Dokumentationszentrum Besatzungsherrschaft
Berlin: (hib/AW) Die Errichtung des geplanten Dokumentationszentrum „Zweiter Weltkrieg und deutsche Besatzungsherrschaft in Europa“ und der vom Deutschen Historischen Museum vorgelegte Realisierungsvorschlag (20/1845) stößt bei Historikern prinzipiell auf viel Zustimmung. Während einer öffentlichen Anhörung des Kulturausschusses am Montag über den Realisierungsvorschlag wurden jedoch auch Nachbesserungswünsche von Seiten der geladenen Sachverständigen deutlich.
Der Historiker Martin Aust von der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn begrüßte die Initiative für die Errichtung des Dokumentationszentrums und das vorgelegte Konzept. Der Missbrauch und die Verfälschung historischer Erinnerungen durch Russlands Präsident Wladimir Putin zur Legitimation seines Angriffskrieges auf die Ukraine zeige, wie wichtig die Auseinandersetzung mit dem Thema sei. Aust lobte den vorgelegten Realisierungsvorschlag für das Dokumentationszentrum. Dessen Stärke liege in der komprimierten Darstellung von Themenschwerpunkten in der geplanten Dauerausstellung sowie der internationalen Kooperation mit den Wissenschaften und Zivilgesellschaften anderer Länder im Offenen Forum und im Fellowship-Programm. „Das verhindert eine deutsche Nabelschau“, sagte Aust. Zugleich regte er an, einen Schwerpunkt auf die Spezifika des Vernichtungskrieges in den Ländern Osteuropas zu legen. Zudem sollten Themen wie sexuelle Gewalt gegen Frauen in den besetzten Gebieten stärker zu berücksichtigen. In diesem Sinne argumentierte auch Michael Borchard, Leiter der Hauptabteilung Wissenschaftliche Dienste/Archiv für Christlich-Demokratische Politik der Konrad-Adenauer-Stiftung. Insgesamt sei zwar das Thema deutsche Besatzungsherrschaft recht gut erforscht. Allerdings gehörten beispielsweise die Opfer sexueller Gewalt zu jenen Opfergruppen, bei denen es in der Tat Forschungslücken gebe. Das Hauptproblem allerdings sei, dass es vor allem in der breiten Bevölkerung große Wissenslücken über die deutsche Besatzungszeit in den europäischen Nachbarländern gebe.
Der Schweizer Historiker und Präsident der Stiftung Deutsches Historisches Museum, Raphael Gross, betonte, dass der Realisierungsvorschlag für das Dokumentationszentrum verstärkt auch jene Opfergruppen in den Blick nehme, deren Schicksal in der Forschung und in der Erinnerungskultur bislang unterbelichtet seien. Das Deutsche Historische Museum habe deshalb im Rahmen eines offenen Forums etwa 150 Vertretern von Opferverbänden und -vertretungen sowie zivilgesellschaftlichen Initiativen aus ganz Europa eingeladen und mit etwa 50 von ihnen intensive, mehrstündige Gespräche geführt. Gross wies darauf hin, dass der europäische Dialog über die Zeit des Zweiten Weltkrieges und der deutschen Besatzungsherrschaft durch den Ukraine-Krieg sehr erschwert sei. Auch heute noch seien historischen Erfahrungen in den ehemals besetzten Ländern sehr präsent und von entscheidender Bedeutung für die Kommunikation mit den europäischen Nachbarn. Deshalb sei das Wissen über diese Zeit von entscheidender Wichtigkeit.
Dieser Ansicht widersprach der Historiker und Publizist Stefan Scheil. Die Behauptung, die Besatzungserfahrungen seien 80 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs für die Gesellschaften vieler europäischer Nachbarländer weiterhin prägend, stimme so nicht. Vor allem in den jüngeren Generationen sei dies nicht zu beobachten. Scheil kritisierte zudem, dass der konkrete Kriegsverlauf zu wenig in der Konzeption berücksichtigt werde. So hätten Frankreich und Großbritannien „schließlich aus zweifellos nachvollziehbaren Gründen“ im September 1939 Deutschland den Krieg erklärt. Die Ausweitung des Krieges auf den Balkan sei zudem eine Folge britischer Politik gewesen. Dies werde in der Konzeption des Dokumentationszentrums jedoch nicht berücksichtigt. Die Konzeption widerspreche dem Geist der europäischen Integration und sei nicht friedensstiftend. Auch der AfD-Abgeordnete Marc Jongen übte Kritik an der Konzeption. Diese propagiere das Bild von der „deutschen Kollektivschuld“ indem an mehreren Stellen pauschal von „den Verbrechen der Deutschen“ die Rede sei.
Die Ausführungen Scheils sorgten bei verschiedene Abgeordneten und Sachverständigen für Empörung und Widerspruch. Die CDU-Abgeordnete Christiane Schenderlein bezeichnete Scheils Ausführungen als „schockierend“. Petra Sitte (Linke) warf der AfD vor, mit Scheil einen Sachverständigen benannt zu haben, der bekannt sei für seine relativierenden und revisionistischen Geschichtsbetrachtungen. Der Historiker Stephan Lehnstaedt von der Touro University, Campus Berlin, führte an, dass die Äußerungen Scheils zeigten, wie weit verbreitet noch immer die Auffassung sei, Deutschland sei der Krieg aufgezwungen worden. In Wahrheit aber wollte Hitler den Krieg.
Die Historiker Winfried Süß vom Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam und Tatjana Tönsmeyer von der Bergischen Universität Wuppertal lobten die gesamteuropäische Perspektive des Realisierungsvorschlags. Das Konzept enthalte gute Ansatzpunkte, um das Dokumentationszentrum zu einem Lernort werden zu lassen. Zugleich warb Süß ebenso wie Tönsmeyer dafür, dem Verhältnis von Besatzern und Besetzten mehr Kontur zu verleihen. Die Besetzten sollten nicht nur in der Rolle der Opfer gezeigt werden, sondern auch die unterschiedlichen Formen ihres Widerstandes oder ihrer erzwungenen Zusammenarbeit mit den Besatzern, sagte Süß. Tönsmeyer wies darauf hin, dass die Erinnerungen in Deutschland vor allem durch das Kriegsgeschehen geprägt seien. In den europäischen Nachbarländern sei die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg jedoch überwiegend durch die Besatzungszeit geprägt. Unter der Besatzung hätten vor allem Frauen, Kinder und Alte gelitten, während die Männer an der Front gekämpft oder in Deutschland Zwangsarbeit geleistet hätten.