Gesundheit

Nachholbedarf bei der Digi­talisierung im Gesundheitswesen

Zeit: Donnerstag, 15. Juli 2021, 10.30 bis 12 Uhr
Ort: Berlin, Paul-Löbe-Haus, Sitzungssaal E 300

Beträchtliche Fortschritte lassen sich sowohl in der aktuellen Pandemie als auch in der Gesundheitsversorgung insgesamt mit einem forcierten und breiten Einsatz digitaler Möglichkeiten erzielen, so der Rat der Sachverständigen in der öffentlichen Anhörung des Parlamentarischen Begleitgremiums Covid-19-Pandemie am Donnerstag, 15. Juli 2021, unter Leitung von Rudolf Henke (CDU/CSU), zum Stand des Ausbaus der Digitalisierung im Gesundheitswesen.

„Die Digitalisierung als Element der Pandemiebekämpfung hat wie in einem Brennglas gezeigt, dass wir auf diesem Gebiet der Entwicklung um Jahre hinterher sind“, sagte Henke. Teilweise seien die Gesundheitsämter mit der Aufgabe überfordert gewesen,  die Nachverfolgung von Corona-Kontakten digitalisiert zu bewerkstelligen. „Manchmal sind Excel-Tabellen per Fax transportiert worden.“ Unter anderem um das Gesundheitswesen technisch zu ertüchtigen, habe die Bundesregierung nun für die kommenden fünf Jahre vier Milliarden Euro Investitionsmittel eingeplant.

Software für die Gesundheitsämter mit Kinderkrankheiten

Dr. Bernhard Bornhofen, Sprecher Bundesverband der Ärztinnen und Ärzte des Öffentlichen Gesundheitsdienstes (BVÖGD), und Amtsleiter Stadtgesundheitsamt in Offenbach am Main, berichtete von den Kinderkrankheiten neuer Software für die Gesundheitsämter. Mehr Mitarbeiter könnten jetzt parallel arbeiten, aber für ihn als Amtsleiter sei die Auswertung am Ende des Tages noch unbefriedigend.

Sein Fazit: „Damit es gut funktioniert, müsste nochmal ordentlich Energie reingesteckt werden.“ Zudem wolle man im Hinblick auf eine mögliche vierte Welle mehr Daten nutzen, beispielsweise Krankenhausdaten.

Lob für Konzept der Corona-Warn-App

„Das Konzept der Corona-Warn-App ist gut“, sagte Henning Tillmann, Softwareentwickler, Co-Vorsitzender D64 – Zentrum für digitalen Fortschritt e.V., zu der auf dem Betriebssystem von Apple und Google basierenden Anwendung. Sie erfülle ihre Grundfunktion, nämlich die schnelle Warnung, sehr gut, sei äußerst datensparsam und zudem im Laufe der Monate um mehrere Funktionen erweitert worden. Mit der Kooperation der beiden Tech-Konzerne habe man sehr schnell ein weltweit einsetzbares System gehabt. Aus medizinischer Sicht sei es sinnvoll, wenn die App auch noch zur automatischen Cluster-Erkennung befähigt würde, indem man die Möglichkeiten der Handy-Sensoren voll einbeziehe.

Mehr als 30 Millionen Downloads seinen mittlerweile von der App gemacht worden, wusste Martin Georg Fassunge, Projektleiter Corona-Warn-App, Agile Software Engineering bei SAP, Senior Development Manager SAP. Das sei ein enormer Vertrauensbeweis in das hohe Datenschutzniveau der Anwendung. In ruhigeren Zeiten, nach dem Abflauen der Pandemie müsse man aber „noch mehr digitale Fitness hinkriegen bei der Bevölkerung“ und „kritische Fragen klären“.

Nutzung der digitalen Patientendaten

Digitale Patientendaten im Gesundheitswesen besser zu nutzen, mahnte Prof. Dr. Gerd Antes, ehemaliger Direktor des Deutschen Cochrane Zentrums, an. Von einer vielfach beschworenen weltweiten Führungsrolle in diesem Bereich sei Deutschland weit entfernt. Das fange bei der Warn-App an, die nicht registriere, ob sich eine Person drinnen oder draußen bewege und reiche bis zu der unverständlichen Nicht-Erfassung des Alters selbst bei Intensivpatienten noch bis zu diesem Frühjahr.

Dabei sei das Alter eines Menschen doch der entscheidende Risikofaktor beim Verlauf einer Covid-Infektion. Das sei ein „banales Beispiel dafür, dass die naheliegenden Dinge einfach nicht gemacht worden sind. Das ist kein Problem der Digitalisierung, sondern schlicht Knochenarbeit an der Front.“

Eine Frage der sicheren digitalen Identität

Um die Dateninfrastruktur im Gesundheitswesen weiter zu verbessern, ja überhaupt erst voll nutzbar zu machen, brauche es zunächst noch eine Reihe von Basis-Bausteinen wie sichere digitale Identitäten, gab der Informatiker Martin Tschirsich zu bedenken. Das müsse Priorität haben, das benötige auch einigen zeitlichen Vorlauf. In einem so gesicherten System könne man dann aber potenziell unendlich viele gesundheitsbezogene Inhalte miteinander vernetzen, ob für die schnelle Reaktion im Krisenfall oder für die anwendungsorientierte Forschung.

Wie sehr die Corona-Warn-App und die Luca App die Gesundheitsämter mittelbar unterstützten, darauf verwies Bianca Kastl vom Innovationsverbund Öffentliche Gesundheit InÖG. In den Restaurants ausliegende Gästelisten spielten dagegen lediglich eine Nebenrolle. Letztere würden von den Gesundheitsämtern nur in sehr geringem Umfang von den Gastronomiebetrieben angefordert.

Expertin: Patienten brauchen Anleitung

Aus der Perspektive der Patienten betrachtete Dr. Ilona Köster-Steinebach, Geschäftsführerin des Aktionsbündnis Patientensicherheit, die fortschreitende Digitalisierung im Gesundheitssektor. „Die Patienten haben überhaupt keine Anleitung, wie sie mit der Digitalisierung zurande kommen sollen“, bemängelte sie. Die Einführung der Elektronischen Patientenakte (EPA) müsse da ein attraktives Angebot an die Betroffenen schaffen.

Gute Patientenkommunikation sei auch die Voraussetzung für eine breite Nutzung der Apps, und die funktionierten ja umso besser, je mehr sie genutzt würden. Große Defizite bestünden da seitens der Bundeszentrale für Gesundheitliche Aufklärung. Deren Kommunikation sei praktisch ausgefallen. Das habe Verschwörungstheorien Raum gegeben.

Kritik an fehlender digitaler Vernetzung im Gesundheitswesen

Es gebe noch einen „erheblichen Bedarf an Vernetzung“ im Gesundheitswesen, sagte Dr. Philipp Stachwitz, Experte im health innovation hub (hih) des Bundesministeriums für Gesundheit, ja man habe „noch keine digitale Vernetzung“. Viel sei aber in den letzten Jahren auf den Weg gebracht werden. Die EPA werde beiden Seiten helfen, den Versorgungseinrichtungen und den Patienten. Das Auftreten von Long Covid Symptomen werde interdisziplinäre Behandlung erfordern und die Notwendigkeit stärkerer Vernetzung deutlich machen. Außerdem brauche man bessere Daten für die Forschung. Für den Austausch seien sichere digitale Identitäten nötig.

Auch die Gesundheitsämter bräuchten dringend Unterstützung bei ihrem Weg in die digitale Welt sowie dabei, einheitliche Standards zu schaffen. Dazu müsse eine zentrale Stelle eingerichtet werden. Die Video-Sprechstunde sei übrigens ein gelungenes Beispiel für ein in der Pandemie wertvolles Instrument, als es um Kontaktreduktion ging, das betriebsbereit gewesen sei, als man es gebraucht habe. „Das Werkzeug war vor der Pandemie fertig und konnte auf Knopfdruck aktiviert worden.“

Stachwitz forderte zudem mehr Wertschätzung für die beratende Tätigkeit der Ärzte in ihrer Rolle, den Patienten neue digitale Anwendungen zu erklären. „Bisher gibt es keine Vergütungsziffer dafür.“ Dass das Verhältnis zwischen Arzt und Patient durch neue digitale Tools gestört werde, könne er nicht erkennen. Die neuen Mittel seien im Gegenteil eher eine Unterstützung, die ausgebaut werden müsse. „Bisher gibt es keine digitalen Austauschwege zwischen Patienten und Ärzten. Das Schicken von Emails ist eine Notlösung.“

Begleitgremium Covid-19-Pandemie

Die Bewältigung der Covid-19-Pandemie ist eine gesellschaftliche Herausforderung, die zahlreiche gesundheitliche und soziale Fragen mit sich bringt. Um sich damit intensiver befassen zu können, hat der Gesundheitsausschuss das Parlamentarische Begleitgremium Covid-19-Pandemie eingerichtet. Ihm gehören 21 Mitglieder aus dem Gesundheitsausschuss, aber auch aus anderen Fachausschüssen an.

Sein Arbeitsbereich umfasst im Wesentlichen drei große Themenblöcke. Zunächst sind dies Fragen der Pandemiebekämpfung, wozu beispielsweise die Erforschung des Virus und seiner Mutationen, Chancen durch Digitalisierung sowie internationale Aspekte gehören. Der zweite Themenblock umfasst den Komplex der Impfungen, mit dem sowohl die Entwicklung und Zulassung von Impfstoffen als auch der Zugang zur Impfung und die damit verbundenen ethischen, sozialen und rechtlichen Aspekte gemeint sind. Schließlich sollen auch die gesellschaftlichen Auswirkungen der Pandemie und der damit verbundenen Kontaktbeschränkungen in den Blick genommen werden. Als Erkenntnisquelle dienen dem Begleitgremium öffentliche Anhörungen von Sachverständigen und Expertengespräche. Zudem wird die Bundesregierung das Gremium regelmäßig über das aktuelle Infektionsgeschehen und anlassbezogen zu aktuellen Fragen der Pandemiebekämpfung unterrichten. (ll/15.07.2021))