Schauwerkstatt: Die Quadriga auf der Suche nach ihrem Original
Ein Aufatmen geht durch den Raum: das Pferd steht. Rund vier Meter hoch, anderthalb Tonnen schwer. „So mächtig habe ich es mir gar nicht vorgestellt“, sagt Dr. Andreas Kaernbach, Kurator der Kunstsammlung des Deutschen Bundestages, und betrachtet die imposante Gipsstatue. Eben noch zerlegt in sechs Einzelteile, erhebt sich das Tier nun in seiner vollen Größe.
Was die Mitarbeiter der Gipsformerei Staatliche Museen zu Berlin am Montag, 20. September 2021, im Mauer-Mahnmal des Bundestages zusammensetzten, ist das Modell eines der bekanntesten Wahrzeichen Berlins: der Quadriga. Mit einem Flaschenzug hoben die Gipskunstformer den rund 800 Kilo schweren Torso samt Kopf in die Luft, um ihn anschließend behutsam auf den Beinen abzusetzen. Aus statischer Sicht eine „kleine Sensation“, sagt der Leiter der Gipsformerei, Miguel Helfrich. Schließlich seien die einzelnen Elemente eigentlich gar nicht dafür geschaffen worden, um sie tatsächlich einmal zusammenzusetzen.
Offene Schauwerkstatt im Bundestag
Wie kein anderes Symbol verkörpert das Viergespann auf dem Brandenburger Tor die Deutsche Einheit. Im Bundestag wird diesem geschichtsträchtigen Bildwerk, das 1793 von Johann Gottfried Schadow geschaffen, im Zweiten Weltkrieg fast vollständig zerstört und 1958 als Replik auf das Brandenburger Tor gesetzt wurde, neues Leben eingehaucht: In einer offenen Schauwerkstatt tragen Spezialisten seit rund einem Jahr sämtliche noch vorhandene Gipsabgüsse der Quadriga zusammen.
Die waren 1942 heimlich abgenommen worden, weil man befürchtete, die Statue werde im Krieg zerstört. Als von der Quadriga Jahre später tatsächlich nicht mehr als ein Pferdekopf übrig geblieben war, erschuf die Berliner Bildgießerei Hermann Noack anhand der Gipsformen eine Nachbildung. Zwar gingen die ursprünglichen Formen verloren, die Positivgüsse aber blieben erhalten.
„Ein Stück Kulturgut sichern“
Rund 60 Jahre später dokumentieren und restaurieren Mitarbeiter der Gipsformerei in einem Kooperationsprojekt mit dem Kunstbeirat des Bundestages und dem Landesdenkmalamt Berlin alle noch auffindbaren Fragmente: den Torso der Siegesgöttin Viktoria, Rumpf, Beine und Kopf eines Pferdes, zahlreiche Kleinteile des Wagens. Stück für Stück sollen die Einzelteile zusammengesetzt werden bis eine Art „Mastermodell der Quadriga“ entsteht. „Die Quadriga auf der Suche nach ihrem Original“, so könne man die Arbeit in der Schauwerkstatt beschreiben, sagt Helfrich. Schließlich habe das Viergespann schon einiges erlebt: vom schöpferischen Akt über die tatsächliche Umsetzung bis hin zu diversen Restaurierungen und schließlich der Reproduktion – die ihrerseits restauriert wurde.
In der Schauwerkstatt wolle man dem Zustand von 1942 so nah wie möglich kommen, sagt Kaernbach. Das Modell werde näher am Original sein als die derzeitige Replik. Mit Details, die an der unter Zeitdruck und über mehrere Zwischenstufen entstandenen Nachbildung auf dem Brandenburger Tor nicht existieren. Dabei laute das Ziel dieses Kooperationsprojekts: „Ein Stück Kulturgut zu sichern, das sonst verloren gegangen wäre.“ Ein Kulturgut, das die deutsche und europäische Geschichte der vergangenen 200 Jahre in all ihren Höhen und Tiefen begleitet habe.
Die lange Geschichte der Quadriga
Aus Sicht des Kurators verbindet das Viergespann Deutschland in besonderer Weise mit seinem Nachbarn Frankreich: Anfang des 19. Jahrhunderts hatte Napoleon die Quadriga vom Brandenburger Tor abmontieren und nach Paris transportieren lassen, wo er sie für einen neuen Triumphbogen vorgesehen hatte. Fast acht Jahre lang fehlte die Statue auf dem Brandenburger Tor. „Man könnte das Raubkunst nennen“, sagt Kaernbach. Im Rückblick aber zeige sich doch, wie sehr die Wertschätzung für die Quadriga die beiden Nachbarn verbinde.
Einmalig sei auch ihre Rekonstruktion in den 1950er-Jahren, so Kaernbach: Inmitten des Kalten Krieges einigten sich Ost- und West-Berlin auf ein „deutsch-deutsches Kooperationsprojekt“. Während Ost-Berlin das Brandenburger Tor renovierte, rekonstruierte West-Berlin die Quadriga. Mit der Maueröffnung habe das einstige Sinnbild der jahrzehntelangen Teilung eine weitere symbolische Bedeutung erhalten: die Überwindung der Blöcke.
Ein Werkzeug für die Zukunft
Miguel Helfrich betrachtet die Gipsformen, die in dem zweijährigen Projekt in mühsamer Kleinarbeit zusammengetragen werden, in erster Linie als Referenzmodell. „Wir sehen darin ein Werkzeug und versuchen, dieses Werkzeug wieder funktionsfähig zu machen“, erklärt der Leiter der Gipsformerei. So könnte das Modell etwa bei Restaurierungen der derzeitigen Replik auf dem Brandenburger Tor als Vorbild dienen.
Nachdem die Schauwerkstatt pandemiebedingt einige Monate geschlossen war, können Besucherinnen und Besucher den Spezialisten seit Ende Juni wieder dienstags bis sonntags von 11 bis 17 Uhr bei ihrer Arbeit über die Schulter schauen. Inmitten des Parlamentsviertels nur wenige Hundert Meter vom Brandenburger Tor entfernt, wo im Mauer-Mahnmal das Symbol der Einheit auf das Symbol der Teilung trifft, können sie der Quadriga auf Augenhöhe begegnen. Das erste Pferd steht. (irs/20.09.2021)