Europäische Finanzaufsicht kritisiert deutsche Behörden
Die Europäische Wertpapier- und Marktaufsichtsbehörde ESMA sieht erhebliche Lücken im System der deutschen Finanzaufsicht. Dazu äußerte sich Evert van Walsum, Leiter der Abteilung Investoren und Emittenten bei EU-Behörde, in der Sitzung des 3. Untersuchungsausschusses („Wirecard“) am Donnerstag, 4. März 2021, unter der Leitung von Kay Gottschalk (AfD). Van Walsum war per Video aus der Deutschen Botschaft in Paris zugeschaltet.
Fachliche Bewertung der Arbeit der Aufsichtsbehörden
Die ESMA hat nach Bekanntwerden des groß angelegten Betrugs bei dem deutschen Zahlungsdienstleister Wirecard im vergangenen Jahr eine fachliche Bewertung der Arbeit der zuständigen Aufsichtsbehörden durchgeführt. Die Untersuchung galt der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) und der Deutschen Prüfstelle für Rechnungslegung (DPR). „Wir haben Defizite in den Abläufen sowie Leistungsmängel und rechtliche Hindernisse für ein wirksames Funktionieren identifiziert“, sagte van Walsum. Die EU-Vorgaben für eine schlagkräftige Aufsicht von Finanzfirmen seien ein Deutschland nur unzureichend umgesetzt.
Gerade auf den Umgang mit einem handfesten Betrugsfall sei das Aufsichtssystem nicht vorbereitet gewesen. Unter den deutschen Institutionen habe nur die Staatsanwaltschaft die Mittel gehabt, um einem Verdachtsfall wirklich nachspüren - aber die Hürden für deren Einbeziehung seien zu hoch. So sei ein Teufelskreis entstanden. Weil die BaFin im Fall Wirecard nicht kriminalistisch ermittelt hat, konnte sie auch keine Belege für Straftaten zutage fördern. Doch ohne die Verdachtsmomente zu erhärten, konnte sie die Staatsanwaltschaft nicht einschalten, führte van Walsum aus.
Keine Anhaltspunkte für illegale Machenschaften
Stattdessen hat die BaFin die DPR um eine weitere Prüfung gebeten. „Diese wiederum hatte bei weitem nicht die Ressourcen, um den Betrug zu durchschauen.“ Sie konnte nur mit Dokumenten arbeiten, die Wirecard freiwillig einreichte, und in denen fanden sich die nötigen Anhaltspunkte für illegale Machenschaften natürlich nicht. Die BaFin hat die Staatsanwaltschaft erst aktiviert, als Wirecard zugeben musste, dass 1,9 Milliarden Euro des Firmenvermögens nie existierten. Dieser Schritt erfolgte offensichtlich zu spät, so van Walsum.
Besonders schwerwiegend ist der Vorwurf der ESMA, dass die zwei zuständigen Aufsichtsbehörden frühere Hinweise auf mangelnde Abläufe ignoriert haben. Schon 2017 hat eine EU-Fachbewertung der Arbeit von BaFin und DPR deutliche Hinweise auf Probleme geliefert. Diese wurden jedoch nicht abgestellt. Der Grund: Die Defizite gehen auf den rechtlichen Rahmen zurück – und der konnte nur durch Gesetzesänderung verbessert werden, nicht durch einfache Anpassungen in den Behörden.
Experte bewertet geplantes Leeverkaufsverbot
Der Ausschuss beschäftigte sich in diesen Tagen auch verstärkt mit dem Phänomen, dass Beamte auf niedrigen Ebenen durchaus kompetent begründete Warnungen im Zusammenhang mit Wirecard aussprachen, diese jedoch auf dem Dienstweg versandeten. Am Donnerstag sagte auch der Ökonom Dr. Nikolaus Dötz, ein Referent im Zentralbereich Volkswirtschaft der Deutschen Bundesbank, vor dem Ausschuss aus. Dötz war nicht direkt mit Bankenaufsicht befasst, aber im Januar 2019 war dennoch seine Expertise im Zusammenhang mit Wirecard gefragt: Er sollte den Sinn eines geplanten Leeverkaufsverbots bewerten. Die BaFin plante, es zu verhängen, um Wirecard vor vermeintlichen Angriffen böswilliger Spekulanten zu schützen. Ein Schritt in dem Prozedere ist die Beurteilung des Vorhabens durch die Bundesbank. Hier war nun Dötz als Experte für das Marktgeschehen gefragt.
Dötz sprach sich in einem Vermerk gegen das Leerverkaufsverbot aus. „Im Ergebnis kann keine Marktstörung festgestellt werden“, schrieb der Experte – eine Marktstörung ist aber Voraussetzung für ein Leeverkaufsverbot. Im Rückblick war das die richtige Entscheidung. Nach Ansicht des Ausschusses – und inzwischen auch der BaFin selbst – hat das Leeverkaufsverbot das völlig falsche Signal gesetzt. Es hat Wirecard als Opfer dastehen lassen statt als Täter.
Einschätzung wurde ignoriert
Diese einzelne Maßnahme hat die Aufklärung des Betrugs vermutlich mehr in die Länge gezogen als alle anderen Fehlentscheidungen jener Tage. Dötz hatte jedoch von Anfang an eine Reihe von Problemen mit dem Leerverkaufsverbot. Er hielt es für unangemessen, weil er keine Anzeichen dafür finden konnte, dass die Märkte von Leerverkäufen verzerrt seien. Er hielt es für wenig tauglich, weil es in solchen Situationen kaum etwas bringt. Andere Fachleute der Bundesbank schlossen sich der Einschätzung an. Die Einschätzungen sind aktenkundig und liegen dem Ausschuss vor.
Doch: Sie wurden seinerzeit ignoriert. Die BaFin erhielt die Analysen der Bundesbank am 15. Februar 2019 zwar übermittelt. Sie sprach das Leeverkaufsverbot trotzdem aus – weil es von der Leitung der Behörde so gewünscht war. „Sie wollte das Leerverkaufsverbot offenbar unter allen Umständen und hat es regelrecht durchgeboxt – und sich damit auf die Seite von Wirecard gestellt“, sagte Dr. Danyal Bayaz (Bündnis 90/Die Grünen).
Höhere Leitungsebene wurde nicht tätig
Die Vermerke über den Unsinn des Leeverkaufsverbots gingen innerhalb der Bundesbank auch auf den Dienstweg – fanden aber nur auf Fachebene Beachtung. Die höhere Leitungsebene wurde im Fall Wirecard nicht tätig. Diesem Punkt schenkte der Ausschuss viel Beachtung. Bei Vernehmung des Leiters der Abteilung Marktbeobachtung der Bundesbank, Martin Wieland, stellte sich ebenfalls heraus, dass seine Mahnungen im Fall Wirecard nicht wahrgenommen wurden. „Da hätten doch, auch bei der Bundesbank-Führung, Alarmzeichen angehen müssen!“, sagte der Abgeordnete Dr. h.c. Hans Michelbach (CDU/CSU).
Es scheint gleichwohl für die Beamten der Bundesbank kein Ausnahmeereignis zu sein, viel Arbeit und Expertise in eine Einschätzung zu stecken, nach der die verantwortlichen Stellen später nicht handeln. „Es kommt öfter vor, dass die Bundesbank sich andere Ergebnisse ihrer Empfehlungen wünschen würde“, sagte Dötz.
Behörden beschränken sich auf Arbeitsbereiche
Die Abgeordnete Cansel Kiziltepe (SPD) beklagte die kurzsichtige und engstirnige Vorgehensweise der verschiedenen Aufsichtsbehörden: „Jeder macht nur das, wofür er auf dem Papier zuständig ist.“ Jede Behörde, jede Abteilung habe sich auf den Bereich beschränkt, für den sie zuständig sei. Sobald die unmittelbare Pflicht abgehakt war, galt der Fall als erledigt, echter Wille zur Aufklärung war nicht zu sehen. „Proaktivität wäre an dieser Stelle nicht schlecht gewesen“, sagte sie an die Adresse der Bundesbank-Vertreter.
Auch der EU-Beamte van Walsum deutete im Hinblick auf das Verhalten der BaFin an, dass diese nicht gründlich genug vorgegangen sei und es an Spürsinn habe vermissen lassen. Wenn diese ihre Möglichkeiten ausgereizt hätte und die Hinweise aus den Medien und von Finanzmarktakteuren ernster genommen hätte, dann wäre eben doch eine eindeutigere Reaktion zu einem früheren Zeitpunkt möglich gewesen.
Ermittlungsbeauftragte bestellt
Der 3. Untersuchungsausschuss bestellte in seiner Sitzung am 4. März die Wirtschaftsprüfer der Beratungsgesellschaft Rödl & Partner aus Nürnberg, Martin Wambach, Jan Henning Storbeck, Felix Haendel und Stefan Mattner zu seinen Ermittlungsbeauftragten.
Nach dem Untersuchungsausschussgesetz kann der Ausschuss zu seiner Unterstützung eine Untersuchung beschließen, die von einem oder einer Ermittlungsbeauftragten durchgeführt wird und die höchstens sechs Monate dauert. Nach Abschluss ihrer Untersuchung erstatten die Ermittlungsbeauftragten schriftlich und mündlich Bericht und unterbreiten einen Vorschlag über die weitere Vorgehensweise. (fmk/05.03.2021)
Liste der geladenen Zeugen
- Martin Wieland, Deutsche Bundesbank, Abteilungsleiter Market Intelligence
- Dr. Nikolaus Dötz, Deutsche Bundesbank, Referent Zentralbereich Volkswirtschaft
- Fahmi Quadir, Safkhet Capital, Chief Investment Officer
- Evert van Walsum, Europäische Wertpapier- und Marktaufsichtsbehörde
- Marie Christine Geilfus, Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin)