27.09.2023 Umwelt, Naturschutz, nukleare Sicherheit und Verbraucherschutz — Anhörung — hib 697/2023

Geteiltes Experten-Echo auf geplante EU-Luftqualitätsnovelle

Berlin: (hib/SAS) Die Pläne der EU-Kommission für eine Überarbeitung der geltenden EU-Luftqualitätsrichtlinie stoßen auf ein geteiltes Echo der Experten. Das zeigte eine öffentliche Anhörung im Umweltausschuss am Mittwoch. Anlass für die Befassung mit dem Thema war ein Antrag CDU/CSU-Fraktion, in dem sie auf eine Verschiebung neuer EU-Vorschriften zur Luftqualität dringt (20/7354).

In der Anhörung teilten die Sachverständigen grundsätzlich das Ziel der EU-Kommission, die Luftqualität zu verbessern, doch hielten vor allem Vertreter aus Industrie und Wirtschaft die angestrebten schärferen Grenzwerte für zu streng. Die Auswirkungen könnten den Standort Deutschland gefährden, so ihr Urteil. Mediziner und Umweltverbände hingegen sahen in strengeren Vorschriften einen längst überfälligen Schritt, um Gesundheit und Umwelt vor Luftverschmutzung zu schützen.

So verwiesen Emma Bud von der Umweltrechtsorganisation ClientEarth und Dorothee Saar von der Deutschen Umwelthilfe auf die jährliche Zahl rund 29.000 vorzeitigen Todesfällen aufgrund Feinstaub und weiteren 10.000 aufgrund erhöhter Stickstoffdioxidkonzentrationen in Deutschland. Krankheiten durch Luftverschmutzung seien kein individuelles gesundheitliches Problem, sondern verursachten auch immense volkswirtschaftliche Schäden, argumentierte Saar. Es brauche daher niedrigere Grenzwerte entsprechend der Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Die seit 2008 geltende EU-Luftqualitätsrichtlinie habe zwar in der Vergangenheit zu deutlichen Verbesserungen der Luftqualität geführt, sei aber nicht mehr ausreichend, so Bud. Die Bundesregierung solle sich auf EU-Ebene für eine Überarbeitung einsetzen. Orientieren sollten sich die EU-Mitgliedstaaten dabei an der strengeren Verhandlungsposition des Europaparlaments. Eine Anpassung der Grenzwerte dürfe zudem nicht erst 2030, wie von der EU-Kommission geplant, erfolgen.

Demgegenüber warnten Wirtschaftsvertreter vor den Folgen strengerer und zu früh geltender neuer Vorschriften: Hauke Dierks von der Deutschen Industrie- und Handelskammer (DIHK) erinnerte an die Situation drohender Fahrverbote für Dieselfahrzeuge in den Jahren 2018/2019. Dieses „Drama“ drohe sich zu wiederholen, wenn nicht „realistische Zeiträume“ zur Einhaltung von Grenzwerten eingeplant würden. Viele Unternehmen seien bei Nutzfahrzeugen und Wärmeerzeugung noch weit über das Jahr 2030 auf fossile Brennstoffe angewiesen. Daher seien die Ziele der EU-Kommission auch erst nach 2030 erreichbar.

Auch Peter Müller-Baum vom Verband Deutscher Maschinen- und Anlagenbau, und Puya Raad, der für den Industriekonzern Thyssenkrupp sprach, hielten die Zeitschiene zur Umsetzung für zu kurz und „überambitioniert“. Die von der EU-Kommission geplante Verschärfung der Luftqualitätsrichtlinie drohe die notwendige Klimatransformation der Industrie zu behindern. Folge davon könnten Standortverlagerungen ins Ausland, Anlagenstilllegungen und der Verlust vieler „gut bezahlter“ Arbeitsplätze sein, sagte Raad. Noch deutlicher wurde Müller-Baum: Wenn Zulassungen von Anlagen mit Blick auf Emissionen erschwert oder gar verhindert würden, befördere das die „Deindustrialisierung Deutschlands“.

Zu einer angemessenen Übergangsfrist frühestens ab 2040„ für strengere Grenzwerte riet auch Annette Giersch vom Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI). Sie machte deutlich, dass der BDI derzeit keine Notwendigkeit für eine “Revision„ der bestehenden und “sehr erfolgreichen„ europäischen Luftqualitätsrichtlinie sehe. Die EU verfolge eine Vielzahl von Gesetzgebungsvorhaben, die dazu beitrügen, die Luftqualität zu verbessern. Zugleich warnte Giersch vor weitergehenden Klage- oder Schadensersatzvorschriften: Diese sorgten für Planungsunsicherheit bei Behörden und bedeuteten letztlich auch finanzielle Risiken für den Staat.

Diese Gefahr sah auch Christine Wilcken vom Deutschen Städtetag. Sie betonte zwar, Städte und Kommunen unterstützten bereits Bemühungen für Gesundheitsschutz und bessere Luftqualität - etwa durch Tempolimits oder den Ausbau von Radwegen. Doch sie appellierte, die Kommunen nicht zu überfordern. Deren Möglichkeiten seien begrenzt und vielfach bereits ausgeschöpft. Sie rief dazu auf, alle Sektoren in den Blick zu nehmen, um Emissionen “an der Quelle„ zu begrenzen. Zudem müssten “örtliche und überörtliche Bedingungen„ in Städten, wie etwa Fluss- oder Tallagen oder Schiffsverkehr berücksichtigt werden.

Die Einzelsachverständigen Gerhard Scheuch und Martin Schraag sahen keinen Bedarf für eine Verschärfung der Grenzwerte für Luftschadstoffe. Für die von Epidemiologen angeführten Gesundheitsprobleme, die auf Feinstaub zurückzuführen seien, gebe es nicht genügend Beweise, so der Aerosolphysiker Scheuch. Ohnehin erreiche die nicht vom Menschen verursachte Feinstaubkonzentration in vielen Gegenden der Welt Werte, die weit über dem von der EU-Kommission vorgeschlagenen Grenzwert lägen. Martin Schraag von der Gesellschaft Fortschritt in Freiheit zog die Herleitung der von der WHO empfohlenen Grenzwerte in Zweifel: Es müsse geklärt werden, warum die Weltgesundheitsorganisation “plötzlich„ Ergebnisse etablierter Studien durch auf epidemiologischen Modellrechnungen beruhenden Studien “überschreibe„.

Demgegenüber erklärte die Epidemiologin Annette Peters, Direktorin des Helmholtz Zentrums München, dass die Novellierung der Grenzwerte aus Sicht der Gesundheitswissenschaft ein “längst überfälliger Schritt„ sei. Die wissenschaftliche Evidenz habe sich seit den Empfehlungen der WHO sogar noch weiter erhärtet. Große Studien in Europa und den USA untermauerten den Befund, dass Schadstoffkonzentrationen oberhalb der von der WHO empfohlenen Richtwerte das Mortalitätsrisiko steigerten. Peters betonte auch den Beitrag besserer Luftqualität auf die Eindämmung der Folgen des Klimawandels: Niedrigere Luftschadstoffbelastungen verringerten auch gesundheitliche Auswirkungen von Hitze.

Eindringlich warnte auch die Umweltmedizinerin Barbara Hoffmann von der Universität Düsseldorf vor den Folgen der weiterhin hohen “Krankheitslast„ durch Luftverschmutzung in Deutschland. Die Luftverschmutzung nur durch Feinstaub stehe auf Platz acht von 52 der wichtigsten Risikofaktoren, betonte Hoffmann. “Wir nehmen für kein anderes essentielles Lebensmittel eine derartige Krankheitslast in Kauf.„ Die Folgen seien sehr teuer, so die Sachverständige - für den Einzelnen und die Gesellschaft. Jedes Jahr entstünden in der EU gesundheitsbezogene Kosten in Höhe mehrerer Hundert Milliarden Euro. Demgegenüber könne eine Verbesserung der Situation zu wirtschaftlichem Wachstum führen, hob Hoffmann hervor. Die EU-Kommission rechne bei schnellstmöglicher Angleichung an die WHO-Richtwerte mit einem Wachstum von 0,4 Prozent.

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