Experten werben für Reform sicherheitspolitischer Strukturen
Berlin: (hib/LL) Eine strategischere Herangehensweise des außen- und sicherheitspolitischen Handelns sowie eine gemeinsame Wissens- und Fehlerkultur wäre am besten in einer neu zu schaffenden zentralen Struktur realisierbar, so die Sachverständigen in der öffentlichen Anhörung der Enquete-Kommission „Lehren aus Afghanistan für das künftige vernetzte Engagement Deutschlands“ am Montagmittag.
„Eine strategischere Politik“ Deutschlands habe in Afghanistan gefehlt, stellte Philipp Rotmann, Direktor des Global Public Policy Institute (GPPI) in Berlin, fest. Der Mitteleinsatz sei den gesteckten Zielen nicht gerecht geworden, die einzelnen Instrumente hätten zudem nicht richtig zusammengewirkt. „Um vor Ort wirksamer zu werden, brauchen wir strategischeres Handeln.“Dazu müsse die Exekutive gestärkt werden, die einzelnen Ressorts hätten sich als zu schwach erwiesen. Kein einzelnes Ressort könne diese Leerstelle füllen, keines die Gesamtverantwortung übernehmen, und keines lasse sich auch gerne durch ein anderes führen. Die Praxis des Ressortprinzips habe sich in der außenpolitischen, vernetzten Führung in Krisenkontexten nicht bewährt.
Was gebraucht werde, sei eine „zentrale integrierte Struktur in der Regierung mit politischem Mandat zur strategischen Führung“, die „den entscheidenden Fokus in der Strategieformulierung, in der laufenden Beobachtung der Erfolgsbedingungen und der daraus abgeleiteten regelmäßigen Anpassung der Strategie sicherstellen“ könne. Ein im Rahmen einer Reform der außen- und sicherheitspolitischen Strukturen gestärktes Kanzleramt wäre dort der richtige Ort für diese Funktion, schlug Rotmann vor. Alternativ sei auch ein Sonderbeauftragter der Bundesregierung vorstellbar.
Auch das Parlament brauche einen neuen zentralen Ort, „wo die Gesamtverantwortung für Erfolg oder Scheitern der deutschen Bemühungen um eine bestimmte Krise inhaltlich bearbeitet wird - über die Einzelperspektiven der Fachausschüsse und die politische Rolle des Plenums hinaus“, sagte Rotmann. „Dieser Ort muss das Gewicht haben, regelmäßig Ministerinnen und Minister, Staatssekretärinnen und Staatssekretäre zu befragen und mit ihnen im Vertrauen über strategische Kernfragen zu beraten, ohne dabei auf die Mittel und Perspektiven eines einzelnen Ressorts eingeschränkt zu sein.“ Dazu könne der nächste Bundestag einen „gemeinsamen Ausschuss“ einrichten oder einen der bestehenden Ausschüsse mit dieser Aufgabe betrauen. Fachpolitiker aller beteiligten Handlungsfelder beziehungsweise Fachausschüsse müssten dort Mitglied sein, Doppelmitgliedschaften die Verzahnung festigen.
Die neuen zentralen Stellen müssten künftig eine laufende gemeinsame politische Analyse sicherstellen, institutionelles Lernen einfordern und klären, ob eine Länderstrategie angepasst werden muss. Das „außenpolitische Kontextmonitoring“ des Auswärtigen Amts, das seit 2017 in einigen Krisenregionen durchgeführt werde, sei ein Beispiel dafür, wie es besser gehen könne, so Experte Rotmann.
Für einen „nationalen Sicherheitsrat“ als Ort ressortgemeinsamen und strategischen außenpolitischen Handelns in Krisenkontexten plädierte Robin Schroeder, Berater Sicherheitssektorreform bei der GIZ Stabilisation Platform im Auswärtigen Amt. „Daran mangelte es in Afghanistan.“Deutsche Außen-, Sicherheits- und Entwicklungspolitik verstanden als vernetzter Ansatz in Krisengebieten müsse zudem „in erster Linie Wege finden, das Verhalten von Gewaltakteuren gezielt zu ändern und politische Konfliktlösungen unterstützen“, so der Experte. „Ohne ein Mindestmaß an Sicherheit ist die Umsetzung ziviler Maßnahmen in Krisengebieten schlicht nicht möglich.“ Das gehöre zu den Lehren aus Afghanistan.
Die lokalen staatlichen Sicherheitskräfte vor Ort seien bei einer Stabilisierungsmission „der entscheidende Faktor“. Der Ertüchtigung, Ausbildung, Ausstattung und Reform des militärischen und zivilen Sicherheitssektors komme daher als „essenzieller Teil des vernetzten Ansatzes“ besondere Bedeutung zu.
Dringend geschlossen werden müssten Fähigkeitslücken bei der Ausbildung von lokalen Sicherheitskräften in Krisenkontexten durch Bundeswehr und Polizei, mahnte Schroeder. Diese richtige und wesentliche Aufgabe sei in Afghanistan mit zu wenig Personal angegangen worden. Es müsse künftig gelingen, Sicherheitskräfte durch sehr kleine Kontingente der Bundeswehr auszubilden. Noch schmerzlicher sei die Lücke bei der Polizei. „Die Ausbildung von Polizeikräften im Ausland ist einer der wichtigsten Beiträge zum Schutz der Zivilbevölkerung in Partnerländern.“ Deutschland solle „eine auf Ausbildungsmissionen im Ausland spezialisierte Einheit“ der Polizei oder Bundespolizei aufstellen, „die ausschließlich dafür eingesetzt wird“, schlug der Experte vor.
Das Auswärtige Amt verfolge bereits seit 2014 einen neuen Stabilisierungsansatz im zivilen Engagement in Krisengebieten, der „mit maßgeschneiderten Projekten“ vor Ort darauf ziele, dass lokale Akteure politische Konflikte nicht mehr gewaltsam austragen. Als Bindeglied zwischen Sicherheits- und Entwicklungszusammenarbeit habe ein solcher Ansatz in Afghanistan oft gefehlt, sagte Schroeder. Dabei schaffe eine so erreichte Stabilität erst die Voraussetzungen und Anknüpfungspunkte für eine langfristig wirkende, strukturbildende Entwicklung. Nur auf diesem Nährboden habe auch ein vernetzter Ansatz nachhaltige Erfolgschancen.
Auch um eine ressortübergreifende Wissens- und Fehlerkultur zu fördern, als zentralen Ort strategischen Lernens, hielt Schroeder „einen Bundessicherheitsrat für die vielversprechendste Lösung. In Afghanistan mangelte es am Willen, die politische Komfortzone zu verlassen, um Lehren tatsächlich und wirksam umzusetzen.“Auf der Arbeitsebene lasse sich die bewährte Praxis weiter ausbauen, Austauschbeamte zu entsenden. Die Personalpolitik der Ministerien müsse neben den Generalisten auch auf Spezialisten setzen. „Dies fördert Innovation sowie ergebnis- und lösungsorientiertes Handeln. Hier müssen mehr attraktive Stellen und Karriereperspektiven geschaffen werden“, sagte Schroeder.
Im Anschluss an die Anhörung tagte die Enquete-Kommission in nichtöffentlicher Sitzung und verabschiedete den im vergangenen Halbjahr erarbeiteten Zwischenbericht. In dem rund 250 Seiten starken Dokument analysieren die Abgeordneten und sachverständigen Mitglieder den zwanzigjährigen militärischen und zivilen Einsatz Deutschlands in Afghanistan, um daraus Lehren für die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik zu ziehen.