NS-Opfer von „Euthanasie“ und Zwangssterilisationen
Berlin: (hib/AW) Die Opfer der sogenannten „Euthanasie“-Morde und der Zwangssterilisationen während der nationalsozialistischen Diktatur zwischen 1933 und 1945 sollen als NS-Opfer anerkannt und ihre Schicksal verstärkt ins öffentliche Bewusstsein gerückt und in der historischen Aufarbeitung berücksichtigt werden. Dies war das einhellige Votum in einer öffentlichen Anhörung des Kulturausschusses am Montag. Der Ausschuss hatte den Historiker Wolfgang Benz, den Arzt und Psychiater Michael von Cranach, Ute Hoffmann von der Gedenkstätte für die Opfer der NS-„Euthanasie“ Bernburg, Jan Erik Schulte von der Gedenkstätte Hadamar und Ulla Schmidt von der Bundesvereinigung Lebenshilfe geladen, um über einen entsprechenden Antrag der Linksfraktion (20/2429) zu beraten.
Wolfgang Benz führte aus, dass behinderte Menschen zu den ersten planmäßig verfolgten Opfern des nationalsozialistischen Rassenwahns gehörten. Den sogenannten „Euthanasie“-Morden seien schätzungsweise 300.000 Menschen zum Opfer gefallen. Ausgehend vom 1933 erlassenen Gesetz „zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ seien zudem bis zum Ende der NS-Diktatur etwa 400.000 Menschen zwangssterilisiert worden. Unter den Opfern seien nicht nur geistig und körperliche Behinderte gewesen, sondern auch Fürsorgeempfänger, Langzeitarbeitslose, Alkoholiker und sogenannte „Asoziale“. Diese Menschen seien als „Ballastexistenzen“ angesehen worden, von denen das vermeintlich „rassisch reine“ deutsche Volk befreit werden sollte.
Benz und Michael von Cranach wiesen zudem darauf hin, dass sich die Nationalsozialisten auf eine in dieser Zeit schon lange weit verbreitete Sichtweise stützen konnten. Benz regte an, auf den euphemistischen Begriff „Euthanasie“ zu verzichten und besser von „Eugenik-Opfern“ zu sprechen. Der Begriff „Euthanasie“ stammt aus dem Altgriechischen und bedeutet so viel wie „schöner Tod“. Cranach führte aus, dass das Thema nach 1945 nicht nur in der Gesellschaft insgesamt, sondern auch in der Psychiatrie lange Zeit verschwiegen worden sei. Noch heute würde das Thema vor allem von „von unten“ aufgegriffen, von Nachfahren der Opfern, von „Stolperstein“-Initiativen und von Psychiatrietätigen. Cranach warnte, dass die Aufbewahrungsfrist für Kranken- und Verwaltungsakten aus der NS-Zeit verkürzt worden sei. Es müsse dringend ein Verbot für die Vernichtung dieser Akten durchgesetzt werden, da ansonsten die weitere historische Erforschung dieser NS-Verbrechen kaum mehr möglich sei. Die Akten müssten digitalisiert und archiviert werden. Darüber hinaus müsse gewährleistet werden, dass die Krankenhäuser Fragen der Nachfahren nach dem Schicksal der Opfer qualifiziert beantworten können. Insgesamt müsse dem Thema auch in der historischen Bildung mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden, beispielsweise durch eine Verankerung in den Lehrplänen für die Schulen.
Ute Hoffmann und Jan Erik Schulte verwiesen auf die zentrale Bedeutung von Gedenkstätten. Diese würden zum einen die historischen Geschehnisse sowie die Biografien von Opfern und Tätern erforschen. Zum anderen seien es die wichtigsten Einrichtungen bei der Beratung von Angehörigen und Nachfahren der Opfer sowie bei Bildungsangeboten für Schulen. Allerdings verfügten die Gedenkstätten nicht über die ausreichende finanzielle und personelle Ausstattung, um die Nachfrage zu bedienen. Schulte forderte ein abgestimmtes Vorgehen von Bund und Ländern für eine bessere Unterstützung der Gedenkstätten.
Die Vorsitzende der Bundesvereinigung Lebenshilfe, Ulla Schmidt, führte aus, dass es keinen einzigen historischen Grund gebe, die Opfer von „Euthanasie“ und Zwangssterilisation nicht als Verfolgte des NS-Regimes anzuerkennen. Die Vernichtung von Menschen mit körperlichen und geistigen Behinderungen sei von den Nationalsozialisten systematisch vorbereitet und durchgeführt wurden. Diese Verbrechen wirkten bis in die Gegenwart, sagte Schmidt. So bestehe in der deutschen Gesellschaft bis heute ein defizitäres Denken bezüglich Menschen mit Behinderungen. Es müsse ein für allemal klargestellt werden, dass es kein „unwertes Leben“ gebe, sondern dass behinderte Menschen zur Bandbreite der menschlichen Vielfalt dazugehörten.
Die Berichterstatter aller Fraktionen im Ausschuss betonten, dass die Anerkennung des Leids und des Schicksals der Opfer der sogenannten „Euthanasie“ und von Zwangssterilisationen verstärkt in das öffentliche Bewusstsein gerückt werden müsse. Dies sei ein längst überfälliger Schritt sagte Marianne Schieder (SPD) und wies ebenso wie Erhard Grundl (Bündnis 90/Die Grünen) und Thomas Hacker (FDP) darauf hin, dass sich SPD, Grüne und FDP in ihrem Koalitionsvertrag darauf verständigt hätten, dies in dieser Legislaturperiode auf den Weg zu bringen. Annette Widmann-Mauz (CDU) sprach von einem der „beschämendsten Kapitel“ in der deutschen Geschichte. Marc Jongen (AfD) sagte, die Anerkennung sei nicht nur „überfällig“, sondern komme zu spät, da von den Opfern so gut wie niemand mehr am Leben sei. Jan Korte (Linke) argumentierte, das Beispiel der „Euthanasie“ und der Zwangssterilisationen zeige, dass es zu den „großen Lebenslügen der Bundesrepublik gehöre, dass die NS-Vergangenheit erfolgreich aufgearbeitet worden sei.