Evakuierung in Afghanistan war laut Zeugen robuste Operation
Berlin: (hib/CRS) Der 1. Untersuchungsausschuss Afghanistan hat gestern in den Abendstunden die Befragung des Brigadegenerals Ansgar Meyer fortgesetzt. Meyer, der den Abzug der deutschen Truppen aus Afghanistan organisiert und durchgeführt hat, betonte, die Truppen seien in der Phase des Abzugs im Prinzip sehr verwundbar, daher müsse die Zeit sehr kurz gehalten werden. Dennoch sei die Sicherheit des deutschen Kontingents in Afghanistan sichergestellt gewesen - unter anderem auch durch die enge Kooperation mit niederländischen Truppen. Auch habe die Führung des deutschen Kontingents die Lage sehr früh und sehr offen kommuniziert.
Zu diesem Zeitpunkt habe man täglich 120 bis 140 Zwischenfälle im ganzen Land registriert. Auch im Norden, wo die Bundeswehr unter den internationalen Truppen die Führungsrolle inne hatte, sei die Sicherheitslage angespannt gewesen. Die Taliban hätten zwar keine große Flächen kontrolliert, seien jedoch in der Lage gewesen zu entscheiden, wo sie zuschlagen: „Das hat sie unberechenbar gemacht.“
Als er den damaligen Außenminister Heiko Maas in Afghanistan getroffen habe, sei davon ausgegangen worden, dass die afghanische Armee nach dem Abzug internationaler Truppen mittelfristig nicht dagegen halten könne. „Mittelfristig“ sei ein Jahr, erklärte der Brigadegeneral auf Nachfrage der Abgeordneten.
Meyer beschrieb die Rückverlegung des deutschen Kontingents als „sehr emotionale Angelegenheit“. Viele der Soldatinnen und Soldaten seien mehrmals in Afghanistan im Einsatz gewesen und hätten gewusst, dass sie das Land wahrscheinlich zum letzten Mal verließen.
Die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel habe ihm persönlich den Auftrag gegeben, einen geordneten Rückzug zu organisieren und durchzuführen. Zumindest den militärischen Teil dieses Auftrages hätten sie erfüllt. Wenige Wochen später habe er jedoch im Fernsehen „Saigon gesehen“, wie Meyer es ausdrückte. Das sei für ihn ein Schock gewesen.
Es sei ihm keineswegs gleichgültig gewesen, die für Ende Juni geplanten Charterflüge für die Ortskräfte der Bundeswehr letztendlich zu stornieren. Er sei damals zuversichtlich gewesen, dass es noch möglich sein würde, die Ortskräfte, sobald alles geregelt sei, mit kommerziellen Flügen außer Landes zu bringen. Es sei damals noch nicht klar gewesen, wie man mit den Ortskräften umgehen sollte. „Das war noch in der Mache“, sagte Meyer. Man habe keine falschen Erwartungen wecken wollen.
Anschließend trat ein Oberstleutnant der Bundeswehr als Zeuge vor dem Ausschuss auf, der die Evakuierungsoperation in Afghanistan geplant hat. Er informierte die Abgeordneten über die Modalitäten bei der Planung und Durchführung von Evakuierungsoperationen.
Als Beauftragter für Krisen- und Risikomanagement sei es seine Aufgabe, die Grundlagen zu legen für die Evakuierung deutscher Staatsbürger aus Krisengebieten, aber auch von Europäern und Staatsangehörigen anderer Staaten, mit denen es diesbezügliche Abkommen gebe. Außerdem sei er verantwortlich für die Vorbereitung dieser Operationen, für die Aufstellung dazu notwendiger Kräfte und für Eventualfallplanungen.
Der 57-jährige Berufssoldat, der seit 2011 diesen Job macht, erklärte, er sei an der Vorbereitung des Abzugs und der Evakuierungsoperation in Afghanistan beteiligt gewesen, habe aber seinen Standort in Deutschland nicht verlassen.
Vor einem Abzug müssten Vorbereitungen und Absprachen mit anderen Staaten getroffen werden, da man grundsätzlich ein Gastland brauche, in das die Truppen zunächst ausgeflogen würden. Der Abzug sei im Frühjahr 2021 geplant worden.
Bei der Planung von Evakuierungsoperationen wisse er nie, ob es sich um militärisches Personal oder Zivilisten handele, berichtete der Zeuge. Diese Operationen seien immer ressortübergreifend. Zur Planung werde ihm eine Personenzahl genannt. Wer genau auf der Liste stehe, wisse er nicht, die Einsatzkräfte müssten die Liste jedoch haben, um die Identitäten der Evakuierenden zu überprüfen. Diese Vorgaben kämen vom Auswärtigen Amt.
Es gebe drei Operationsoptionen: Die schnelle Luftabholung, die der Zeuge auch diplomatische Abholung nannte, weil diese in der Verantwortung des Auswärtigen Amtes liege. Die zweite Option sei die schnelle Luftevakuierung, die anders als die erste Option militärisch sei. Die dritte Option, die robuste Evakuierung, sei bei der Operation in Kabul angewandt worden. Dafür sei „eine gewisse Durchsetzungsfähigkeit notwendig“ - also mehr Personal und mehr Transportmittel.
In Kabul habe man gedacht, die Botschaft könne angeflogen oder angefahren werden. Beides sei letztendlich nicht möglich gewesen. Ja nach Lage müssten die Planungen immer angepasst werden. Das gelte auch, was die Personenzahl angeht. Ihre Zahl könne sich verringern, aber auch, wie es in Afghanistan der Fall gewesen sei, erheblich erhöhen. Letztendlich habe die geplante Evakuierung in Afghanistan in leicht abgewandelter Form stattgefunden.
Als die Ausschussmitglieder fragten, warum es vier Tage in Anspruch nahm, die Flugzeuge nach Afghanistan zu schicken, obwohl die Luftwaffe signalisiert habe, die Maschinen seien flugbereit, erklärte der Zeuge, die für die Operation notwendige Kräfte hätten zum Teil aus dem Urlaub zurückgeholt werden müssen. „Die Zusage, dass die Maschinen fliegen können, ist eine Sache“, sagte der Oberstleutnant, „aber die Kräfte müssen auch am Flughafen sein.“ Am dritten Tag seien die Kräfte in die Bereitschaftsräume gebracht worden, während weitere Vorbereitungen getroffen wurden. Schließlich seien die Maschinen am vierten Tag, wie vorgegeben, abgeflogen. Dass es so lange gedauert habe, könne auch an der Luftraumfreigabe gelegen haben, meinte der Zeuge. Unter Berücksichtigung der dynamischen Lage in Afghanistan und der Urlaubsphase seien vier Tage Vorlauf für die Evakuierungsoperation nicht lang gewesen.
Die Einsatzkräfte hätten die Vorgabe gehabt, nur diejenigen zu evakuieren, die auf der Liste standen und ihre Identität nachweisen konnten. „Der Soldat vor Ort entscheidet nicht“ sagte er. Die Vorgaben würden an anderer Stelle gemacht und vor Ort umgesetzt. Persönlich könne er sich jedoch vorstellen, dass man von den Vorgaben abweichen könne, weil man menschlich sagen könne, das gehe so nicht.
Der Zeuge berichtete außerdem, die Operation in Kabul sei bereits evaluiert worden, weil Handlungsbedarf gesehen wurde.
Der Untersuchungsausschuss hat in den späten Abendstunden einen Mitarbeiter des Bundesnachrichtendienstes in einer geheim eingestuften Sitzung angehört, der einige Wochen zuvor bereits in einer nicht-öffentlichen Sitzung ausgesagt hatte.