Merkel will Evakuierung in Afghanistan fortsetzen und Flüchtlingen helfen
Deutschland will die Menschen in Afghanistan nach Angaben von Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel (CDU) auch nach Abschluss der Evakuierungsmission der Bundeswehr unterstützen. Das Ende der Luftbrücke in einigen Tagen dürfe nicht das Ende der Bemühungen sein, „afghanische Ortskräfte zu schützen und den Afghanen zu helfen, die durch den Vormarsch der Taliban in noch größere Not gestürzt worden sind“, erklärte sie am Mittwoch, 25. August 2021, in einer Regierungserklärung vor dem Deutschen Bundestag.
Mehrheit stimmt nachträglich für Evakuierungsmission
Im Anschluss an die darauffolgende Debatte stimmten die Abgeordneten dem bereits laufenden Einsatz bewaffneter Streitkräfte zur militärischen Evakuierung aus Afghanistan mit 539 Ja- zu 9 Nein-Stimmen nachträglich zu. 90 Abgeordnete enthielten sich bei der namentlichen Abstimmung über den entsprechend von der Bundesregierung eingebrachten Antrag (19/32022). Dem Mandat zufolge dürfen die Soldatinnen und Soldaten längstens bis zum 30. September 2021 eingesetzt werden, um deutsche Staatsangehörige, Personal der internationalen Gemeinschaft und besonders schutzbedürftige Repräsentantinnen und Repräsentanten der afghanischen Zivilgesellschaft in Sicherheit zu bringen. Die nachträgliche Zustimmung des Parlaments zu der Operation ist durch eine Ausnahmeregelung im Parlamentsbeteiligungsgesetz gedeckt, wonach bei „Gefahr im Verzug“ und Einsätzen „zur Rettung von Menschen aus besonderen Gefahrenlagen“ ausnahmsweise keine vorherige Zustimmung durch das Parlament notwendig ist. Ein zu dem Regierungsantrag von der AfD-Fraktion vorgelegter Entschließungsantrag (19/32090) wurde mit allen übrigen Stimmen des Hauses abgelehnt.
Beraten wurden zudem Anträge der AfD (19/32083), der FDP-Fraktion (19/32079) sowie der Fraktion Die Linke (19/32081, 19/32082). Die Vorlagen, die sich allesamt ebenfalls mit der Lage am Hindukusch und dem Einsatz der Bundeswehr befassten, wurden zur weiteren Beratung in die Ausschüsse überwiesen.
Merkel: Werden auch mit Taliban verhandeln
Merkel betonte in ihrer Erklärung, dass die Bundesregierung für die Erreichung ihrer Ziele auch mit den militant-islamistischen Taliban verhandeln wolle. Denkbar sei zum Beispiel ein ziviler Betrieb des Flughafens in Kabul. Außerdem bekräftigte sie die Zusage der Bundesregierung, neben 100 Millionen Euro Soforthilfe weitere 500 Millionen Euro für die humanitäre Hilfe in Afghanistan und den Nachbarländern zur Verfügung zu stellen. Keine Angaben machte die Kanzlerin dazu, wie lange die Evakuierungsflüge der Bundeswehr konkret andauern werden, nachdem US-Präsident Joe Biden auf dem virtuellen G7-Treffen am 24. August klargestellt hatte, dass die USA – auch auf Druck der Taliban – an einem vollständigen Truppenabzug bis zum 31. August festhalten werden.
Erneut räumte die CDU-Politikerin ein, dass die Bundesregierung die jüngsten Entwicklungen in Afghanistan falsch eingeschätzt habe. Mit Blick auf den Vorwurf von FDP, Linken und Grünen, die Bundesregierung hätte die Ortskräfte früher evakuieren müssen, sprach Merkel von einem „Dilemma“. Sie habe noch vor einigen Wochen gute Gründe dafür gesehen, den Menschen in Afghanistan nach dem Abzug der Truppen wenigstens in der Entwicklungszusammenarbeit weiter zu helfen. „Dafür sind wir auf die Ortskräfte angewiesen.“ Merkel kündigte eine umfassende Aufarbeitung des 20-jährigen Afghanistan-Einsatzes an.
SPD verspricht „Konsequenzen für weitere Einsätze“
Der SPD-Außenpolitiker Dr. Rolf Mützenich versprach ebenfalls eine schonungslose Aufklärung der Geschehnisse sowie Konsequenzen für weitere Einsätze. Dafür müsse der Bundestag in der kommenden Legislaturperiode eine Enquete-Kommission einsetzen.
Neben Gesprächen mit den Taliban, für die sich 2007 schon der SPD-Politiker Kurt Beck ausgesprochen habe und der dafür mit „Hohn und Häme überschüttet“ worden sei, wie Mützenich bemerkte, müsse es jetzt auch Verhandlungen mit den Nachbarländern Afghanistans geben. „Das schließt den Iran mit ein“, sagte der Fraktionsvorsitzende der Sozialdemokraten.
FDP: Diese Katastrophe kommt nicht aus dem Nichts
FDP, Linke und Grüne warfen der Bundesregierung vor, nicht früher evakuiert zu haben. Diese habe jahrelang zudem weder eine Exit-Strategie vorgelegt noch eine Evaluierung des Afghanistan-Einsatzes vorgenommen, kritisierte FDP-Fraktionschef Christian Lindner.
„Diese Katastrophe kommt nicht aus dem Nichts“, schlussfolgerte Lindner, der einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss, die Bildung eines Bundessicherheitsrates zur institutionellen Vernetzung der Ministerien und einen EU-Sondergipfel zu Afghanistan forderte.
Grüne fordern Afghanistan-Untersuchungsausschuss
Ähnlich äußerte sich Grünen-Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock, die die Ereignisse als außenpolitisches „Desaster“ wertete. Die Bundesregierung habe die Warnungen zur Sicherheitslage in Afghanistan „einfach weggewischt“ und bei der Diskussion über die Aufnahme der Ortskräfte „innenpolitische Motive“ höher gewertet als außenpolitische Verantwortung, urteilte sie.
Baerbock drängte neben einem Untersuchungsausschuss auf einen sofortigen internationalen Gipfel zur Afghanistan-Krise, an dem „alle Nato-Staaten und die Anrainerstaaten“ beteiligt werden sollten.
AfD wirft Regierung „monströse Ignoranz“ vor
AfD-Fraktionschef Dr. Alexander Gauland befand, die Idee des Exports der westlichen Lebensart sei in Afghanistan „krachend gescheitert“. Wer glaube „man könne tiefe, ethnisch kulturelle Prägungen mit Aufklärungskursen und Gender-Mainstreaming therapieren, bezeugt nur eine monströse Ignoranz“.
Gauland sprach sich für eine eng begrenzte Aufnahme von jenen afghanischen Ortskräften in Deutschland aus, „die loyal für die Bundeswehr gedient haben“. Mehr würde Deutschland weder finanziell noch sicherheitspolitisch verkraften.
Linke: Die letzten Wochen sind unentschuldbar
Linksfraktionschef Dr. Dietmar Bartsch sagte in Richtung von Bundesaußenminister Heiko Maas (SPD), Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) und Innenminister Horst Seehofer (CSU): „Die letzten Wochen sind unentschuldbar. Die Folgen Ihrer Fehler gefährden Menschenleben. Sie sind in Ihren Ämtern gescheitert.“
Die Bundeswehr hätte erst evakuieren und dann abziehen müssen. „Die, die daran beteiligt waren, sollten nie wieder Mitglieder einer Bundesregierung sein.“ Den Afghanistan-Einsatz nannte Bartsch einen „der schwärzesten Punkt“ in der Kanzlerschaft von Angela Merkel.
CDU/CSU: Dramatische militärische Entwicklung
Dr. Johann David Wadepuhl (CDU/CSU) verteidigte den Einsatz in Afghanistan. Man habe dort viel erreicht, nicht zuletzt ein „besseres und menschwürdigeres Leben“ insbesondere für Mädchen und Frauen.
Gleichwohl sprach er von einer „dramatischen militärischen Entwicklung“ am Hindukusch. Nun sei man den gut 150.000 Männern und Frauen, die ihren Dienst in Afghanistan geleistet hätten, eine „nüchterne und umfassende“ Aufarbeitung schuldig. Deutschland müsse außerdem auch in Zukunft an der Seite Afghanistans stehen, sagte er.
Antrag der Bundesregierung
In ihrem Antrag erbat die Regierung die Zustimmung des Bundestages zu „der am 15. August 2021 im Krisenstab getroffenen und durch Beschluss der Bundesregierung am 18. August bestätigten Entscheidung zur Entsendung erster Einsatzkräfte am 16. August 2021 und dem damit bereits begonnenen Einsatz bewaffneter deutscher Streitkräfte zur Evakuierung deutscher Staatsangehöriger, Personal der internationalen Gemeinschaft und designierter Personen aus Afghanistan“.
Ungeachtet der wiederholten Beteuerung der politischen Führung der Taliban in Doha, eine Verhandlungslösung erreichen zu wollen, hätten die Taliban bei wegbrechender staatlicher Autorität das Land unter ihre Kontrolle gebracht. „Mit der daraus folgenden Implosion der afghanischen Regierung und der Machtübernahme durch die Taliban sind die örtlichen Sicherheitsstrukturen in der Hauptstadt Kabul weggebrochen.“ Die Lage sei außerordentlich unübersichtlich. Die Bundesregierung müsse in dieser Situation eine militärische Evakuierung deutscher Staatsangehöriger, und im Rahmen verfügbarer Kapazitäten von Personal der internationalen Gemeinschaft sowie weiterer designierter Personen, inklusive besonders schutzbedürftiger Repräsentantinnen und Repräsentanten der afghanischen Zivilgesellschaft, aus Afghanistan sicherstellen.
Dafür sollen bis zu 600 Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr eingesetzt werden können. Der Einsatz soll längstens bis zum 30. September 2021 andauern und nur, solange die konstitutive Zustimmung des Bundestages vorliegt. Der Einsatz erfolge auf Grundlage „der fortgeltenden Zustimmung der Regierung der Islamischen Republik Afghanistan zum Einsatz bewaffneter deutscher Streitkräfte zur Evakuierung“ der genannten Personen, wie zuletzt mit Notenwechsel vom 15. August 2021 bestätigt, sowie aufgrund des gewohnheitsrechtlich anerkannten Rechts zur Evakuierung eigener Staatsangehöriger.
Anträge der AfD
Die AfD-Fraktion will mit ihrem Antrag eine „jährliche Debatten zur sicherheitspolitischen Lage der Bundesrepublik Deutschland im Deutschen Bundestag etablieren“ (19/32083). Sie begründet ihre Forderung mit dem dem Bundestag obliegenden Haushaltsrecht über die Streitkräfte und dessen Entscheidungshoheit über die Auslandseinsätze der Bundeswehr. Die Vorlage soll im Auswärtigen Ausschuss weiterberaten werden. Ein weiterer zuvor angekündigter Antrag mit der Forderung, den „Evakuierungseinsatz in Afghanistan auf deutsche Staatsbürger und eindeutig nachweisliche Ortskräfte“ zu beschränken, wurde abgesetzt.
Antrag der FDP
Der Antrag der Liberalen verfolgt das Ziel, einen „EU-Sondergipfel für eine gemeinsame europäische Afghanistanpolitik“ einzuberufen (19/32079). So müsse die EU etwa schnellstmöglich in Gespräche mit Tadschikistan, Usbekistan und Turkmenistan sowie den internationalen Partnern zur Einrichtung sicherer Fluchtkorridore in diese Länder treten, heißt es. Dem Antrag zufolge soll auch eine Erhöhung der deutschen Mittelzusagen an das UN-Flüchtlingshilfswerk und andere humanitäre Organisationen vorgenommen werden. Die Abgeordneten fordern zudem ein „Sondervisaprogramm für besonders von Verfolgung und Gewalt bedrohte Afghaninnen“. Der Antrag wird nun im Auswärtigen Ausschuss federführend weiterberaten.
Anträge der Linken
Die Linke hat Anträge mit der Forderung nach einem „konsequenten Ende“ der Einsätze der Bundeswehr im Ausland (19/32081) und einem Stopp der Rüstungsexporte in die Länder des Vorderen und Mittleren Orients (19/32082) vorgelegt. So sollten nach dem Willen der Linken auch alle anderen Auslandseinsätze der Bundeswehr – etwa in Mali, am Horn von Afrika, im Kosovo oder im Mittelmeer – „unverzüglich“ beendet werden, heißt es. Dort, wo dies für deren Sicherheit notwendig sei, müsse eine zeitgleiche Evakuierung aller Ortskräfte auf den Weg gebracht werden. Der erste Antrag wird federführend nun im Auswärtigen Ausschuss, der zweite im Wirtschaftsausschuss weiterberaten.
Wieder abgesetzt von der Tagesordnung wurde ein von der Linksfraktion angekündigter Antrag mit dem Titel „Evakuierung jetzt – Nato-Interventionspolitik in Afghanistan stoppen“. (joh/ahe/ste/25.08.2021)