Krisenfrüherkennung in der Außen- und Sicherheitspolitik
Berlin: (hib/LL) Mehr Perspektiven zulassen, eine bessere Forschung ermöglichen, einen nationalen Sicherheitsrat einrichten: Das wären nach Ansicht von Christoph Meyer, Professor für europäische und internationale Politik am King's College London, wichtige Schritte, mit denen Deutschland die Krisenfrüherkennung seiner Außen- und Sicherheitspolitik verbessern könnte. Der Experte sprach als externer Sachverständiger in der öffentlichen Anhörung der Enquete-Kommission Lehren aus Afghanistan für das künftige vernetzte Engagement Deutschlands zum Thema „Krisenfrüherkennung und Fehlerkultur im außen- und sicherheitspolitischen Engagement“ am Montagmittag.
„Nachbetrachtungsfehler des rechtzeitigen Warnens und präventiven Handelns“ nach dem russischen Angriff auf Georgien 2008 hätten zu der russischen Aggression gegen die Ukraine bereits 2013/14 geführt, so Meyer. „Gerade auf der politischen Leitungsebene“ seien damals Warnungen vor der revisionistischen und aggressiven Politik Russlands, vor allem aus den Ost- und mitteleuropäischen Ländern, „weitgehend ignoriert“ worden. Analysten in Deutschland hätten unterschätzt, wie stark Russlands ablehnende Haltung gegenüber der Westintegration der Ukraine ideologisch verwurzelt gewesen sei und dass Moskau bereit sei, „internationales Recht auf eine derart eklatante Weise zu brechen“ wie es durch die Annexion der Krim geschehen sei. Hinzugekommen waren laut Meyer ein Mangel an nachrichtendienstlichen Informationen sowie eine „Anfälligkeit für die russischen Irreführungen und Lügen“.
Zu den tieferen Uraschen dieser Fehleinschätzungen hätten eine „analytische Überfokussierung auf Russland“ sowie die „Annahme konstruktiver Beziehungen“ zu diesem Land gehört. Aus historischen Gründen sowie abgelenkt durch die Ereignisse in Syrien hätten die Politik und die sicherheitspolitische Community in Deutschland die innenpolitische Entwicklung in der Ukraine und das Zusammenspiel zwischen der Ukraine und Russland vernachlässigt. Es fehle Deutschland an einem „gesamtstaatlichen Verständnis für geopolitische Risiken“. Statt „Worst-Case-Szenarien“ zu durchdenken werde „die Wahrscheinlichkeit und Art eines Einsatzes militärischer Gewalt durch andere Staaten systematisch unterschätzt“. Deutsche Außenpolitik lasse sich von einem „Überoptimismus“ leiten und sei schlecht beraten durch „eine unterentwickelte sicherheits- und verteidigungspolitische Expertise im Bereich Strategic Studies“ sowie in den Osteuropawissenschaften. Die damals begangenen Fehler seien nach 2014 nicht ausreichend aufgearbeitet und damit „eine entscheidende Möglichkeit des Lernens und möglicherweise der Prävention“ vertan worden.
Lernen könne man jedoch etwas von Großbritannien, so der Wissenschaftler. Dort habe sich im Lauf der Geschichte, die auch immer wieder eine Geschichte der unangenehmen außenpolitischen Überraschungen gewesen sei, eine „Kultur des Lernens“ und der nachträglichen Untersuchungen etabliert. Eine Folge dieses Lernens sei der Umzug des „Joint Intelligence Committee“ mit seiner Warn-Funktion vom Außenministerium zum Kabinettsbüro als zentralem Entscheidungsorgan der Regierung gewesen. Die Unabhängigkeit des Gremiums sei damit ebenso gestärkt worden wie insgesamt eine „Kultur der konstruktiven Kritik“. Das „Joint Intelligence Committee“ beliefere die politischen Entscheidungsträger „mit den bestmöglichen Einschätzungen und strategischen Warnungen über Bedrohungen der nationalen Sicherheit“.
Die Untersuchungen durch Kommissionen der Regierung und des Parlaments in Großbritannien dienten nicht in erster Linie der Strafverfolgung, sondern zielten auf einen Lerneffekt. Sie stießen zudem auf ein hohes öffentliches Interesse und spielten sich in einem Kontext breiter sicherheitspolitische Expertise ab. Dadurch könne das Land über „immer wieder nachgebesserte Strukturen der nachrichtendienstlichen Analyse und Politikberatung verfügen“. Als oberstes Gremium für Koordination und Strategie habe Großbritannien 2010 zudem einen nationalen Sicherheitsrat eingeführt.
Diese Strukturen seien nicht eins zu eins auf Deutschland übertragbar. „Aber die Funktionen und Kernprinzipien wären sicher geeignet, Schwächen Deutschlands im Bereich Analyse, Warnung, Strategie und Lernen zu mildern.“ Die Strukturen der außen- und sicherheitspolitischen Kooperation in Deutschland bräuchten „eine stärkere strategische Führung und sind in der gegenwärtigen Form nicht leistungsfähig“, stellte Meyer fest. Neben den strukturellen Neuerungen müsse die politische Führung „starke und glaubwürdige Signale“ senden, „dass sie ein starkes Interesse gegenüber dem Lernen auch unbequemer Erkenntnisse hat“. Lernbemühungen seien über Ressortgrenzen hinweg miteinander zu vernetzen und müssten unabhängig von der Leitung umgesetzt werden können. Und schließlich müsse ein Nationaler Sicherheitsrat sich auf eine verlässliche Wissensbasis stützen können. Der Experte schlug vor, eine „ressortübergreifende Abteilung Evaluation und Lernen“ zu schaffen, die Forschung national zu stärken sowie Lernaktivitäten international zu vernetzen.