Berlin: (hib/HLE) Eine mögliche Verlängerung der Laufzeiten der deutschen Kernkraftwerke im Jahr 2022 sei im Wirtschaftsministerium ergebnisoffen geprüft worden. Dies erklärte Patrick Graichen, ehemaliger Staatssekretär im Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz, am Donnerstag bei seiner Vernehmung im 2. Untersuchungsausschuss, der die Umstände des Atomausstiegs aufklärt.
Sein Leitmotiv sei gewesen, die Versorgungssicherheit mit Gas, Öl und Strom in Deutschland zu gewährleisten, erklärte Graichen. Auf die Frage, ob die zu ergreifenden Maßnahmen ergebnisoffen geprüft worden seien, sagte Graichen: „Eindeutig ja.“ Zentraler Punkt sei gewesen, alle Optionen zu prüfen. Die Verlängerung der Laufzeiten der Kernkraftwerke sei eine von mehreren Optionen gewesen. Wenn es notwendig gewesen wäre, „tun wir das. Das war die klare Botschaft“, sagte Graichen. Er erinnerte aber daran, dass die Betreiber der Kernkraftwerke erklärt hätten, dass es durch eine Laufzeitverlängerung bis zum Frühjahr keine zusätzlichen Strommengen geben werde. Das Ergebnis der Beratungen sei daher gewesen, dass der Bedarf mit Kohlekraftwerken gedeckt werden könne.
Graichen hatte im Laufe der Diskussion um die Laufzeitverlängerung einen kritischen Vermerk des Kraftwerksbetreibers RWE als „Anmerkungen der Betreiber“ per Mail mit dem Hinweis an Umweltstaatssekretär Stefan Tidow geschickt mit der Anmerkung: „Die wollen das nicht.“ Zudem habe er angemerkt, so etwas brauche man auch von der Atomaufsicht. Auf Fragen, wie das mit der von Minister Robert Habeck (Grüne) angekündigten ergebnisoffenen Prüfung der Laufzeitverlängerung zusammenpasse, sagte Graichen, ihm sei es dabei um eine Anmerkungen der Atomaufsicht gegangen. Zentrale Frage für ihn sei gewesen, ob es durch eine Laufzeitverlängerung einen Nutzen für die Energiesicherheit gebe. Tidow erklärte bei seiner Vernehmung zu Graichens Mail, damit sei kein Ergebnis vorweggenommen worden. Er habe die Mail so verstanden, dass Graichen die Anmerkungen der Betreiber zur Kenntnis gegeben habe.
Weiterhin spielte in der Vernehmung ein Auftrag von Graichens Büroleiterin an Abteilungsleiter Volker Oschmann eine Rolle. Danach sollte Oschmann einen Vermerk schreiben, wie man die Versorgungssicherheit auch ohne Kernkraftwerke sicherstellen könne. Das klinge nicht nach ergebnisoffener Prüfung ohne Denkverbote, stellte der Ausschussvorsitzende Stefan Heck (CDU) fest. Graichen sagte dazu, es sei darum gegangen, die Versorgungssicherheit zu gewährleisten. Es hätten sich alle mit Atomkraftwerken befasst, aber es gebe viele Möglichkeiten wie die Wiederinbetriebnahme von Kohlekraftwerken, mehr Nord-Süd-Stromleitungen und die Wiederinbetriebnahme von Biogasanlagen. Der Auftrag an Oschmann sei nicht als Verengung, sondern als Erweiterung des Auftrags insgesamt zu verstehen.
Graichen sagte aber auch, eine Verlängerung der Laufzeiten wäre mit erheblichen Risiken verbunden gewesen. Die Periodischen Sicherheitsüberprüfungen der Anlagen hätten nachgeholt werden müssen, und der Bund hätte als Quasi-Eigner der Kernkraftwerke auftreten müssen, weil die Kernkraftbetreiber von der früheren Aufgabenteilung nichts mehr hätten wissen wollen. Beim Thema Kohlekraftwerke hätte man erheblich einfacher agieren können. Es sei möglich gewesen, zehn Gigawatt Leistung durch die Reaktivierung von Kohlekraftwerken wiederzugewinnen. Der damalige Kenntnisstand sei gewesen, dass es durch eine Laufzeitverlängerung der Kernkraftwerke keine zusätzliche Kilowattstunde Strom geben werde.
Auf Fragen nach seiner eigenen Haltung zur Kernkraft sagte Graichen, die Atomkraft habe Chancen und Risiken. Das Risiko eines GAU sei nicht vollständig auszuschließen. Deshalb habe er immer das Ziel verfolgt, eine Energieversorgung ohne Atomkraft klimafreundlich herzustellen.
Dass es in der Bundesregierung auch andere Positionen zur Nutzung der Kernenergie gab, verdeutlichte Wolf Heinrich Reiter, ehemaliger Staatssekretär im Bundesministerium der Finanzen. Nach seiner Ansicht hätte das Energieangebot mit jeder zur Verfügung stehenden Möglichkeit ausgebaut werden müssen. Außerdem hätte der Gasverbrauch gesenkt werden müssen, um die Speicher zu füllen und damit die Abhängigkeit von Russland zu verringern.
Diese Ziele wären nach Ansicht von Reiter mit einem Weiterlaufen der Kernkraftwerke erreichbar gewesen. Außerdem hätten das Weiterlaufen der Kernkraftwerke und die Reaktivierung bereits stillgelegter Kernkraftwerke zu einer Senkung der Strom- und Gaspreise geführt. Wenn Gas preiswerter geworden wäre, wäre auch das Auffüllen der Speicher nicht mehr so teuer geworden. Aus diesen Gründen sei das Bundesministerium der Finanzen dafür eingetreten, die letzten drei deutschen Kernkraftwerke weiterlaufen zu lassen und zwei weitere, bereits stillgelegte Kraftwerke wieder in Betrieb zu nehmen.