Brigadegeneral Arlt: Keine Blaupause für andere Missionen
Berlin: (hib/LL) Der 1. Untersuchungsausschuss (Afghanistan) hat in seiner öffentlichen Sitzung am Donnerstag mit Brigadegeneral Jens Arlt, Kommandeur der Evakuierungsoperation in Afghanistan, einen ersten von zwei eingeladenen Zeugen vernommen.
Der Zeuge schilderte zunächst die komplexen und sich rasch wandelnden Rahmenbedingungen des Evakuierungseinsatzes für die deutschen Kräfte aus Kabul im August 2021. Dazu habe auch der knapp bemessene Zeithorizont, bei der Vorbereitung sowie vor Ort, gehört. Die Belastungen für die Einsatzkräfte seien extrem hoch und spezifisch gewesen. Es habe sich nicht um eine klassische Evakuierung gehandelt, sondern um eine Besonderheit. Der Einsatz könne keine Blaupause für andere Missionen sein, so der 54-Jährige.
Viele hätten sich zunächst Illusionen, etwa über einen geordneten Abzug, einen ausreichenden zeitlichen Rahmen oder eine überschaubare Zahl auszufliegender Personen, hingegeben - doch die Zeit dafür sei nicht gewesen. Man habe es mit einem sich beschleunigenden Kollaps, am und rund um den Flughafen von Kabul, zu tun gehabt, während die humanitäre Lage sich zusehends verschlechtert habe.
Bei dem immer breiter werdenden Portfolio, das es zu bedenken gab, und das man vorher nie geübt habe, von der Versorgung mit Babynahrung und fehlenden Treibstoff bis hin zur Sicherung des Flughafenbetriebs, nachdem der dortige Betreiber zusammengebrochen war, und bei der dahinschmelzenden Zeit, habe man stets den Auftrag im Auge behalten: Menschenleben zu retten, und so viele wie möglich aus Afghanistan auszufliegen.
Es habe nicht gelingen können, alle Ortskräfte zurückzuholen, so der Brigadegeneral. Bei der Evakuierung habe es sich um eine Operation unter sehr erschwerten Bedingungen gehandelt, die nicht zu erfüllen gewesen sei. In seiner ganzen Karriere sei ihm nichts vergleichbares passiert.
Die Ausschussmitglieder interessierte vor allem, wann Arlt zu dieser Einschätzung gekommen sei, wie die Informationsflüsse im Ministerium und zur Bundesregierung sowie die Zusammenarbeit mit dem Auswärtigen Amt und den internationalen Partnern waren.
Seitens der Bundesministerin habe er für seine Einsatzleitung vor Ort die nötige operationelle Freiheit für das, was taktisch am Boden abgelaufen sei, gehabt. Ein- bis zweimal täglich habe er mit der Ministerin telefoniert. Dabei habe er keine Befehle empfangen, sondern über die sich wandelnde Lage vor Ort sowie seine Einschätzungen und nächsten Schritte informiert, damit die Leitung ein Gefühl dafür bekomme, was dort passiert.
Arlt schilderte, wie die Planung ausgelöst wurde und die Bereitstellung und Aktivierung der Bundeswehrkräfte erfolgte. Der Zeuge zeichnete das Bild, wie man mit guten Kräften und Abläufen in den schwierigsten Evakuierungseinsatz der Bundeswehr gegangen sei. Vor Ort, im Einsatzgebiet, sei es unberechenbar geworden. Strukturen, die in zwei Jahrzehnten in Afghanistan aufgebaut worden seien, seien plötzlich in sich zusammengestürzt.
Zu Beginn der Evakuierungsmission sei bekannt gewesen, dass man 379 deutsche plus X Ortskräfte ausfliegen sollte, berichtet Arlt. Die Zahlen seien dann jedoch täglich steil angewachsen und der Auftrag präzisiert worden. Täglich habe man vom Auswärtigen Amt aktualisierte Listen Ausreiseberechtigter bekommen. Es sei klar gewesen, dass man auch die sogenannten Ortskräfte habe ausfliegen sollen - jedoch nicht, wie viele. Zuletzt sei von einer fünfstelligen Zahl die Rede gewesen.
Für ihn sei es selbstverständlich gewesen, alle Ausreiseberechtigten zu evakuieren - aber auch: Dass man das, je später, umso weniger, am Ende schaffen würde. An den Tores des Flughafens in Kabul seien die herandrängenden Ausreisewilligen durch multinationale Teams, drunter die Feldjäger, eingelassen und im Inneren des Geländes dann ihre Berechtigung anhand der Listen geprüft worden.
Dieses Verfahren war laut Arlt am Ende nicht mehr haltbar. Man habe schlicht Maschinen voll bekommen müssen, von denen es aber wiederum zu wenige gab, und schließlich gegen alle Regeln verstoßen, einfach um so viele Menschen wie möglich zu retten. Die Sicherheitslage habe sich zunehmende verschlechtert und immer weniger funktioniert auf dem Flughafen. Das Abwasser sei nicht mehr abgepumpt worden, man habe nicht gewusst, wie lange es noch Fluglotsen geben würde und eine Nation nach der anderen habe ihre Flagge eingeholt. Die USA hätten kommuniziert, Afghanistan am 30. August 2021 an die Taliban zu übergeben. Am 26. August sei der deutsche Einsatz mit dem Abheben des letzten Fluges beendet worden. Man habe nicht alle Schutzbefohlenen retten können.
Die Zeugenvernehmung wurde nach einer Unterbrechung am Nachmittag wieder aufgenommen. Als weiterer Zeuge soll noch Jan Hendrik van Thiel, damaliger stellvertretender deutscher Botschafter in Afghanistan, vernommen werden.