Fehleinschätzungen zu Beginn des Afghanistan-Einsatzes
Berlin: (hib/LL) Die Enquete-Kommission „Lehren aus Afghanistan für das künftige vernetzte Engagement Deutschlands“ des Bundestages ist am Montagnachmittag zu ihrer ersten öffentlichen Anhörung zusammengekommen. Drei Sachverständige - aus Wissenschaft, Diplomatie und Militär - nahmen die geopolitische Ausgangslage und die Lage in Afghanistan zu Beginn des internationalen Einsatzes nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 in den Blick und schilderten Herausforderungen und Handlungsoptionen für Bundesregierung, Diplomatie und Streitkräfte.
Zu wenig Beachtung bei Planung und Durchführung der internationalen Intervention in Afghanistan 2001 fanden nach Einschätzung von Conrad Schetter, Direktor des Bonn International Centre for Conflict Studies (BICC), die zahlreichen Konfliktlinien und Abhängigkeiten innerhalb des Landes: zwischen unterschiedlichen ethnischen Bevölkerungs- und Interessengruppen, um die knappen Ressourcen Land und Wasser - „dem zentralen Konfliktgegenstand in Afghanistan“ und äußeren Akteuren, die seit Jahrzehnten einen Großteil des afghanischen Staatseinkommens finanzierten.
Bei der Vorbereitung des Einsatzes sei diesen Spannungsfeldern und historischen Kontexten nicht ausreichend Rechnung getragen worden. Die in Afghanistan engagierten Akteure hätten sich damals von dem Bild eines weitgehend leeren Raumes leiten lassen, in dem man nach Belieben einen neuen Staat aufbauen könne. Zu den Webfehlern der Einsatzplanung habe auch gehört, dass die US-geführte Allianz sich auf die Taliban als Hauptfeind fixiert habe und so von Beginn an Teil des Konflikts gewesen sei. „Man hätte die eigene Identität von vornherein hinterfragen müssen.“
Aus Solidarität mit dem großen Bündnispartner USA habe Deutschland sich in Afghanistan engagiert, und die USA seien dorthin gegangen, um des Terroristen Osama Bin Laden habhaft zu werden. Niemand sei jedoch nach Afghanistan gegangen um dieses Landes Willen, gab Michael Steiner, Botschafter a.D., ehemals außen- und sicherheitspolitischer Berater im Bundeskanzleramt, zu bedenken. Nach den Anschlägen vom 11. September sei allen Akteuren sofort klar gewesen, dass diese Ereignisse eine Zäsur der Weltpolitik bedeuten würden.
Zu einem Beistand der USA habe es für Deutschland keine Alternative gegeben. Er sei einige Tage nach 9/11 von der Bundesregierung in die USA geschickt worden mit dem Auftrag, Washington jegliche gewünschte Hilfe anzubieten. Man habe es dann dort mit der neuen, neokonservativen Administration unter Präsident George W. Bush zu tun gehabt, die relativ rasch den Irak als eigentliches Ziel in den Blick genommen habe.
Als politische Ursünde, auf der die Logik des Einsatzes basiert habe, bezeichnete Steiner die Gleichsetzung der Terrororganisation Al-Qaida mit den afghanischen Taliban, und die Tatsache, dass man die Taliban als eine der afghanischen Kräfte nicht in den politischen Prozess einbezogen und beispielsweise zur Bonner Afghanistan-Konferenz im November/Dezember 2001 eingeladen habe. Während die Vereinigten Staaten mit Spezialkräften auf Terroristen Jagd machten, mit massiven militärischen Kräften nach Afghanistan gingen und alle zur Operation „Enduring Freedom“ eingeladen hätten, habe man in Berlin „überlegt, was unser Beitrag sein könnte.“
Im Januar 2002 seien dann im Rahmen des ISAF-Mandats („International Security Assistance Force“) die ersten deutschen Soldaten nach Afghanistan geschickt worden, mit dem Auftrag, einen Sektor des Landes zu stabilisieren und den Wiederaufbau abzusichern. Es habe sich 2002 dann auch alles ganz gut angelassen: Die Taliban waren entmachtet, es gab keine Terroranschläge mehr, die Afghanen jubelten der internationalen Allianz zu, man hatte ein Mandat des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen - „die ganze Welt unterstützte die Mission“.
2006 jedoch sei das Ganze dann gekippt. Die Anschläge hätten zugenommen, „die USA hatten ihr Primärziel erreicht“. Es sei jedoch eine Fehleinschätzung der Neokonservativen gewesen, dass der Einsatz in Afghanistan militärisch erledigt sei. Die politische Führung in Washington habe sich nur ihrem eigentlichen Ziel, der Beseitigung Saddam Husseins, zuwenden wollen. So wurde die Aufmerksamkeit zum Irak hingelenkt, der Hauptakteur, ja „der entscheidende Faktor“ im Afghanistan-Einsatz, die USA, verloren ab 2003 ihr Interesse an dem Land - während Deutschland begonnen habe, sich den Aufbau dieses Landes zu eigen zu machen.
Für Deutschland, für das der Militäreinsatz damals „schwer verdauliches Neuland“ gewesen sei, sei die Aufbau-Komponente eine notwendige Ergänzung gewesen, um den Einsatz zu rechtfertigen. Allerdings sei man der Fehleinschätzung aufgesessen, man könne in Afghanistan einfach einen Staat westlicher Prägung aufbauen. Die Afghanen hätten selbstverständlich ihre gewachsene Gesellschaft mit ihren Regeln und Traditionen nicht einfach aufgeben wollen. „Das zivile Element muss von vorn herein stärker mit geplant werden“, schlussfolgerte Steiner. Man müsse zudem mit Demut an ein solches Engagement herangehen und nicht versuchen, ein Ebenbild des eigenen Staates und der eigenen Gesellschaft zu schaffen. Man habe leider keine gute Strategie gehabt.
Eine viel zu knappe Vorbereitungszeit auf den Einsatz, von wenigen Tagen kurz vor Weihnachten 2021, habe seine Einheit aus Oldenburg nach dem Bundestagsbeschluss zum ISAF-Mandat gehabt, beklagte Carl-Hubertus von Butler, Generalleutnant a. D., der als Brigadegeneral im Januar 2002 ein Vorauskommando im Rahmen von ISAF kommandierte. Am 6. Januar 2002 seien die ersten deutschen Soldaten in Afghanistan eingetroffen. Abgesehen von einer Kurzeinweisung durch das Auswärtige Amt habe man nichts gewusst. Man sei auf eine undurchsichtige Lage getroffen: Wo waren die Taliban? Auf welche Strukturen würde man in Kabul treffen? Wie würde sich die Bevölkerung verhalten? „Wir tasteten uns Schritt für Schritt vor.“
Man habe unmittelbar ein riesiges Aufgabenpaket anzupacken gehabt: Das Lager aufbauen, Präsenz in der Stadt zeigen und mit ersten Hilfsprojekten ein Zeichen setzen. Erste Fortschritte hätten auch nicht lange auf sich warten lassen: Die Stadt sei wieder auf die Beine gekommen, die Kriminalitätsrate gesunken, Schulen wieder eröffnet worden. Taliban und Al-Qaida schienen geflüchtet, es gab keine Selbstmordanschläge. „Es herrschte Aufbruchsstimmung.“
Nachts seien immer wieder Granaten auf das Lager abgefeuert worden und hätten gezeigt, dass es weiterhin Widerstand gab. Jenseits der Regierung des neuen Staatschefs Hamid Karsai hätten verschiedene Ethnien ihren Einfluss geltend gemacht. In Kabul sei ein Machtvakuum entstanden, das sich erst wieder habe füllen müssen. Als sicherheitspolitisches Highlight gegen Ende seines halbjährigen Einsatzes nannte von Butler die Absicherung der neuen afghanischen Großen Ratsversammlung. Nach sechs Monaten habe man den Einsatz „mit einiger Zuversicht an unsere Nachfolger übergeben“ können.
Von Butler unterstrich, dass dies leider ein fast rein militärisches Engagement gewesen und von dem Konzept der „vernetzten Sicherheit“ vor Ort keine Spur erkennbar gewesen sei. „Es gab ein ständiges Übergewicht der Militärischen in Kabul, niemand aus anderen Ressorts war dabei, NGOs mieden den engen Kontakt zu uns.“ Bestenfalls habe es sich um ein unkoordiniertes Nebeneinander gehandelt. Mit eigenen zivil-militärischen Kräften habe man sich Aufbauprojekte selbst suchen müssen, um dann beispielsweise mal ein Schuldach zu reparieren.
Später, zurück in Deutschland, habe er dann gemeinsames ressortübergreifendes Handeln geübt. Man müsse künftig von vornherein sagen: „Das ist nicht ein Einsatz der Bundeswehr, sondern von uns allen.“ Statt des Generals könne ein Diplomat Chef des Engagements vor Ort sein und den Kontakt zur dortigen Regierung pflegen. Der Einsatz habe auf jeden Fall im deutschen Interesse gelegen, habe es doch in Afghanistan zahlreiche Ausbildungseinrichtungen für Terroristen gegeben. Außerdem habe man den USA beistehen müssen. Als Soldat wolle man jedoch lediglich zunächst Sicherheit herstellen, damit zivile Kräfte, die von Beginn an mit dabei sein müssten, sich dem Aufbau widmen könnten, schloss von Butler.
Der Bundestag hat im Juli 2022 eine Enquete-Kommission aus zwölf Abgeordneten und zwölf Sachverständigen eingesetzt, die Lehren aus dem deutschen Engagement im Rahmen der internationalen Stabilisierungsmission ISAF in Afghanistan von 2001 bis 2021 für die künftige Außen- und Sicherheitspolitik ziehen und Handlungsempfehlungen für künftige Einsätze in Krisenregionen geben soll. Bis zum Ende der Wahlperiode soll sie einen Bericht vorlegen.