Staatssekretär im Untersuchungsausschuss zum Atomausstieg
Berlin: (hib/HLE) Der Staatssekretär im Bundesministerium für Umwelt, nukleare Sicherheit und Verbraucherschutz, Stefan Tidow, hat dem Eindruck widersprochen, dass die Leitung des Ministeriums eine Empfehlung der Fachebene zum Weiterbetrieb der Kernkraftwerke ins Gegenteil verdreht habe. Einen Widerspruch sehe er nicht. Wer den sehe, bleibe auf der Ebene der Überschriften hängen, sagte Tidow am Donnerstag (19. Dezember) im 2. Untersuchungsausschuss, der die Umstände des deutschen Atomausstiegs untersucht.
Der Staatssekretär wies in der Sitzung darauf hin, dass die Betreiber der Kernkraftwerke selbst große Schwierigkeiten für einen Weiterbetrieb der Anlagen über das gesetzlich vorgesehene Abschaltdatum zum 31. Dezember 2022 gesehen hätten.
Eine Arbeitsgruppe des Umweltministeriums hatte am 1. März 2022 einen Vermerk erstellt, in dem Szenarien aus technischer Sicht für einen Weiterbetrieb der Kernkraftwerke enthalten waren. Am 3. März war vom zuständigen Abteilungsleiter ein Vermerk erstellt worden, dass ein Weiterbetrieb sicherheitstechnisch nicht vertretbar wäre. Am 7. März lehnten Umwelt- und Wirtschaftsministerium in einem gemeinsamen Vermerk unter anderem aus Gründen der nuklearen Sicherheit einen Weiterbetrieb ab.
Zu dem angeblichem Widerspruch zwischen dem Vermerk der Arbeitsgruppe und dem des Abteilungsleiters sagte Tidow, die Arbeitsgruppe habe nicht dargelegt, dass die nukleare Sicherheit gegeben sei. Der Vermerk der Arbeitsgruppe besage mitnichten, dass eine Laufzeitverlängerung möglich sei, sondern benenne Voraussetzungen für einen Weiterbetrieb und betrachte dabei organisatorische, logistische und sicherheitstechnische Fragen. Nicht in dem Vermerk enthaltene atomrechtliche Aspekte seien später noch eingefügt worden. Zudem sei der Beitrag der Kernkraftwerke für die Stromproduktion als gering angesehen worden.
Auf Abteilungsleiterebene sei in dem Vermerk deutlich formuliert worden, dass man gegen eine Verlängerung des Betriebs sei. Unter Sicherheitsbetrachtungen handele es sich bei einer Laufzeitverlängerung um eine Risikoerhöhung, sagte Tidow. Es sei richtig, dass sich die Atombehörde für die Sicherheit entscheide.
Die Anlagen seien zwar sicher gelaufen. Wenn sie unsicher gewesen wären, wären sie nicht gelaufen. Dann hätte die Atomaufsicht sie vom Netz nehmen müssen. Trotzdem hätten die Kernkraftwerke ein Restrisiko. Dieser Sachverhalt sei auch den Ausstiegsbeschlüssen inhärent. Das Restrisiko sei bis zum 31. Dezember 2022, dem Datum des Atomausstiegs, als tragbar erschienen.
Der Energieertrag bei einer Laufzeitverlängerung wirke nicht schwer genug, um das Restrisiko bei einem Betrieb über 2022 hinaus aufzuwiegen. Das sei in dem Vermerk gut dargestellt und für alle nachvollziehbar.
Zu den Abläufen im Jahr 2022 nach dem russischen Überfall auf die Ukraine und zunehmenden Sorgen wegen der Sicherung der Energieversorgung sagte Tidow, es sei eine dramatische Situation mit sehr großen Herausforderungen gewesen. Es sei immer um die Abwägung gegangen, ob ein Weiterbetrieb der Atomanlagen Sinn mache. Diese Abwägung habe sich im Laufe des Jahres aber immer wieder geändert. Wenn ein anderer Eindruck entstanden sei, liege das an sehr selektiver Zitierung aus Unterlagen und auch an falscher zeitlicher Zuordnung von Dokumenten und an Unterstellungen.
Tidow berichtete über die Besorgnis der bayerischen Staatsregierung, bei Abschaltung des Kernkraftwerks Isar 2 könne eventuell ein Blackout drohen. Das hätte eine Veränderung der Situation bedeutet. Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) habe daraufhin einen Stresstest zur Sicherheit der Energieversorgung angekündigt.
Ab Mitte Juli 2022 habe man geschätzt, dass es nach einem Stresstest eventuell eine andere Einschätzung zum Weiterbetrieb der Kernkraftwerke geben könnte. Belastbare Aussagen habe es nicht gegeben. Tidow schilderte, dass in dem Moment, in dem die Prüfung eines Streckbetriebs begonnen worden wäre, eine öffentliche Diskurslage entstanden wäre, die nur noch schwer zu managen gewesen wäre.
Habeck und Umweltministerin Steffi Lemke (Grüne) hätten bereits früh in Richtung eines Streckbetriebs argumentiert, erinnerte sich Tidow. Es sei aber klar gewesen, dass es in den Fraktionen von Grünen und auch SPD Widerstand dagegen geben würde. Angesichts der öffentlichen Debatte und Forderungen der CDU nach einer Laufzeitverlängerung habe die Sorge bestanden, dass die Atombefürworter den Streckbetrieb nutzen würden, um den Ausstieg insgesamt rückgängig zu machen.
Daraufhin habe Habeck die Einsatzreserve der Kernkraftwerke ins Spiel gebracht. Das Ergebnis dieser Prüfung sei jedoch ernüchternd gewesen, sagte Tidow. Was politisch machbar erschienen sei, sei auf logistische und sicherheitstechnische Probleme gestoßen. Es sei dann der Kraftwerksbetreiber PreussenElektra gewesen, der eine Kaltreserve als technisch nicht machbar bezeichnet habe.
Er schilderte außerdem, dass es nicht möglich gewesen sei, innerhalb der Regierung vor allem mit der FDP eine Einigung herbeizuführen. Schließlich habe Bundeskanzler Olaf Scholz am 17. Oktober den Streckbetrieb bis Mitte April 2023 per Richtlinienkompetenz verfügt.