Experten sehen Nachbesserungsbedarf bei StVG-Novelle
Berlin: (hib/HAU) Bei der von der Bundesregierung vorgelegten Zehnten Novelle des Straßenverkehrsgesetzes (StVG) (20/8293) gibt es Nachbesserungsbedarf. Das zeigte sich im Verlaufe einer öffentlichen Sachverständigenanhörung des Verkehrsausschusses am Montag. Durch die Neuregelung sollen Länder und Kommunen in der Straßenverkehrsordnung (StVO) neben der Flüssigkeit und Sicherheit des Verkehrs künftig auch die Ziele des Klima- und Umweltschutzes, der Gesundheit und der städtebaulichen Entwicklung berücksichtigen können.
Während es aus Sicht des Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Clubs (ADFC) an einer Gleichrangigkeit der neuen Ziele mit dem Ziel der „Leichtigkeit des Verkehrs“ fehlt, forderte der Zentralverband des Deutschen Handwerks (ZDH), dass bei der Schaffung von Bewohnerparkgebieten auch Handwerksbetriebe einen angemessenen Stellraum für ihre notwendigen Fahrzeuge bekommen müssten, wie es auch der Bundesrat in seiner Stellungnahme (20/8678) angeregt hatte. Beklagt wurde zudem von mehreren Sachverständigen, dass der „Vision Zero“ in der Novelle zu wenig Platz eingeräumt werde.
Die Vision Zero, so Stefan Grieger, Hauptgeschäftsführer des Deutschen Verkehrssicherheitsrates (DVR), verfolge das Ziel, dass niemand durch einen Verkehrsunfall getötet oder schwer verletzt werden soll. Ein Anspruch auf ein höchstmögliches Schutzniveau bestehe demnach unabhängig von der Art der Verkehrsteilnahme. Dieses Ziel sollte seiner Ansicht nach, im Einklang mit dem grundgesetzlichen Schutzauftrag für Leben und körperliche Unversehrtheit, im StVG für das gesamte nachgeordnete Verkehrsrecht klargestellt werden. „Am besten in Paragraf 1 StVG im Sinne eines Obersatzes“, sagte er.
„Der ADAC spricht sich für eine Beibehaltung des Prinzips der Gefahrenabwehr als vorrangiges Ziel des StVG aus“, sagte Gerhard Hillebrand, Verkehrspräsident des Allgemeinen Deutschen Automobil-Clubs. Dem folge der Entwurf aber nicht, weil er weitere gleichrangige Ziele zur Verbesserung des Umweltschutzes, darunter auch des Klimaschutzes, zum Schutz der Gesundheit oder zur Unterstützung der städtebaulichen Entwicklung vorsehe. Diese Zielsetzungen seien aber in anderen rechtlichen Grundlagen bereits hinreichend vorhanden.
Eine stärkere Ausrichtung an der Vision Zero im Sinne einer Gefahrenvorsorge, „damit Maßnahmen zur Verbesserung der Verkehrssicherheit bereits präventiv ergriffen werden können und nicht erst bei einer nachteiligen Entwicklung des Unfallgeschehens“, forderte auch Thomas Kiel d'Aragon als Vertreter des Deutschen Städtetages und der Bundesvereinigung der kommunalen Spitzenverbände. Er sprach von einer sehr eingeschränkten Verordnungsermächtigung. Es sei nicht die Ermächtigung für die Änderung der Straßen-Verkehrsordnung (StVO), sondern ermächtige lediglich zum Erlass einzelner Bestimmungen, die Klimaschutz, Gesundheit und städtebauliche Entwicklung beinhalteten. „Das ist nur eine ganz kleine Schublade“, sagte der Kommunalvertreter.
Auch Markus Brohm vom Deutschen Landkreistag sieht die Entscheidungsmöglichkeiten für die kommunale Ebene durch den Entwurf nicht als gestärkt an. Brohm nannte es ebenfalls dringend erforderlich, die Vision Zero im Gesetz zu verankern, wie es auch der Bundesrat gefordert habe. Maßnahmen zugunsten des Rad- und Fußverkehrs müssten vorsorgend, begleitet durch Geschwindigkeitsbegrenzungen flankiert werden dürfen - „innerorts wie außerorts“, betonte Brohm.
ZDH-Vertreter Carsten Benke sagte, wenn es keine Möglichkeiten zum Abstellen von gewerblichen Fahrzeugen gibt, führe das zu konkreten Verdrängungen ansässiger Betriebe, was dem Leitbild der verkehrsreduzierenden nutzungsgemischten Stadt widerspräche. Der wichtige Anteil des Handwerks bei Erhalt, Entwicklung und Versorgung nachhaltiger Siedlungsstrukturen sollte sich deshalb angemessen im Straßenverkehrsrecht widerspiegeln, sagte er.
Der Umwelt- und Gesundheitsschutz dürfe nicht über die Sicherheit und Leichtigkeit des Verkehrs gestellt werden, sagte Professor Michael Brenner, Verfassungsrechtler der Friedrich‐Schiller Universität Jena. Es bleibe schließlich das Straßenverkehrsrecht „und öffnet nicht alle Schleusen für das Umweltrecht oder den Schutz der Gesundheit“. Die Belange müssten in einen gerechten Ausgleich gebracht werden, sagte er.
Die Gesetzgebung müsse die Verkehrswende unterstützen, forderte Angela Kohls, Leiterin Verkehrspolitik beim ADFC. Der Mensch und seine Interessen müssten im Mittelpunkt stehen, „nicht das Kraftfahrzeug“. Kommunen müssten ohne bürokratischen Hürdenlauf verkehrsberuhigte Bereiche, sowie Fußgängerwege und lückenlose Radwegenetze einrichten können. Auch an Hauptverkehrsstraßen müssten Tempo 30-Regelungen möglich sein, ohne sich an Unfallzahlen oder einer Gefahr für Leib und Leben orientieren zu müssen, befand Kohls. Der Gesetzentwurf springe aber viel zu kurz, „weil er nicht die erforderliche Abkehr vom Sicherheits- und Ordnungsrecht in erster Linie vornimmt“.
Von einem Schritt in die richtige Richtung sprach der Rechtsanwalt Roman Ringwald. Dem Gesetzentwurf gehe es nicht darum, die althergebrachten Gesichtspunkte der Sicherheit und der Leichtigkeit des Verkehrs hinwegzufegen. Es gehe vielmehr darum, die verschiedenen Aspekte, die sich in der Lebenswirklichkeit stellten, „gesetzlich ernst zu nehmen“. Dafür liefere die Neuregelung eine ganz deutliche Verbesserung des Status quo, sagte Ringwald. In einem zweiten Schritt müsse nun die StVO so angepasst werden, „dass vor Ort anders und freier entschieden werden kann“.
Nach Auffassung von Professor Stefan Klinski von der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin sind Belange des Umwelt- und Klimaschutzes, der Gesundheit und der städtebaulichen Entwicklung von der Gesetzgebungskompetenz „Straßenverkehr“ mit umfasst. Die Kompetenznorm umfasse nicht nur die Abwehr und Verminderung von Gefahren innerhalb des Straßenverkehrs, sondern auch von Gefahren, die vom Straßenverkehr ausgehen. Verfassungsrechtlich sei die Berücksichtigung von Klimaschutzbelangen sogar geboten, befand er.