Expertin: Deutschlandticket „Revolution mit Schwächen“
Berlin: (hib/HAU) Die geplante Einführung eines Deutschlandtickets für den öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) stieß bei den zu einer öffentlichen Anhörung des Verkehrsausschusses am Mittwoch geladenen Sachverständigen auf Zustimmung. Kritik gab es aber an der gesetzlichen Ausgestaltung. Der Koalitionsentwurf zur Novellierung des Regionalisierungsgesetzes (20/5548) weise erhebliche Regelungsdefizite auf, kritisierte unter anderem Markus Brohm vom Deutschen Landkreistag als Vertreter der Bundesvereinigung der kommunalen Spitzenverbände. Mehrere Sachverständige warnten zudem vor einem Flickenteppich, da bislang nicht klar sei, wer den in Rede stehenden Tarif von monatlich 49 Euro tatsächlich anordnet. Bemängelt wurde außerdem ein fehlender Sozialtarif.
Mit dem Gesetzentwurf werde eine dauerhafte Ausfinanzierung des Deutschlandtickets nicht gewährleistet, kritisierte Kommunalvertreter Brohm. Lediglich für das Restjahr 2023 sei ein vollständiger Ausgleich der Einnahme- und Anlaufverluste durch den rabattierten Ticketpreis vorgesehen. Dieser sei im derzeitigen Stand aber europarechtlich noch nicht abgesichert. Das beihilferechtliche Risiko, bis hin zum Insolvenzrisiko, belaste die Verkehrsunternehmen und die kommunalen Aufgabenträger, sagte Brohm. Seiner Auffassung nach ist derzeit eine flächendeckende Anwendung und Anerkennung des Deutschlandtarifs nicht sichergestellt. Es gebe keinen „Anwendungsbefehl“. Stattdessen solle der Deutschlandtarif freiwillig durch Antrag der Aufgabenträger und Verkehrsunternehmen eingeführt und angewandt werden.
Carry Buchholz, Geschäftsführende Gesellschafterin des Familienunternehmens LVL Jäger GmbH und Mitglied im Vorstand des Verbandes Baden-Württembergischer Omnibusunternehmen (WBO), machte deutlich, dass die eigenwirtschaftlichen Verkehre auf die Fahrgeldeinnahmen angewiesen seien. „Wenn ich an den 1. Mai denke, an dem der Deutschlandtakt eingeführt werden soll, wird mir Angst und Bange, weil ich nicht weiß, wie unser Verkehr finanziert werden soll“, sagte sie. Schon durch Corona sei ihr Unternehmen gebeutelt worden. Auch da habe man „nicht alles ausgeglichen bekommen, was ausgeglichen gehört“. Buchholz machte den Abgeordneten gegenüber deutlich: „Es ist Ihre Aufgabe, das für uns zu lösen, weil Sie das Ticket beschließen.“ Derzeit wolle aber keiner in die Finanzierungsverantwortlichkeit für die vollen Kosten gehen, kritisierte sie.
Auch Christiane Leonard, Hauptgeschäftsführerin beim Bundesverband Deutscher Omnibusunternehmen (BDO), forderte eine Tarifvorgabe. Eine solche gebe es weder vom Bund noch von den Ländern. Ohne diese gebe es aber keine beihilferechtlich sichere Finanzierung, sagte Leonard. Bund und Länder müsste daher in Paragraf 9 des Regionalisierungsgesetzes die Festsetzung des Höchsttarifs festlegen und sicherstellen, „dass zumindest bei eigenwirtschaftlichen Verkehren und bei Nettoverträgen allgemeine Vorschriften erlassen werden“.
Norbert Mauren vom Verband Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV) hält indes die in Paragraf 9 enthaltene Genehmigungsfiktion für ausreichend. Damit müssten die Städte, Kommunen und Landkreise den neuen Tarif nicht überall individuell genehmigen. Auch die Sorge vor einem Flickenteppich teilte Mauren nicht. Die Länder seien aktuell dabei, sich auf einheitliche Tarifbestimmungen zu verständigen, sagte er. Der VDV begrüße auch, „dass der Preis für das Deutschlandticket lediglich für den Zeitpunkt seiner Einführung auf einen Betrag von 49 Euro pro Monat gesetzlich festgeschrieben wird“. Es werde zu erheblichen jährlichen Mindereinnahmen führen. Daher sollte der Preis mit Blick auf die weiterhin steigenden Personalkosten und Energiepreise auf keinen Fall dauerhaft „eingefroren“ oder aufgrund kurzfristiger politischer Opportunitäten gar gesenkt werden.
Kerstin Haarmann, Bundesvorsitzende des Verkehrsclubs Deutschland (VCD) beklagte eine „soziale Schieflage“. Ein Preis von 49 Euro sei im Vergleich zu bisherigen Abo-Preisen - gerade im ländlichen Raum - sehr gut. Dennoch sei er für viele Menschen aus einkommensschwachen Haushalten nicht erschwinglich. Es brauche daher einen bundesweit einheitlichen Ermäßigungstarif, da ansonsten ein neuer Flickenteppich aus Sozial- und Jugendtickets erwartbar sei. Aus Sicht Haarmanns fehlt auch eine Perspektive für den ÖPNV-Ausbau. Diese hätte der Bund durch finanzielle Planungssicherheit für die Aufgabenträger geben müssen. „Dazu bräuchte es jedoch eine deutliche Erhöhung der Regionalisierungsmittel“, betonte sie.
Von einer „Revolution des ÖPNV“, die aber noch Schwächen habe, sprach die Soziologin Claudia Hille von der Fachhochschule Erfurt. Auch sie bemängelte, dass der Entwurf kein bundesweit einheitliches Angebot eines vergünstigten Sozialticket für Menschen mit sehr niedrigen Einkommen vorsehe. Es sei absehbar, dass diese Personengruppe, ebenso wie Menschen im Transferleistungsbezug, nicht in der Lage seien, den avisierten Preis des Deutschlandtickets von 49 Euro pro Monat dauerhaft zu finanzieren. Darüber hinaus müsse grundsätzlich auch die Höhe der im Gesetzentwurf festgeschriebenen Regionalisierungsmittel kritisch hinterfragt werden. Der benötigte ÖPNV-Ausbau bedürfe einer deutlichen Erhöhung finanziellen Mittel, sagte Hille.
Anna-Theresa Korbutt, Geschäftsführerin beim Hamburger Verkehrsverbund, machte deutlich, dass Deutschland in Sachen Einheitlichkeit des Tarifsystems Nachholbedarf habe. Die umliegenden deutschsprachigen Länder wie die Schweiz und Österreich hätten ihre Tarifsysteme mehrheitlich harmonisiert und überregional bundesweite Angebote und Vertriebssysteme geschaffen. Mit der Einführung des ÖPNV-bundesweiten Deutschlandtickets werde nun ein erster Schritt für die Konsolidierung von Tarifsystemen und Vertriebslandschaften gelegt, was zu begrüßen sei. Korbutt ging auf die mit dem Neun-Euro-Ticket im vergangenen Sommer gemachten Erfahrungen ein. Es sei zu einer signifikanten Verlagerung der Nachfrage vom Pkw zu Bussen und Bahnen gekommen, sagte sie. Auch habe sich gezeigt, dass nicht nur die Stadt selber sondern auch die Menschen im ländlichen Raum davon profitiert hätten.
Die Fälschungssicherheit des Deutschlandtickets thematisierte Matthias Stoffregen, Geschäftsführer von mofair, dem Bündnis für fairen Wettbewerb im Schienenpersonenverkehr. Hier müsse es Lösungen geben, da der Sektor nicht noch mehr Mindereinnahmen hinnehmen könne. Es werde also auch weiterhin Fahrausweiskontrollen geben, sagte Stoffregen. Dazu müssten verschiedene Dinge sichergestellt sein. Beispielsweise sollten die Layouts des Tickets einheitlich sein und müssten die Sicherheitsmerkmale so gestaltet sein, „dass das kontrollierende Verkehrsunternehmen eine Fahrausweisfälschung als solche erkennt“. Eine bundesweite Sperrliste für im Abo ausgegebene, aber nicht bezahlte Tickets gebe es derzeit nicht, sagte er. Verbundübergreifende Kontrolle seien in den vergangenen Jahren immer wieder einmal konzeptionell und in Projekten vorgedacht worden, seien aber nicht bis zur Serienreife gekommen. „Das muss sich jetzt schnell ändern“, forderte Stoffregen.
Der Bund dürfe die Fehler des Neun-Euro-Tickets nicht wiederholen, fordert Matthias Pippert von der Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) in seiner Stellungnahme. Der Erfolg des Neun-Euro-Tickets sei auf dem Rücken der Beschäftigten erreicht worden, die den Fahrgästeansturm im Arbeitsalltag bewältigen mussten. Das dürfe sich beim 49-Euro-„Deutschlandticket“ nicht wiederholen. Auch das Deutschlandticket werde dazu führen, dass die Auslastung des öffentlichen Verkehrs weiter zunimmt. Es sei zwingend notwendig, dass sich die Verkehrsunternehmen adäquat auf den möglichen Ansturm vorbereiten können, wofür auch das kooperative Engagement der Aufgabenträger notwendig sei.