Noch keine Lösung für höheren Frauenanteil im Bundestag
Berlin: (hib/VOM) Die Frage, wie der Frauenanteil im Bundestag gesteigert werden kann, hat die Wahlrechtskommission am Donnerstagabend bereits zum zweiten Mal beschäftigt. Den Stand der Diskussion in der Kommission fasste die SPD-Abgeordnete Leni Breymaier so zusammen: „Ich will wissen, was geht.“ Und FDP-Obmann Konstantin Kuhle befand: „Die Erhöhung des Frauenanteils im Bundestag müssen wir hinkriegen.“ An die FDP gerichtet sagte Breymaier, es sei nicht toll, nur Argumente zu finden, „warum Parität nicht geht“. Die Kommission habe den klaren Auftrag des Bundestages, Vorschläge zu machen.
Zustimmung fand Breymaier bei der CDU-Abgeordneten und Ko-Vorsitzenden der Kommission, Nina Warken: „Wir brauchen klare Aussagen.“ Von den Ampelfraktionen wollte sie wissen, ob es schon Aussagen gibt, „in welche Richtung gedacht wird“. Ursachen für den geringen Frauenanteil sah Warken in den „Systemen in den Parteien“, etwa in den Verfahren zur Kandidatenaufstellung für die Bundestagswahl. Es gebe Hindernisse, die dazu führten, dass Frauen weniger Chancen hätten. Warken fragte, was man den Parteien über Vorschläge in Richtung einer Selbstverpflichtung oder eines Kodexes hinaus aufgeben könnte und wie Parteien verpflichtet werden könnten, bei Wahlkreismandaten mehr Frauen zur Kandidatur zu bewegen.
Ulle Schauws (Bündnis 90/Die Grünen) hielt Warken entgegen, dass es genügend Vorschläge gebe, „paritätische Abbildungen“ zu erreichen. In der Wirtschaft habe man sehen können, dass freiwillige Verpflichtungen nicht zielführend waren. Die skandinavischen Länder hätten alle Möglichkeiten genutzt, um den Frauenanteil zu erhöhen. Verfassungsrechtlich sei der Weg offen für Parität, es dürfe nur keine Verpflichtung zum Erlass von Paritätsregelungen geben. Der politische Wille müsse dazu führen, so Schauws, dass die Gestaltungsspielräume des Gesetzgebers genutzt werden. Die Sachverständige Anna Gloßner, die Robert Vehrkamp vertrat, sagte, geschlechtsparitätische Wahlgesetze seien verfassungswidrig. Sie schlug sogenannte Soft-Law-Lösungsansätze vor, etwa ein Kodex zur gleichberechtigten Teilhabe, in dem sich Parteien verpflichten, öffentlichkeitswirksam zum Kodex Stellung zu beziehen.
Für eine Änderung der „vorgeschalteten Bedingungen“ sprach sich die Sachverständige Stefanie Schmahl aus, etwa durch eine Pflicht für Parteien, sich mit Gleichstellungsfragen zu befassen, was aus ihrer Sicht zu einem Bewusstseinswandel führen würde. Sanktionen für Parteien im Rahmen der Parteienfinanzierung hielt Schmahl für verfassungswidrig. Auch Gloßner stufte Kürzungen der Parteienfinanzierung als verfassungsrechtlich problematisch ein, weil sich große Parteien von Paritätsverpflichtungen eher „freikaufen“ könnten als kleine Parteien. Das sah auch die Sachverständige Halina Wawzyniak so.
Die Sachverständige Elke Ferner führte hohe Frauenanteile in skandinavischen Parlamenten darauf zurück, dass alle Parteien Quoten eingeführt hätten und sich auch daran hielten, außerdem handele es sich dort um ein reines Verhältniswahlrecht. In Deutschland würden die meisten Frauen über ihre Listenplätze in den Bundestag gewählt. Frauen dürften eher in solchen Wahlkreisen kandidieren, die für ihre Parteien nicht so gut zu gewinnen seien. Ferner brachte den Vorschlag ins Spiel, die Zahl der Wahlkreise zu halbieren und männlich-weibliche „Tandems“ in den Wahlkreisen aufzustellen.
AfD-Obmann Albrecht Glaser (AfD) wies darauf hin, dass von 60 Millionen Wahlberechtigten 59 Millionen nicht Mitglied einer Partei seien und somit kein Mandat erringen könnten. Wie die Frauen könnten auch ältere Menschen, Menschen mit Behinderung oder mit Migrationshintergrund verlangen, sie müssten im Parlament abgebildet werden. Das habe mehr mit einem Ständestaat zu tun als mit einem lebendigen politischen Prozess. Dem hielt der Sachverständige Christoph Möllers allerdings entgegen, dass Frauen kein „Stand“ seien. Frauen seien Bürgerinnen mit gleichen Rechten, deren Chancen, im politischen Prozess durchzukommen, geringer seien.
Susanne Hennig-Wellsow (Die Linke) sah das Problem darin, „dass man nicht in der Lage ist, eine politische Entscheidung zu treffen“. Für sie bedeutet Gleichberechtigung „mindestens 50 Prozent“. Man habe jetzt die Chance, Parität in ein Wahlgesetz zu gießen. Die Linke sei relativ offen für Modelle, ihr gehe es um „Gleichheit in der Kandidatur“. Der Sachverständige Joachim Behnke entgegnete, eine Quote von „mindestens 50 Prozent“ wäre verfassungswidrig, weil es keine Gleichheit mehr wäre. Wer stur 50 Prozent wolle, verhindere Chancengleichheit. Eine solche Quote wäre aus seiner Sicht allenfalls vorübergehend zulässig. Halina Wawzyniak erläuterte, ihr gehe es um Chancengleichheit in der Kandidatur. Wie sich das dann auf die Zusammensetzung des Parlaments auswirkt, würde sie dem Wahlsystem überlassen.
Auf den Verfassungsauftrag in Artikel 3 Absatz 2 des Grundgesetzes hob die Sachverständige Jelena von Achenbach ab. Dessen Zielvorgabe sei die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung. Sie plädierte für Chancengleichheit im Aufstellungsprozess der Kandidaten für die Bundestagswahl. Die Offenheit des politischen Prozessen müsse geschützt, strukturelle Vermachtung müsse aufgebrochen werden. Für sie lautet die Frage, ob man sich auf die politisch wirksame Durchsetzung der tatsächlichen Gleichberechtigung einigen kann.
Die Aussprache zur Erhöhung des Frauenanteils im Bundestag soll am 13. Oktober in der Kommission fortgesetzt werden. Der Bundestag hat die aus 13 Abgeordneten und 13 Sachverständigen bestehende Kommission zur Reform des Wahlrechts und zur Modernisierung der Parlamentsarbeit am 16. März 2022 eingesetzt (20/1023). Sie soll ihren Abschlussbericht bis 30. Juni 2023 vorlegen.