Kultur und Geschichte

Schauwerkstatt: Die Quadriga auf der Suche nach ihrem Original

Gipsmodell eines Pferdes mit drei Gipskunstformern, die daran arbeiten.
Das Gipsmodell eines Pferdes steht vor einer Glasfront.
Hochformatige Aufnahme der vorderen Hälfte des Gipsmodells eines Pferdes. Zwei Männer arbeiten an dem Modell.
Zwei Männer arbeiten am Schweif des Gipsmodells eines Pferdes.
Hochformatige Ansicht des Gipsmodells eines Pferdes in einem hohen Raum mit verglaster Wand.
Ein Mann mit gelbem Helm steht neben dem noch unvollständigen Gipsmodell eines Pferdes in einem Raum.

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Die Gipskunstformer Timo Klöppel, Fabian Burg und Sandro Dimichele setzen den Torso samt Kopf des Pferdes auf die Beine. (© DBT/Julia Nowak)

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Sie gehört zu Berlins berühmtesten Wahrzeichen: die Quadriga. Im Mauer-Mahnmal des Bundestages dokumentieren und restaurieren Spezialisten sämtliche noch vorhandene Gipsmodelle des Viergespanns – so wie dieses Pferd, das die Gipskunstformer aus mehreren Einzelteilen zusammengesetzt haben. (© DBT/Julia Nowak)

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Rund vier Meter hoch und anderthalb Tonnen schwer ist das erste zusammengesetzte Pferd. (© DBT/Julia Nowak)

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Timo Klöppel und seine Kollegen von der Gipsformerei Staatliche Museen zu Berlin bringen den Schweif des Pferdes an. (© DBT/Julia Nowak)

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Das erste Pferd steht: Im Mauer-Mahnmal des Bundestages im Marie-Elisabeth-Lüders-Haus werden die Gipsmodelle der Quadriga zu neuem Leben erweckt. (© DBT/Julia Nowak)

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In der Schauwerkstatt im Mauer-Mahnmal des Bundestages können Besucherinnen und Besucher den Profis beim Arbeiten über die Schultern schauen. (© DBT/Julia Nowak)

Ein Aufatmen geht durch den Raum: das Pferd steht. Rund vier Meter hoch, anderthalb Tonnen schwer. „So mächtig habe ich es mir gar nicht vorgestellt“, sagt Dr. Andreas Kaernbach, Kurator der Kunstsammlung des Deutschen Bundestages, und betrachtet die imposante Gipsstatue. Eben noch zerlegt in sechs Einzelteile, erhebt sich das Tier nun in seiner vollen Größe. 

Was die Mitarbeiter der Gipsformerei Staatliche Museen zu Berlin am Montag, 20. September 2021, im Mauer-Mahnmal des Bundestages zusammensetzten, ist das Modell eines der bekanntesten Wahrzeichen Berlins: der Quadriga. Mit einem Flaschenzug hoben die Gipskunstformer den rund 800 Kilo schweren Torso samt Kopf in die Luft, um ihn anschließend behutsam auf den Beinen abzusetzen. Aus statischer Sicht eine „kleine Sensation“, sagt der Leiter der Gipsformerei, Miguel Helfrich. Schließlich seien die einzelnen Elemente eigentlich gar nicht dafür geschaffen worden, um sie tatsächlich einmal zusammenzusetzen.

Offene Schauwerkstatt im Bundestag

Wie kein anderes Symbol verkörpert das Viergespann auf dem Brandenburger Tor die Deutsche Einheit. Im Bundestag wird diesem geschichtsträchtigen Bildwerk, das 1793 von Johann Gottfried Schadow geschaffen, im Zweiten Weltkrieg fast vollständig zerstört und 1958 als Replik auf das Brandenburger Tor gesetzt wurde, neues Leben eingehaucht: In einer offenen Schauwerkstatt tragen Spezialisten seit rund einem Jahr sämtliche noch vorhandene Gipsabgüsse der Quadriga zusammen. 

Die waren 1942 heimlich abgenommen worden, weil man befürchtete, die Statue werde im Krieg zerstört. Als von der Quadriga Jahre später tatsächlich nicht mehr als ein Pferdekopf übrig geblieben war, erschuf die Berliner Bildgießerei Hermann Noack anhand der Gipsformen eine Nachbildung. Zwar gingen die ursprünglichen Formen verloren, die Positivgüsse aber blieben erhalten. 

„Ein Stück Kulturgut sichern“

Rund 60 Jahre später dokumentieren und restaurieren Mitarbeiter der Gipsformerei in einem Kooperationsprojekt mit dem Kunstbeirat des Bundestages und dem Landesdenkmalamt Berlin alle noch auffindbaren Fragmente: den Torso der Siegesgöttin Viktoria, Rumpf, Beine und Kopf eines Pferdes, zahlreiche Kleinteile des Wagens. Stück für Stück sollen die Einzelteile zusammengesetzt werden bis eine Art „Mastermodell der Quadriga“ entsteht. „Die Quadriga auf der Suche nach ihrem Original“, so könne man die Arbeit in der Schauwerkstatt beschreiben, sagt Helfrich. Schließlich habe das Viergespann schon einiges erlebt: vom schöpferischen Akt über die tatsächliche Umsetzung bis hin zu diversen Restaurierungen und schließlich der Reproduktion – die ihrerseits restauriert wurde. 

In der Schauwerkstatt wolle man dem Zustand von 1942 so nah wie möglich kommen, sagt Kaernbach. Das Modell werde näher am Original sein als die derzeitige Replik. Mit Details, die an der unter Zeitdruck und über mehrere Zwischenstufen entstandenen Nachbildung auf dem Brandenburger Tor nicht existieren. Dabei laute das Ziel dieses Kooperationsprojekts: „Ein Stück Kulturgut zu sichern, das sonst verloren gegangen wäre.“ Ein Kulturgut, das die deutsche und europäische Geschichte der vergangenen 200 Jahre in all ihren Höhen und Tiefen begleitet habe. 

Die lange Geschichte der Quadriga

Aus Sicht des Kurators verbindet das Viergespann Deutschland in besonderer Weise mit seinem Nachbarn Frankreich: Anfang des 19. Jahrhunderts hatte Napoleon die Quadriga vom Brandenburger Tor abmontieren und nach Paris transportieren lassen, wo er sie für einen neuen Triumphbogen vorgesehen hatte. Fast acht Jahre lang fehlte die Statue auf dem Brandenburger Tor. „Man könnte das Raubkunst nennen“, sagt Kaernbach. Im Rückblick aber zeige sich doch, wie sehr die Wertschätzung für die Quadriga die beiden Nachbarn verbinde.

Einmalig sei auch ihre Rekonstruktion in den 1950er-Jahren, so Kaernbach: Inmitten des Kalten Krieges einigten sich Ost- und West-Berlin auf ein „deutsch-deutsches Kooperationsprojekt“. Während Ost-Berlin das Brandenburger Tor renovierte, rekonstruierte West-Berlin die Quadriga. Mit der Maueröffnung habe das einstige Sinnbild der jahrzehntelangen Teilung eine weitere symbolische Bedeutung erhalten: die Überwindung der Blöcke. 

Ein Werkzeug für die Zukunft

Miguel Helfrich betrachtet die Gipsformen, die in dem zweijährigen Projekt in mühsamer Kleinarbeit zusammengetragen werden, in erster Linie als Referenzmodell. „Wir sehen darin ein Werkzeug und versuchen, dieses Werkzeug wieder funktionsfähig zu machen“, erklärt der Leiter der Gipsformerei. So könnte das Modell etwa bei Restaurierungen der derzeitigen Replik auf dem Brandenburger Tor als Vorbild dienen.

Nachdem die Schauwerkstatt pandemiebedingt einige Monate geschlossen war, können Besucherinnen und Besucher den Spezialisten seit Ende Juni wieder dienstags bis sonntags von 11 bis 17 Uhr bei ihrer Arbeit über die Schulter schauen. Inmitten des Parlamentsviertels nur wenige Hundert Meter vom Brandenburger Tor entfernt, wo im Mauer-Mahnmal das Symbol der Einheit auf das Symbol der Teilung trifft, können sie der Quadriga auf Augenhöhe begegnen. Das erste Pferd steht. (irs/20.09.2021)