer­pause

Zeit: Dienstag, 24. Mai 2022, 10 bis 18 Uhr
Ort: Berlin, Marie-Elisabeth-Lüders-Haus, Sitzungssaal 3.101

Mit einer endgültigen Entscheidung, wie es mit dem Einspruch des Bundeswahlleiters gegen die Gültigkeit der Bundestagswahl vom 26. September 2021 weitergeht, ist nicht vor der parlamentarischen Sommerpause zu rechnen. Dies teilte die Vorsitzende des Wahlprüfungsausschusses des Bundestages, Daniela Ludwig (CDU/CSU), am Dienstag, 24. Mai 2022, nach einer knapp sechsstündigen mündlichen Verhandlung zu dem Einspruch mit. Der Ausschuss beschäftigte sich darin eingehend mit Wahlfehlern in Berliner Wahlbezirken, mit etwaigen Auswirkungen auf die Zusammensetzung des Bundestages („Mandatsrelevanz“) und mit der Frage der Verhältnismäßigkeit einer Wiederholungswahl.

„Unzumutbare Wartezeiten vor den Wahllokalen“

Die Berichterstatter des Ausschusses, die Abgeordneten Dr. Johannes Fechner (SPD) und Patrick Schnieder (CDU/CSU), erinnerten eingangs daran, dass am 26. September in Berlin nicht nur der Bundestag, sondern auch das Abgeordnetenhaus gewählt wurde, dass es einen Berliner Volksentscheid gab und dass an diesem Tag auch der Berlin-Marathon stattfand. Beispielsweise hätten unzumutbare Wartezeiten vor den Wahllokalen die Grundsätze der Allgemeinheit und Freiheit der Wahl verletzt.

Die Vorgänge seien auf schwerwiegende organisatorische Mängel zurückzuführen, sagte Johannes Fechner. Schnieder fügte hinzu, zentral sei die Frage, wie sich diese Mängel ausgewirkt haben könnten.

Thiel fordert Wahlwiederholung

Deutliche Worte fand Bundeswahlleiter Dr. Georg Thiel, der darauf hinwies, dass sein Einspruch vom 19. November 2021 der erste in der Geschichte der Bundesrepublik sei. Er bezieht sich auf die Bundestagswahlkreise 75 Berlin-Mitte, 76 Berlin-Pankow, 77 Berlin-Reinickendorf, 79 Berlin-Steglitz-Zehlendorf, 80 Berlin-Charlottenburg-Wilmersdorf und 83 Berlin-Friedrichshain-Kreuzberg – Prenzlauer Berg Ost. Thiel hatte seinen Einspruch damit begründet, dass es in einigen Berliner Wahlkreisen aufgrund von fehlenden oder falschen Stimmzetteln zu einer zeitweisen Schließung von Wahlräumen sowie aus anderen organisatorischen Gründen zu Schlangen vor Wahlräumen gekommen sei.

Thiel plädierte zunächst für eine Wahlwiederholung in allen betroffenen Wahlbezirken, denn: „So etwas darf sich nicht wiederholen.“ Im Verlauf der Verhandlung schränkte er dies insofern ein, als er sich aus Gründen der Verhältnismäßigkeit eine Wiederholungswahl auch nur in einzelnen Wahlbezirken vorstellen könne.

„Systematisches Versagen der Wahlorganisation“

Er habe nicht den Eindruck, sagte Thiel, dass „das in Berlin künftig anders wird“. Es müsse klar sein, dass um 18 Uhr plus x Minuten die Wahllokale geschlossen sein müssten. Offene Wahllokale, während im Fernsehen bereits erste Ergebnisse veröffentlicht würden oder gar die „Elefantenrunde“ der Parteivorsitzenden ausgestrahlt werde, dürfe es nicht geben. Es sei voraussehbar gewesen, dass es zu wenige Wahlhelfer geben würde. Die damalige Landeswahlleiterin habe immer behauptet, alles im Griff zu haben.

Der Bundeswahlleiter habe selbst keine Aufklärungsmöglichkeiten, dafür seien Dokumentationen da. Diese seien jedoch „völlig unzureichend“. „Wo sind die Wahlzettel geblieben?“, fragte Thiel. Es gebe Berichte von Wahlhelfern, dass Wahlurnen auf dem Hof abgestellt worden seien. Er habe gehört, dass ein Wahllokal noch bis 21 Uhr offen gewesen sein soll. Thiel sprach von einem „systematischen Versagen der Wahlorganisation“.

„Sie hätten wählen können, wenn sie gewartet hätten“

Die stellvertretende Berliner Landeswahlleiterin Prof. Dr. Ulrike Rockmann sagte, sie habe gebeten, alles zu dokumentieren, was vorgefallen ist. Sie könne nur mit dem Material arbeiten, das ihr zugestellt worden sei. Auch räumte sie ein, dass sich Wahlvorstände zum Teil nicht bei ihr gemeldet hätten. Für sie stelle es sich so dar, sagte Rockmann, dass Behinderungen aufgetreten seien. Es hätten Personen nicht wählen können, weil keine Stimmzettel da waren.

Es sei aber nicht quantifizierbar, wie viele Personen von der Wahl Abstand genommen hätten. Es sei nicht so gewesen, dass sie nicht von ihrem Wahlrecht hätten Gebrauch machen können: „Sie hätten wählen können, wenn sie gewartet hätten.“ Keinem sei das Wahlrecht genommen worden. Sie sehe nicht, so Rockmann, dass ein empirischer Nachweis möglich wäre, der eine Wiederholungswahl rechtfertigen würde. Patrick Schnieder (CDU/CSU) hielt dem entgegen, die Quantifizierbarkeit sei deshalb nicht gegeben, weil die Dokumentation fehle.

Thiel: Mandatsrelevanz gegeben

Georg Thiel sieht die „Mandatsrelevanz“ der Wahlfehler als gegeben an. Wenn eine Dunkelziffer von Wählern, die wegen der Wartezeiten vor den Wahllokalen oder wegen der Information, ein Wahllokal sei geschlossen, auf die Wahl verzichtet hätten, tatsächlich gewählt hätte, wäre es zu einem anderen Wahlergebnis gekommen, sodass für den Bundeswahlleiter eine „Mandatsrelevanz“ als Voraussetzung für eine Wiederholungswahl gegeben ist.

Die Ausschussvorsitzende machte deutlich, dass aus der Mandatsrelevanz nicht automatisch die Ungültigkeit der Wahl folgt. Vielmehr greife das Gebot des geringstmöglichen Eingriffs in die Ungültigkeit der Wahl. Ein Wahlfehler müsse vorrangig berichtigt werden, statt die Wahl zu wiederholen, und selbst wenn eine Wahlwiederholung unumgänglich sei, dürfe sie nur dort stattfinden, wo sich der Fehler ausgewirkt habe.

Ein Eingriff in die Zusammensetzung des aktuellen Bundestages müsse sich vor dem Interesse am Bestand der gewählten Volksvertretung rechtfertigen. Die demokratische Legitimation, der Vertrauensschutz in die durchgeführte Wahl, müssten gewährleistet werden. Auf der anderen Seite müsse der Bürger sicher sein können, dass er die Möglichkeit zur Wahl hat und alles ordnungsgemäß abläuft.

Rockmann: Einspruch in Gänze zurückweisen

Ulrike Rockmann betonte, dass der Schaden mit dem geringstmöglichen Eingriff behoben werden müsse und wies für den Fall einer Wiederholungswahl auf die Notwendigkeit eines neuen Wählerverzeichnisses hin.

Abschließend blieb sie dabei, dass der Einspruch des Bundeswahlleiters in Gänze zurückgewiesen werden sollte. (vom/24.05.2022)