Vor 30 Jahren: Die erste freie Volkskammer arbeitet
Vor 30 Jahren, am Donnerstag, 5. April 1990, konstituierte sich das erste frei gewählte Parlament der DDR, die Volkskammer der zehnten Wahlperiode, im Plenarsaal des „Palastes der Republik“. Knapp drei Wochen nach der demokratischen Volkskammerwahl am 18. März eröffnete Lothar Piche (DSU) als Alterspräsident die erste Tagung mit den Worten: „Über die Bedeutung dieses historischen Ereignisses sind wir uns alle bewusst. In dieser Stunde schauen nicht nur die Menschen unseres Landes auf uns, sondern auch unsere Nachbarvölker und die gesamte Welt. 40 Jahre eines schweren Weges gehen in diesem Augenblick zu Ende.“
Sabine Bergmann-Pohl zur Präsidentin gewählt
Nachdem die Abgeordneten einstimmig die Gültigkeit der Wahlen festgestellt hatten, wählten die Parlamentarier Dr. Sabine Bergmann-Pohl zur ihrer Präsidentin. Die CDU-Politikerin hatte sich im zweiten Wahlgang mit 214 von 390 abgegeben Stimmen gegen Dr. Reinhard Höppner von der SPD (172 Stimmen) durchgesetzt. Fünf Stimmen waren ungültig.
Zu Stellvertretern der Präsidentin wählte die Volkskammer Dr. Reinhard Höppner (SPD) mit 271 Stimmen, Dr. Käte Niederkirchner (PDS) mit 249 Stimmen, Dr. Jürgen Schmieder (Die Liberalen) mit 219 Stimmen, Dr. Wolfgang Ullmann (Bündnis 90/Grüne) mit 215 Stimmen, Dr. Stefan Gottschall (DSU) mit 212 Stimmen und Dieter Helm (DBD/DFD) mit 203 Stimmen.
„Eines Moment von historischer Bedeutung“
In ihrer Antrittsrede erinnerte die Volkskammerpräsidentin zunächst an die politischen Ereignisse des Herbstes 1989 und fuhr dann fort: „Heute nun, in dieser Stunde, sind wir Zeuge eines Momentes von historischer Bedeutung: Das erste frei gewählte Parlament in der 40-jährigen Geschichte der DDR tritt zusammen.“
Weiterhin betonte sie: „Über jeglichen Parteienegoismus hinweg muss es uns gelingen, durch eine kluge, von vielen getragene Politik wieder die Hoffnung in das Leben der Menschen zu geben, erneut das Vertrauen in die Zukunft zu wagen.“
„Zartes Pflänzchen Demokratie“
„Das zarte Pflänzchen Demokratie, das mehr als 50 Jahre überwinterte, ist uns nun anvertraut. Tragen wir mit unserer Arbeit den Frühling in das Land!“, appellierte die Parlamentspräsidentin an die neuen Volksvertreter.
Sie dankte dem Runden Tisch für die geleistete Arbeit und forderte, alsbald geregelte Beziehungen zum Bundestag in Bonn aufzunehmen, „weil es ganz wichtig ist, dass beide deutschen Parlamente das staatliche Zusammenwachsen aktiv gestalten – und nicht nur die Regierungen“.
Volkskammer-Präsidentin letztes Staatsoberhaupt
Im Anschluss verabschiedete die Volkskammer einstimmig das Gesetz zur Änderung und Ergänzung der Verfassung der DDR (Drucksache Nr. 1), das noch vom Zentralen Runden Tisch ausgearbeitet worden war. Das Parlament strich damit die Präambel, wonach die DDR ein „sozialistischer Staat der Arbeiter und Bauern“ ist. Außerdem wurde durch die Einfügung des Artikels 75a in die DDR-Verfassung das Präsidium der Volkskammer mit den Befugnissen des nicht mehr besetzten Staatsrats betraut. Die Präsidentin der Volkskammer erhielt damit die Befugnisse der Staatsratsvorsitzenden und wurde dadurch formal auch letztes Staatsoberhaupt der DDR.
Bei zwei Enthaltungen verabschiedete die Volkskammer eine vorläufige Geschäftsordnung (Drucksache Nr. 2), die bis zur Verabschiedung einer neuen Geschäftsordnung am 12. Juli 1990 (Drucksache Nr. 115 und 115a) in Anlehnung an die Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages bestand.
Acht Fraktionen
Entsprechend den Regelungen dieser Geschäftsordnung bildeten die Parteien und politischen Vereinigungen Fraktionen. Die Volkskammer setzte sich aus den Fraktionen der Christlich-Demokratischen Union Deutschlands (CDU), der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD), der Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS), der Deutschen Sozialen Union (DSU), der Liberalen, Bündnis 90 und Grüne, der Demokratischen Bauernpartei Deutschlands sowie Demokratischer Frauenbund Deutschlands (DBD/DFD) zusammen.
Die Abgeordneten des Demokratischen Aufbruchs sowie der Abgeordnete der Vereinigten Linken gehörten keiner Fraktion an. Als Spitzenkandidat der stärksten Fraktion beauftragte das Parlament den Fraktionsvorsitzenden der CDU Lothar de Maizière mit der Regierungsbildung.
409 Abgeordnete
In der 10. Volkskammer saßen insgesamt 409 Abgeordnete. Neun Parlamentarier waren für ausgeschiedene Abgeordnete nachgerückt. Nur elf von ihnen hatten bereits der vorherigen neunten Volkskammer angehört. Fünf von ihnen waren nun Mitglied der PDS-Fraktion. Der Frauenanteil betrug rund 20 Prozent. Das Durchschnittsalter lag zu Beginn bei 41,8 Jahren. Der Bundestag lag im Vergleich dazu bei 49,3 Jahren.
Alle Abgeordneten waren freiwillig bereit, sich einer Prüfung auf Mitarbeit im Ministerium für Staatssicherheit (MfS)/Amt für Nationale Sicherheit (AfNS) zu unterziehen. Bei einer Gegenstimme und einer Enthaltung hatten die Mitglieder der Volkskammer die Bildung eines „Zeitweiligen Ausschusses zur Prüfung der Abgeordneten auf eventuelle Stasitätigkeit“ gleich in ihrer ersten Sitzung beschlossen.
Enormes Arbeitspensum
Die Abgeordneten tagten zunächst im Palast der Republik. Nachdem das Gebäude wegen Asbestverseuchung geschlossen werden musste, fanden die 36. und 37. Tagung im Haus der Parlamentarier statt. Die letzte 38. Sitzung der Volkskammer wurde ins Staatsratsgebäude verlegt.
In der nur sechsmonatigen Legislaturperiode hatten die Abgeordneten der Volkskammer ein enormes Arbeitspensum zu bewältigen. Bis zur deutschen Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 kamen sie zu 38 Sitzungen zusammen. In manchmal langen Tagungen bis tief in die Nacht hinein verabschiedeten sie 164 Gesetze und fassten 93 Beschlüsse.
Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion
Am 21. Juni 1990 verabschiedeten die Parlamentarier das Gesetz zum Vertrag über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion zwischen der DDR und der Bundesrepublik Deutschland.
In der Nacht vom 22. auf den 23. August 1990 beschloss die letzte DDR-Volkskammer mit 294 Ja-Stimmen bei 62 Nein-Stimmen und sieben Enthaltungen den Beitritt der DDR zum „Geltungsbereich des Grundgesetzes“ der Bundesrepublik Deutschland zum 3. Oktober 1990 und damit seine eigene Abschaffung.
Emotionsgeladene Debatte
In ihrer 36. Sitzung, am 20. September 1990, verabschiedeten die Abgeordneten das „Gesetz zum Vertrag zwischen der DDR und der Bundesrepublik Deutschland über die Herstellung der Einheit Deutschlands“ (Einigungsvertrag).
In der letzten regulären Arbeitssitzung, der 37. Volkskammertagung, am 28. September 1990, entbrannte nach der Vorstellung des Abschlussberichts des Zeitweiligen Prüfungsausschusses eine lange und emotionsgeladene Debatte darüber, ob die Namen von Abgeordneten, die als informelle Mitarbeiter für die Staatssicherheit tätig gewesen waren, öffentlich genannt werden sollten oder nicht.
Empfehlung zur sofortigen Amtsniederlegung
Für 15 Abgeordnete und Minister war eine Empfehlung zur sofortigen Amtsniederlegung ausgesprochen worden. Nach langen Verhandlungen wurde beschlossen, die Personen zu benennen. Die 37. Tagung der 10. Volkskammer war mit über 16 Stunden gleichzeitig auch die längste Sitzung der Legislaturperiode.
Alle Sitzungen der zehnten Volkskammer wurden im DDR-Fernsehen direkt übertragen. Auf den Internetseiten des Deutschen Bundestages finden Sie in einer eigenen Mediathek in Wort und Bild die komplett aufgearbeiteten Sitzungen der 10. Volkskammer chronologisch sortiert. Für einen leichteren Überblick und zur Orientierung ist jedes Video mit Titeln zu den jeweiligen Tagesordnungspunkten und kurzen Beschreibungen versehen. Abrufbar sind alle behandelten Drucksachen und die Wortprotokolle zu den Sitzungen. (klz/31.03.2020)