Der Bundestag hat am Mittwoch, 19. Mai 2021, eine halbe Stunde lang die Antwort der Bundesregierung (19/28233) auf eine Große Anfrage der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen (19/16992) zur sozialen und gesundheitlichen Situation von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, trans- und intergeschlechtlichen Menschen (LSBTI) in Deutschland debattiert.
In namentlicher Abstimmung abgelehnt wurden Gesetzentwürfe der FDP-Fraktion zur Stärkung der geschlechtlichen Selbstbestimmung (19/20048) sowie der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zur Aufhebung des Transsexuellengesetzes und Einführung des Selbstbestimmungsgesetzes (19/19755). Dem FDP-Gesetzentwurf stimmten 181 Abgeordnete zu, 461 lehnten ihn ab, es gab elf Enthaltungen. Der Grünen-Gesetzentwurf erhielt 118 Ja-Stimmen bei 456 Nein-Stimmen und 79 Enthaltungen. Zur Abstimmung lag eine Beschlussempfehlung des Ausschusses für Inneres und Heimat (19/29595) vor.
Anträge von drei Oppositionsfraktionen abgelehnt
Ebenfalls in namentlicher Abstimmung abgelehnt wurde ein Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Fremdbestimmte Operationen an trans- und intergeschlechtlichen Menschen – Aufarbeiten, Entschuldigen und Entschädigen“, zu dem eine Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses (19/29459 Buchstabe a) vorlag. 452 Abgeordnete stimmten gegen den Antrag, 127 unterstützen ihn, es gab 73 Enthaltungen.
Keine Mehrheit fanden fünf weitere Anträge. Dem FDP-Antrag „Geschlechtliche und sexuelle Vielfalt in der Europäischen Union schützen“ (19/10553) stimmten neben der FDP auch die Linksfraktion und die Grünen zu, während die Koalitionsfraktionen und die AfD ihn ablehnten. Dem ersten Antrag der Grünen für einen Aktionsplan für sexuelle und geschlechtliche Vielfalt (19/10224) stimmte neben den Grünen auch die Linksfraktion zu. Die Koalitionsfraktionen und die AfD lehnten ihn ab, die FDP enthielt sich. Zu beiden Anträgen lag eine Beschlussempfehlung des Familienausschusses vor (19/29525).
Den zweiten Antrag der Grünen mit dem Titel „Entschädigungsfonds für trans- und intergeschlechtliche Menschen“ (19/22214) stimmte neben den Grünen auch die Linksfraktion zu. Die Koalitionsfraktionen und die AfD lehnten ihn ab, die FDP enthielt sich. Zur Abstimmung lag eine Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses vor (19/29459).
Dem dritten Antrag der Grünen mit dem Titel „Unabhängigkeit der Antidiskriminierungsstelle des Bundes stärken“ (19/24431) stimmten auf Empfehlung des Familienausschusses (19/29514) stimmte neben den Grünen auch die Linksfraktion zu, während die übrigen Fraktionen ihn ablehnten.
Keine Mehrheit fand auch der vierte Antrag der Grünen mit dem Titel „Bundesweite Studie – Sorgerechtsentzug bei und Diskriminierung von Müttern mit lesbischen Beziehungen und ihren Kindern“ (19/27878), zu dem ebenfalls eine Beschlussempfehlung des Familienausschusses vorlag (19/29516). Neben den Grünen stimmten auch die FDP und die Linksfraktion dafür, die Koalitionsfraktionen und die AfD lehnten ihn ab.
Große Anfrage der Grünen
Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen verlangt Auskunft über die soziale und gesundheitliche Situation von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, trans- und intergeschlechtlichen Menschen (LSBTI) in Deutschland. In einer Großen Anfrage (19/16992) will sie unter anderem wissen, welche Regelungen im deutschen Recht nach Kenntnis der Regierung LSBTI direkt oder indirekt diskriminieren, welche Regelungen in der Kritik internationaler Organisationen wie Europarat oder Vereinte Nationen stehen und welche dieser Regelungen die Regierung zu reformieren beziehungsweise zu beseitigen beabsichtigt.
Zudem erkundigen sich die Grünen nach Diskriminierungen von LSBTI am Arbeitsmarkt und bei der Wohnungssuche, nach der Erkrankungs- und Suizidrate sowie sexuellem Missbrauch.
Antwort der Bundesregierung
Aus der Antwort (19/28233) geht unter anderem hervor, dass der Bundesregierung keine diskriminierenden Regelungen bekannt sind: Die angesprochenen Personengruppen seien bereits im Anwendungsbereich des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG) vor Diskriminierung geschützt, heißt es darin.
Hinsichtlich einer Reform der Regelungen für transgeschlechtliche Menschen sei der politische Meinungsbildungsprozess „noch nicht abgeschlossen“, schreibt die Bundesregierung. Ein Referentenentwurf zur Neuregelung der Änderung des Geschlechtseintrags werde derzeit abgestimmt.
Gesetzentwurf der FDP
Die FDP-Fraktion wollte mit ihrem Gesetzentwurf „zur Stärkung der geschlechtlichen Selbstbestimmung“ (19/20048) das aktuelle Transsexuellengesetz und den Paragrafen 45b des Personenstandsgesetzes abschaffen und durch ein „Gesetz zur Selbstbestimmung über die Geschlechtsidentität“ ersetzen. Wie die Fraktion ausführte, haben Menschen, deren Geschlechtsmerkmale nicht mit ihrer Geschlechtsidentität übereinstimmen, in Deutschland die Möglichkeit, sich medizinisch und juristisch einer Transition zu unterziehen.
Das juristische Änderungsverfahren werde durch das 1981 in Kraft getretene Transsexuellengesetz normiert, dass zwei Optionen für Menschen vorsehe, deren Geschlechtsidentität nicht mit dem bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht übereinstimmt: die Änderung des Namens sowie die formelle Änderung der Geschlechtszugehörigkeit über den Personenstand. Voraussetzung für die Änderung des Namens seien nach derzeitiger Rechtslage zwei Gutachten von Sachverständigen, die mit diesem Gebiet ausreichend vertraut und voneinander unabhängig tätig sind.
Zugleich verwiesen die Abgeordneten darauf, dass es seit 2018 Menschen mit Varianten der Geschlechtsentwicklung in Deutschland möglich sei, über den Paragrafen 45b des Personenstandsgesetzes Vornamen und Geschlechtseintrag der eigenen Geschlechtsidentität entsprechend anzupassen. Laut Bundesregierung und Urteil des Bundesgerichtshofs (Aktenzeichen: XII ZB 383/19) sei die Anwendung dieses Paragrafen jedoch auf intergeschlechtliche Personen beschränkt.
Gesetzentwurf der Grünen
Wie die Fraktion ausführte, hat das Parlament mit der Änderung des Personenstandsgesetzes Anfang 2019 eine dritte Option beim Geschlechtseintrag („divers“) geschaffen, doch sei beanstandet worden, dass „die Entscheidung über den Geschlechtseintrag von der Vorlage eines ärztlichen Attestes abhängig gemacht wird“. Zudem bleibe unklar, „ob das Gesetz transsexuelle, transgeschlechtliche und transidente Menschen ausschließt, die sich immer noch durch das unwürdige Verfahren nach dem Transsexuellengesetz quälen müssen“.
Das Transsexuellengesetz stelle für die Änderung der Vornamen und die Berichtigung des Geschlechtseintrages entsprechend der selbst bestimmten Geschlechtsidentität „unbegründete Hürden auf, die das Selbstbestimmungsrecht in menschenunwürdiger Weise beeinträchtigen“. Darüber hinaus verwiesen die Abgeordneten darauf, dass in Deutschland an intergeschlechtlichen Kindern immer noch genitalverändernde Operationen vorgenommen würden, „die medizinisch nicht notwendig sind“.
Dem Entwurf (19/19755) zufolge sollte das Transsexuellengesetz durch das Selbstbestimmungsgesetz ersetzt und im Personenstandsgesetz klargestellt werden, „dass alle Menschen eine Erklärung zur Geschlechtsangabe und Vornamensführung bei einem Standesamt abgeben können“. Zudem sollte das Selbstbestimmungsgesetz genitalverändernde chirurgische Eingriffe bei Kindern verbieten sowie unter anderem „einen Anspruch auf Achtung des Selbstbestimmungsrechts bei Gesundheitsleistungen“ statuieren, Bund, Länder und Kommunen zum Ausbau der bisherigen Beratungsangebote verpflichten und eine „Regelung für trans- und intergeschlechtliche Eltern“ einführen.
Antrag der Linken
Nach dem Willen der Fraktion Die Linke sollten Entschädigungen an trans-und intergeschlechtliche Menschen gezahlt werden, an denen fremdbestimmte normangleichende Genitaloperationen durchgeführt wurden. In ihrem Antrag (19/17791) forderte die Fraktion die Bundesregierung auf, innerhalb eines Jahres einen entsprechenden Gesetzentwurf vorzulegen. Zudem sollte die Antidiskriminierungsstelle des Bundes mit einem Gutachten zur Aufarbeitung menschenrechtswidriger medizinischer Eingriffe aufgrund des Transsexuellengesetzes beauftragt werden.
Die Linksfraktion verwies darauf, dass im Zuge des Gesetzgebungsverfahrens zum „Schutz von Kindern vor geschlechtsverändernden operativen Eingriffen“ die fremdbestimmte Durchführung von normangleichenden Genitaloperationen nun weitgehend verboten werden soll. Im Zusammenhang mit diesem geplanten Verbot sei es notwendig, begangenes Unrecht aufzuarbeiten und zu entschädigen. So seien zwischen 1981 und 2011 gemäß des Transsexuellengesetzes operative Eingriffe an den äußeren Geschlechtsmerkmalen sowie Sterilisationen vorgenommen worden. Nach Schätzungen des Bundesverbandes Trans* seien mehr als 10.000 Menschen in Deutschland zwangsweise sterilisiert worden.
Antrag der FDP
Die FDP forderte die Bundesregierung in ihrem Antrag (19/10553) unter anderem auf, in der EU darauf hinzuwirken, dass die Grund- und Menschenrechte von LSBTI EU-weit geschützt werden. Alle EU-Rechtsakte gegen Diskriminierung aufgrund von Rassismus sollten auch für Diskriminierung von LSBTI wirksam gemacht werden. Bei der Prüfung der Menschenrechtslage in Staaten, zu denen Handelsbeziehungen bestehen, sollten auch die Rechte von LSBTI betrachtet werden.
LSBTI seien in vielen EU-Mitgliedstaaten häufig mit Diskriminierung, Belästigung, Intoleranz, Hass und Hasskriminalität konfrontiert, schriebt die Fraktion. Vorurteile und falsche Vorstellungen über geschlechtliche und sexuelle Vielfalt förderten intolerante Einstellungen und Verhaltensweisen. Daher gebe es großen Handlungsbedarf für das Europäische Parlament und für die Regierungen der EU-Mitgliedstaaten.
Erster Antrag der Grünen
Die Grünen forderten in ihrem ersten Antrag (19/10224) von der Bundesregierung, einen bundesweiten Aktionsplan für sexuelle und geschlechtliche Vielfalt unter enger Beteiligung der LSBTI-Verbände (Lesben, Schwulen, Bisexuellen, transgeschlechtliche und intergeschlechtliche Menschen) zu entwickeln und zu verabschieden. Dieser sollte aufbauend auf Erfahrungen aus den Ländern klar formulierte Ziele und Maßnahmen – darunter auch Selbstverpflichtungen der öffentlichen Stellen – enthalten und finanziell mit 35 Millionen Euro pro Jahr abgesichert sein.
Der Aktionsplan sollte nach den Vorstellungen der Abgeordneten vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend koordiniert, aber ressortübergreifend entwickelt und umgesetzt werden. Er sollte klare Berichtspflichten enthalten und einmal in einer Legislaturperiode in Form von einem an den Bundestag zuzuleitenden Bericht evaluiert werden, hieß es in dem Antrag.
Zweiter Antrag der Grünen
Für einen Entschädigungsfonds für trans- und intergeschlechtliche Menschen setzte sich die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen in ihrem zweiten Antrag ein (19/22214).
Danach sollte der Bundestag die Bundesregierung auffordern, einen Entschädigungsfonds für die Opfer aus dem Kreis der trans- und intergeschlechtlichen Personen zu errichten, deren körperliche Unversehrtheit verletzt wurde.
Dritter Antrag der Grünen
Die Grünen forderten in ihrem dritten Antrag (19/24431) die Bundesregierung auf, einen Gesetzentwurf zur Änderung des AGG vorzulegen. Danach sollte die Antidiskriminierungsstelle künftig als Bundesoberbehörde errichtet und deren Leitung künftig auf Vorschlag einer Fraktion oder der Bundestagsabgeordneten in Fraktionsstärke durch den Bundestag gewählt werden.
Durch die Schließung bestehender Lücken im privaten und öffentlichen Bereich sollte der Schutz vor rassistischer Diskriminierung sowie vor Diskriminierung wegen des Geschlechts, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Identität im AGG deutlich verbessert werden. Auch wollte die Fraktion die finanzielle und personelle Ausstattung der Antidiskriminierungsstelle deutlich aufstocken.
Vierter Antrag der Grünen
Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen forderte in ihrem vierten Antrag (19/27878) die Bundesregierung auf, eine interdisziplinär angelegte bundesweite Studie zum Thema „Sorgerechtsentzug bei und Diskriminierung von Müttern mit lesbischen Beziehungen und ihren Kindern“ in Auftrag zu geben.
Darin hieß es, dass lesbische und bisexuelle Mütter in Deutschland bis in die 1990er-Jahre in Angst, Abhängigkeit und Sorge um den Verlust des Sorgerechts ihrer Kinder und den Unterhalt lebten, wenn sie sich von ihrem Ehemann scheiden ließen, um in einer Liebesbeziehung mit einer Frau zu leben. Allerdings fehle es an einer bundesweiten Aufarbeitung und genauen Zahlen. Dieses Kapitel der deutschen Geschichte und das damit verbundene Unrecht müssten aufgearbeitet werden, forderte die Fraktion. (aw/fla/hau/irs/mwo/ste/sto/sas/vom/19.05.2021)