„Kommen Sie jetzt oder nie!“
Berlin: (hib/CRS) Die Mitglieder des 1. Untersuchungsausschusses Afghanistan haben am Donnerstag einen Bundespolizisten befragt, der zum Zeitpunkt der Evakuierung im Sommer 2021 als Sicherheitsberater an der deutschen Botschaft in der afghanischen Hauptstadt Kabul tätig war. Er erzählte aus seiner Sicht, wie sich die Sicherheitslage in Kabul rund um das Botschaftsgelände vor dem Zusammenbruch der afghanischen Regierung entwickelt hat und wie die Evakuierung des Botschaftspersonals ablief.
Der Ausschuss untersucht die Ereignisse nach dem Abschluss des Doha-Abkommens, in dem die USA und die Taliban den Abzug der US-Truppen aus Afghanistan geregelt haben, sowie die chaotische Evakuierung aus dem Kabuler Flughafen Mitte August 2021.
Der Zeuge, ein erfahrenes Mitglied der Spezialeinheit GSG-9 der Bundespolizei, berichtete von einer sich rapide verschlechternden Sicherheitslage vor Ort. Nach dem Doha-Abkommen hätten die Taliban die internationalen Truppen zwar nicht mehr angegriffen, dafür sei die Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS) wieder erstarkt. Auch sei die Kampfmoral der afghanischen Sicherheitskräfte sehr schlecht gewesen. Städte seien kampflos übergeben worden.
Der Zeuge, der schon zuvor mehrfach in Afghanistan und dem Irak im Einsatz gewesen war, sagte, es sei unter diesen Umständen klar gewesen, dass die Botschaft bald evakuiert werden müsse. Dass viele von der Entwicklung überrascht gewesen seien, könne er nicht nachvollziehen, sagte der Polizist. Denn um Kabul sei es immer enger geworden.
Das Sicherheitskonzept der Botschaft habe sich auf die Aufrechterhaltung der sogenannten Green Zone gestützt, für die die US-Amerikaner verantwortlich waren. Fahrzeuge und Personen seien hier kontrolliert worden. Die deutsche Botschaft habe am Rande dieser Zone gelegen. Mit den Nachbarbotschaften, wie der britischen oder der japanischen, hätten die Deutschen gemeinsame Sicherheitskonzepte entwickelt.
Am Freitag hätten sie erfahren, dass die US-Botschaft innerhalb 48 Stunden geschlossen werden solle. Dafür habe es auch starke Indizien gegeben, meinte der Zeuge. Denn es seien viertelstündlich Chinook-Transporthubschrauber Richtung Flughafen geflogen. Auch andere Botschaften, mit deren Sicherheitsberatern er in engem Kontakt gestanden habe, hätten darauf hingewiesen.
Die Bundesregierung in Berlin habe die Lage jedoch anders eingeschätzt. Der Afghanistan-Sonderbeauftragte der Bundesregierung, Markus Potzel, habe ihm in einer E-Mail die Lage so beschrieben, „dass die Taliban uns nicht feindlich gesinnt“ seien. Potzel habe eher befürchtet, dass eine Gefahr von organisierter Kriminalität ausgehen könne und deshalb ein Team des Kommando Spezialkräfte (KSK) in Aussicht gestellt, jedoch darauf bestanden, dass die Botschaft funktionsfähig bleiben müsse.
Es habe dann auch eine Krisenstabssitzung gegeben. Seinem Eindruck nach habe dort zunächst seine Lagebeurteilung Oberhand gewonnen, weil über Evakuierungsmaßnahmen gesprochen worden sei. Nach einer Rede der stellvertretenden Präsidentin des Bundesnachrichtendienstes habe sich das aber geändert. Es sei entschieden worden, in der Botschaft zu bleiben. Der Gesandte Jan van Thiel habe noch einmal das Wort ergreifen wollen, seine Wortmeldung sei aber nicht mehr zugelassen worden.
Er habe seinen Vorgesetzten bei der Bundespolizei in Berlin daraufhin darüber informiert, dass die Nachbarn abzögen und eine Entscheidung getroffen werden müsse. Dieser habe ihm den Rücken gestärkt und gesagt, wenn er den Eindruck habe, eine Evakuierung sei notwendig, das Auswärtige Amt (AA) dem aber nicht zustimme, solle er die Entsandten in Schutzgewahrsam nehmen und evakuieren. „Das wäre ein sehr ungewöhnlicher Vorgang gewesen“, unterstrich der Polizeibeamte, fügte aber hinzu, dass es dazu nicht kam, weil das ganze Team seiner Meinung gewesen sei.
Am Sonntag sei die Lage noch dynamischer geworden. Die Amerikaner hätten ihn kontaktiert und gefragt, ob die Deutschen noch Unterstützung bräuchten. Als er das bejahte, habe sein Kollege ihm gesagt: „Come now or never!“ („Kommen Sie jetzt oder nie!“). Daraufhin habe er die Belegschaft dazu aufgefordert, unverzüglich mit ihrem Notgepäck bereitzustehen.
Nachdem sie mit US-Hubschraubern zum Flughafen gebracht worden seien, sei ein Teil des Teams ausgeflogen worden. Der andere Teil, darunter auch er, sei zurückgeblieben. Seine Aufgabe sei gewesen, zurückgebliebene Entsandte zu schützen und deutsche Staatsbürger auf das Flughafengelände zu holen.
Es sei eine sehr schwierige Phase gewesen, betonte der Zeuge, weil der Zulauf Richtung Flughafen nicht mehr zu kontrollieren gewesen sei. Im Flughafen selbst habe sich jedoch die Lage zunehmend verbessert.
Bisher sei er in keiner Nachbearbeitungsrunde dabei gewesen, gab der Polizist zu Protokoll. Er sei aber der Meinung, dass die Krisenvorsorge verbessert werden müsse - vor allem die taktisch-operative vor Ort und strategisch-politische in Berlin stimmten nicht überein. Seiner Meinung nach müsse es ein zentrales Organ geben, um diese Diskrepanz zu überwinden.