Kritik an Umsetzung der EU-Vereinbarkeitsrichtlinie
Berlin: (hib/HAU) Als nicht weitgehend genug bewerten Sachverständige die von der Bundesregierung geplante Umsetzung einer EU-Richtlinie zur Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben für Eltern und pflegende Angehörige. Das wurde während einer öffentlichen Anhörung des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend am Montagnachmittag deutlich. Der Gesetzentwurf (20/3447) sieht unter anderem vor, dass Arbeitgeber in Kleinbetrieben ihren Beschäftigten, die den Abschluss einer Vereinbarung über eine Freistellung nach dem Pflegezeitgesetz oder dem Familienpflegzeitgesetz beantragen, innerhalb einer Frist von vier Wochen ab Zugang des Antrages antworten müssen. Im Fall einer Ablehnung des Antrags sei diese zu begründen. Ein Anspruch auf Freistellung sei nicht geplant.
Bewertet wurde bei der Anhörung auch ein Antrag der Linksfraktion (20/2688). Darin wird die Einführung einer 28-tägigen Freistellung von der Arbeit für den zweiten Elternteil ab Geburt des Kindes bei 100-prozentiger Entgeltfortzahlung gefordert.
Dörthe Gatermann vom Deutschen Verein für öffentliche und private Fürsorge bewertete es positiv, dass künftig auch in Kleinbetrieben angestellte Eltern unterstützt würden. Zwar gebe es weiterhin keinen Rechtsanspruch auf eine Freistellung, doch werde bei Ablehnung zumindest eine Begründung des Arbeitgebers gefordert. Damit könne die Verhandlungsposition pflegender Angehöriger gestärkt und eine vermehrte Bewilligung solcher Freistellungsanträge bewirkt werden, sagte Gatermann. Diese Maßnahmen reichten aber nicht aus, um den wachsenden Bedarf nach Unterstützung pflegender Angehöriger zu decken. Benötigt werde unter anderem eine Harmonisierung der Schwellenwerte auf 15 Beschäftigte, befand sie. Derzeit gelten im Pflegezeitgesetz Unternehmen mit bis zu 15 Beschäftigten als Kleinbetriebe während beim Familienpflegzeitgesetz der Schwellenwert bei 25 Beschäftigten liegt.
Auch Ulrike Gebelein von der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege begrüßte die vorgesehenen Begründungspflichten sowie das Vorhaben, pflegende Angehörige unter den Schutz der Antidiskriminierungsstelle des Bundes zu stellen. Die Umsetzung der EU-Richtlinie dürfe aber durch den Gesetzentwurf nicht als abgeschlossen gelten, warnte sie. Es brauche eine mindestens zehntägige Freistellungsregelung für Väter oder den gleichgestellten zweiten Elternteil nach der Geburt. Eine Verankerung dieses Rechtsanspruches sollte im Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetz erfolgen.
Die EU-Vereinbarkeitsrichtlinie sei nicht umgesetzt, da es keine bezahlte Freistellung für Väter nach der Geburt gebe, sagte Elke Hannack vom Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB). In Krisenzeiten bei Familien den Rotstift anzusetzen, sei aus familien- und gleichstellungspolitischer Sicht ein Fehler, sagte die DBG-Vertreterin. Auch für pflegende Angehörige enttäusche der Gesetzentwurf, weil an den Schwellenwerten bei Kleinbetrieben festgehalten werde. Der in der EU-Richtlinie vorgegebene Kündigungsschutz greife daher nicht, kritisierte Hannack. Hier müsse nachgebessert werden, indem die Schwellenwerte abgeschafft werden, verlangte sie.
Die Sozialwissenschaftlerin Lena Hipp vom Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung bedauerte, dass das „Gelegenheitsfenster“, das sich durch die Umsetzung der Richtlinie geöffnet habe, nicht ausreichend genutzt worden sei, um tatsächliche Vereinbarkeit voranzutreiben. So wäre es aus ihrer Sicht sinnvoll, aus den zwei Partnermonaten bei der Elternzeit vier Monate zu machen. Ihren Studien zufolge würde eine Vielzahl von Vätern diese auch wahrnehmen. Hipp ging auch auf Diskriminierungen auf dem Arbeitsmarkt ein, unter denen Frauen mit Kindern zu leiden hätten. Elternschaft, so ihre Forderung, müsse daher als geschütztes Merkmal in das Antidiskriminierungsgesetz aufgenommen werden.
Dag Schölper vom Bundesforum Männer, dem Interessenverband für Jungen, Männer und Väter, sprach mit Blick auf den Verzicht des in der Richtlinie vorgegebenen „Vaterschaftsurlaubs“ von einer „Leerstelle im Gesetzentwurf“. Diese durch die Vereinbarkeitsrichtlinie vorgesehene Leistung habe einen eigenständigen Anspruchscharakter und sei eben nicht bereits durch die aktuellen Elterngeld- und Elternzeit-Regelungen abgedeckt, sagte er. Die Einführung eines solchen neuen und eigenständigen Anspruchs jenseits der bereits bestehenden Regelungen zu Elterngeld und Elternzeit könne einen wichtigen Beitrag dazu leisten, die Vater-Kind-Bindung von Anfang an zu stärken, die Väterbeteiligung an der Sorgearbeit zu erhöhen, die Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben zu verbessern und Müttern mehr Erwerbsperspektiven zu eröffnen, betonte Schölper.
Anders bewertet das Kerstin Plack von der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA). Der Vaterschaftsurlaub müsse richtigerweise aufgrund einer Aussetzungsklausel in Artikel 20 Absatz 7 der Richtlinie in Deutschland nicht umgesetzt werden, sagte sie. Es sollte aus Sicht der BDA nicht auf anderer Grundlage zu einer solchen überzähligen Regelung kommen. Plack bewertete auch das für das Pflege- und das Familienpflegezeitgesetz vorgesehene Antragsverfahren zur Vereinbarung einer Pflegezeit oder Familienpflegezeit in Kleinbetrieben als „zu weitgehend“. Die Schwellenwerte von Pflegezeit- und Familienpflegezeitgesetz, sowie Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetz hätten ihren Grund in der deutlich geringeren personellen wie finanziellen Belastbarkeit von kleinen und mittelständischen Unternehmen. Diese können Mitarbeiterausfälle aufgrund der dünneren Personaldecke häufig nicht durch eine Umverteilung oder Umorganisation abfangen.
Lisa Sommer vom Zukunftsforum Familie befand indes, dass der entsprechende Anspruch auf alle Betriebsgrößen ausgeweitet werden müsse, „sodass alle Beschäftigte Auszeiten oder eine Verringerung der Arbeitszeit für die Pflege von Angehörigen tatsächlich nutzen können“. Bedauerlich sei auch, dass mit der Umsetzung der EU-Vereinbarkeitsrichtlinie nicht die Möglichkeit genutzt worden sei, umfassendere Verbesserungen für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf gerade in der frühen Familienphase zu initiieren wie etwa eine bezahlte Freistellung für zweite Elternteile, die explizit mit der Geburt des Kindes verknüpft sein sollte.
Beim Dax-Unternehmen SAP gib es laut Unternehmensvertreterin Nina Straßner seit 2020 eine „Väterzeit“. Während der gesetzlichen, achtwöchigen Mutterschutzzeit nach der Geburt bestehe bei SAP Deutschland für länger als sechs Monate im Unternehmen beschäftigte Väter die Möglichkeit, für 20 Prozent ihrer Arbeitszeit bezahlt freigestellt zu werden, sagte sie. Das Angebot werde sehr gut angenommen. In den ersten 15 Monaten hätten mehr als 500 Väter und weniger als zehn gleichgeschlechtliche Elternpaare das Angebot in Anspruch genommen, „wobei durch die Verankerung als bezahlte Freistellung kein zusätzliches Budget aufgewendet werde musste“.