Experte: Gefühl von Ungerechtigkeit stark verbreitet
Berlin: (hib/HAU) Rund dreiviertel der Deutschen schätzen die Verteilungsgerechtigkeit in Deutschland sehr skeptisch ein. Das machte Kai Unzicker, Senior Project Manager Demokratie und Zusammenhalt bei der Bertelsmann Stiftung, unter Verweis auf eine im Jahr 2022 gemeinsam mit dem IFO-Institut durchgeführte Studie am Mittwochabend vor dem Parlamentarischen Beirat für nachhaltige Entwicklung deutlich. „43 Prozent bewerten die sozialen Unterschiede als ungerecht, 77 Prozent der Befragten sagen, die wirtschaftlichen Gewinne würden ungerecht verteilt und 60 Prozent sind der Ansicht, dass die Entlohnung in Deutschland nichts mit der eigenen Leistung zu tun hat“, sagte Unzicker.
Zu der öffentlichen Sitzung war auch Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, geladen. Schneider verteidigte vor den Abgeordneten die Armutsdefinition, die all jene erfasst, die mit weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens auskommen müssen und wandte sich gegen herabsetzende Kritik an Hartz IV-Empfängern.
„Das Gerechtigkeitsempfinden ist in Deutschland insgesamt gering ausgeprägt“, sagte Unzicker zu Beginn der Sitzung. 62 Prozent der Befragten gingen davon aus, dass Reichtum in Deutschland im Allgemeinen vom Glück beziehungsweise dem Elternhaus abhängt. Anders hätten dieselben Befragten das Zustandekommen des eigenen Wohlstands bewertet. 75 Prozent hätten geäußert, dieser sei das Ergebnis harter Arbeit, so der Vertreter der Bertelsmann Stiftung.
Ebenso skeptisch wie bei der Verteilungsgerechtigkeit sei das Bild bei der Generationengerechtigkeit. Zwei Drittel hielten letztere für nicht gegeben. Lediglich ein Drittel schätze die Chancen der jungen Generation auf dem Arbeitsmarkt und beim Wohlstand vergleichbar mit denen älterer Generationen ein. „Zugespitzt könnte man sagen: Zwei Drittel glauben nicht mehr, dass das Aufstiegsversprechen gilt - dass es also der neuen Generation besser geht als der bisherigen“, sagte Unzicker. „Das Gefühl von Ungerechtigkeit ist in der Gesellschaft stark verbreitet“, konstatierte er.
Eine gerechte Gesellschaft, in der denen geholfen wird, die eine besondere Notlage oder einen besonderen Bedarf haben, befürworteten der Studie zufolge 95 Prozent der Befragten. 85 Prozent unterstützten zugleich das Leistungsprinzip, wonach mehr bekommen soll, wer auch mehr leistet. Das am Ende alle das Gleiche haben sollen, befürworteten indes nur 54 Prozent. „Die Grundprinzipien sozialer Marktwirtschaft werden in der Bevölkerung stark geteilt“, sagte Unzicker.
In einer nachhaltigen Gesellschaft, so der Hauptgeschäftsführer des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, müssten die Grundbedürfnisse der Menschen gestillt werden, die es selber nicht können. Es brauche eine kohärentere Gesellschaft, die schlussendlich auch resilienter sei, so Schneider. Die Hebel dafür seien eine anspruchsvolle Wohnpolitik, die Sicherheit schafft, Ressourcenverteilung, also Arbeitsmarkt- und Lohnpolitik, „aber auch Transferleistungen“, und letztlich die Altersversorgung.
Die Menschen bräuchten Aufstiegsperspektiven, sagte Schneider. Bei Pflegekräften beispielsweise seien diese nicht gegeben. Selbst eine Leitungsfunktion in diesem Bereich werde in Deutschland „unterdurchschnittlich bezahlt“.
Der Hauptgeschäftsführer des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes sprach zudem von einer Altersarmutsquote, die überproportional zur allgemeinen Armutsquote sei. Aus seiner Sicht sei „60 Prozent Median ein gutes Mittel, um Armut einzufangen“, sagte Schneider. Dazu stehe er. Das sei die Grenze, ab der Menschen nicht mehr teilhaben könnten.
Schneider forderte eine Solidaritätsdebatte. Die erreiche man nur, wenn man auf Bashing und auf Zuschreibungen verzichte. „So zu tun, als könnten alle Hartz IV-Empfänger arbeiten, geht an den Realitäten vorbei“, betonte er. Hunderttausende davon pflegten ihre Partner oder ihre Eltern, weitere Hunderttausende hätten ganz kleine Kinder. Hundertausende seien nicht in der Lage, mehr als drei Stunden am Tag zu arbeiten, würden aber als erwerbsfähig gelten. Sie alle stünden dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung. „Die kriegen wir nicht vermittelt“, so Schneider. „Wenn wir differenziert mit dem Problem umgehen und die Fakten benennen wie sie sind, bekommt man auch eine Debatte hin, die Solidarität erzeugt und nicht Vorurteile aktiviert, wie das in letzter Zeit passiert ist“, sagte der Hauptgeschäftsführer des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes.