Irene Mihalic, Erste Parlamentarische Geschäftsführerin der Grünen im Bundestag, sieht keine Diskriminierung der AfD im Bundestag
Vorabmeldung zu einem Interview in der nächsten Ausgabe der Wochenzeitung „Das Parlament“ (Erscheinungstag: 20. Dezember 2021)
– bei Nennung der Quelle frei zur sofortigen Veröffentlichung –
Irene Mihalic, Erste Parlamentarische Geschäftsführerin der Grünen-Bundestagsfraktion, verteidigt die Wahlverfahren für die Vorsitze der Bundestagsausschüsse in dieser Woche und weist die Kritik der AfD-Fraktion daran zurück. „Wie man angesichts von demokratischen Wahlen von Diskriminierung sprechen kann, ist mir schleierhaft. Die Fraktion hat ja keinen Anspruch auf einen Vorsitz, sie hat ein Vorschlagsrecht. Aber das ist nicht gleichbedeutend mit einem Besetzungsrecht“, sagte sie. Selbstverständlich habe die AfD das Recht, jemanden für einen Vorsitz vorzuschlagen, aber die anderen Parlamentarier haben genauso das Recht, ihre Wahlentscheidung zu treffen.
Sie fordert darüber hinaus, die Wahlrechts-Kommission sofort mit der Erarbeitung eines neuen Wahlrechts zu beauftragen. „Es darf auf keinen Fall passieren, dass wir nach der nächsten Wahl wieder einen Anstieg der Abgeordnetenzahl erleben. Wir haben in der Vergangenheit viel zu lange darüber diskutiert, wie Lösungen aussehen könnten. Deshalb muss diese Kommission jetzt zügig ihre Arbeit beginnen, damit wir es diesmal wirklich schaffen und nicht erst in der letzten Kurve der Legislaturperiode ein neues Wahlrecht auf den Weg bringen“, sagte Mihalic.
Das Interview im Wortlaut:
Frau Mihalic, als Erste Parlamentarische Geschäftsführerin haben Sie es mit einer sehr großen Grünen-Fraktion zu tun. Viele Mitglieder sind neu dabei und sehr jung. Was ist zurzeit die größte Herausforderung?
Unsere Fraktion hat sich in der Größe fast verdoppelt. Das ist natürlich erfreulich, sorgt aber gleichzeitig für komplizierte Ausgleichsprozesse. Denn auch die vielen Abgeordneten ohne Parlamentserfahrung sollen ihren Platz neben den erfahrenen Kolleginnen und Kollegen finden und die Möglichkeit bekommen, die Ziele, die sie vertreten, auch umzusetzen. Ich bin froh, dass wir nun alle Fachausschüsse besetzt haben und dabei auch weitgehend den Wünschen der Abgeordneten entsprechen konnten. Die Arbeit in den Ausschüssen kann jetzt beginnen. Wir sind bereit.
Nun ging es in der ersten Woche bei der Konstituierung der Ausschüsse schon recht turbulent zu, ausgelöst dadurch, dass die AfD sich den Vorsitz im Innenausschuss sichern konnte. Warum wollten die Grünen diesen Vorsitz nicht?
Das war keine Entscheidung gegen einen Ausschuss, sondern für einen anderen Ausschuss. Wir hatten eine klare Priorität für den Europaausschuss, weil für uns Grüne gerade die europäische Einigung einfach ein sehr zentrales Element ist. Viele wichtige Themen wie internationaler Klimaschutz, Flucht und Migration und insbesondere die Frage internationaler Zusammenarbeit werden dort verhandelt. Deswegen war uns wichtig, auch dort einen Impuls zu setzen und das mit dem Ausschuss-Vorsitz zu dokumentieren.
Würden Sie im Rückblick sagen, eine andere Lösung wäre besser gewesen?
Die AfD im Bundestag hat das Recht, am Zugriffsverfahren teilzunehmen, wie alle anderen Fraktionen auch. So oder so hätte sie das Vorschlagsrecht für drei Ausschuss-Vorsitze gehabt. Ich bin mir sicher, in jeder anderen Konstellation wäre der Streit der gleiche gewesen. Auch in der letzten Wahlperiode gab es bei der Besetzung des Haushalts- und des Rechtsausschusses massive Bedenken, die sich im Rechtsausschuss dann ja auch bestätigt haben. Selbst beim Europaausschuss fehlt mir jede Fantasie, wie dort die AfD eine verantwortungsvolle Ausschuss-Arbeit gewährleisten soll.
Letztlich stehen aber der AfD-Fraktion drei Ausschuss-Vorsitze zu, die nun alle durch Wahl zunächst nicht zustande kamen. Die AfD spricht von Diskriminierung.
Wie man angesichts von demokratischen Wahlen von Diskriminierung sprechen kann, ist mir schleierhaft. Die Fraktion hat ja keinen Anspruch auf einen Vorsitz, sie hat ein Vorschlagsrecht. Aber das ist nicht gleichbedeutend mit einem Besetzungsrecht. Selbstverständlich hat die AfD das Recht, jemanden für einen Vorsitz vorzuschlagen, aber die anderen Parlamentarier haben genauso das Recht, ihre Wahlentscheidung zu treffen. Das jetzt angewendete Verfahren zeigt: Das Parlament funktioniert. Denn die betroffenen Ausschüsse sind voll arbeitsfähig, weil sie eben nicht führungslos sind, sondern entweder durch stellvertretende Vorsitzende oder das dienstälteste Mitglied geleitet werden.
Streit gab es in dieser Woche auch um die Sitzordnung im Plenum. Können Sie den Ärger der Union verstehen?
Natürlich kann ich das nachvollziehen. Die Union steht auf dem Standpunkt: Wir haben dort schon immer gesessen und es gibt keinen Grund, das zu verändern. Auf der anderen Seite ist auch der Wunsch der FDP nachvollziehbar, die Sitzungsordnung zu verändern. Denn die hat eben nicht immer dort gesessen, wo sie jetzt sitzt und sie war auch eine Zeit lang nicht im Bundestag. Schon als sie dann 2017 wieder eingezogen ist, hat sie für sich reklamiert, eigentlich woanders, also nicht neben der AfD-Fraktion, sitzen zu wollen. Damals hat sich aber die Union mit ihrem Wunsch durchgesetzt. Ein Blick in die Landtage zeigt übrigens: Sitzordnungen sind nicht in Stein gemeißelt und Veränderungen müssen sich auch in der Sitzordnung irgendwo abbilden. Ich finde beide Positionen nachvollziehbar, aber man sollte diese Debatte nicht überhöhen.
Im Koalitionsvertrag heißt es, der Bundestag solle als „Ort der Debatte und der Gesetzgebung“ gestärkt werden. Nun werden hier ja nicht gerade wenige Gesetze beschlossen.
Es geht darum, dass wir auf unser Selbstbewusstsein als Parlamentarier achten wollen. Es darf keine Situation eintreten, in der die Exekutive vorgibt, was im Bundestag beraten und beschlossen wird. Natürlich kennt jeder das Prozedere: Die Bundesregierung erarbeitet Gesetze und bringt diese dann in den Bundestag ein, wo sie verabschiedet werden. Aber wir als Parlament haben selbstverständlich die Möglichkeit, uns weiterhin dazu zu positionieren und eigene Akzente zu setzen.
Als eine der Ampel-Parteien sind die Grünen nun aber auch in einer anderen Rolle, nicht mehr Oppositionspartei.
Aber wir reden hier vom Bundestag als Legislative, als erster Gewalt im Staat. Daraus ergibt sich automatisch ein anderer Anspruch als an die Exekutive, die Regierung. Er bedeutet nicht, in Opposition zur eigenen Regierung zu gehen, das würde auch zu weit gehen. Aber er bedeutet umgekehrt auch nicht, alles durchzuwinken, was von der Regierung kommt. Sondern: Debatte ist wichtig und richtig. Und wenn wir als Koalitionsfraktion der Auffassung sind, dass Dinge noch einmal verändert werden sollten, dann werden wir diesen Anspruch auch einfordern.
Von außen ist ein Gesetzgebungsprozess oft schwer nachzuvollziehen, weil er so komplex ist. Besteht durch die nun angekündigten „neun Formen des Bürgerdialogs“ in diesem Zusammenhang nicht die Gefahr, dass Dinge noch komplizierter und werden?
Das kann passieren. Aber Kompliziertheit ist nicht immer ein Mangel, sondern auch Ausdruck dafür, sich die Zeit zu nehmen, verschiedenste Aspekte in so einen Prozess ausreichend miteinzubeziehen. Wir machen Gesetze für die Menschen und deshalb ist es wichtig zu hören, welche Haltungen es dazu gibt und zu überlegen, wie diese in ein Gesetzgebungsverfahren einfließen können. Das kann dann auch mal kompliziert werden. Aber dafür sind wir als Abgeordnete hier, es dann so zu organisieren, dass am Ende ein anständiges Gesetz dabei rauskommt.
Die Wahlrechts-Kommission soll wieder eingesetzt werden und erneut über eine Verkleinerung des Bundestages beraten. Das Thema scheint ein Dauerbrenner zu werden.
Es darf auf keinen Fall passieren, dass wir nach der nächsten Wahl wieder einen Anstieg der Abgeordnetenzahl erleben. Wir haben in der Vergangenheit viel zu lange darüber diskutiert, wie Lösungen aussehen könnten. Deshalb muss diese Kommission jetzt zügig ihre Arbeit beginnen, damit wir es diesmal wirklich schaffen und nicht erst in der letzten Kurve der Legislaturperiode ein neues Wahlrecht auf den Weg bringen.
Wie gehen Sie eigentlich mit der täglichen Bedrohung im Internet um?
Ich bringe alles konsequent zur Anzeige. Nicht nur, weil ich an einer Strafverfolgung interessiert bin. In den meisten Fällen kann man die Täter nicht ermitteln und dann wird das Verfahren eingestellt. Aber mir ist wichtig, dass diese Dinge sichtbar sind, dass sie aktenkundig sind, Eingang finden in die Kriminalstatistiken und man am Ende das Ausmaß überhaupt abschätzen kann. Nur so kann man dann erkennen, wie ernst man bestimmte Dinge nehmen muss und wo eventuell noch mehr Ungemach droht.