03.12.2024 Verkehr — Anhörung — hib 833/2024

Expertenstreit um die Entwidmung von Bahnliegenschaften

Berlin: (hib/HAU) Die von der CDU/CSU-Fraktion geforderte Rückkehr zur bis Ende 2023 gegoltenen Vorschrift für die Entwidmung von Bahnliegenschaften im Paragrafen 23 des Allgemeinen Eisenbahngesetzes (AEG) ist bei einer Sachverständigenanhörung des Verkehrsausschusses am Montag teils auf Zuspruch und teils auf Ablehnung gestoßen. Die Unionsfraktion verweist in ihrem Gesetzentwurf „zur Änderung der Freistellungsvoraussetzungen des Paragrafen 23 des Allgemeinen Eisenbahngesetzes“ (20/13358) darauf, dass es durch die Novellierung des Paragrafen 23 Ende 2023 nur noch im „überragenden öffentlichen Interesse“ möglich sei, Eisenbahnflächen zu entwidmen, sie also zu anderen Zwecken als dem Bahnbetrieb zu nutzen.

Folge dieser restriktiven Änderung in der Praxis sei, dass das Eisenbahn-Bundesamt (EBA) als zuständige Behörde seitdem Freistellungsanträge in bereits über 150 Fällen für nicht mehr benötigte Bahnflächen zurückgewiesen habe. Geplante und einvernehmlich vereinbarte Nutzungsänderungen könnten deshalb planungsrechtlich nicht gesichert und langjährige Planverfahren müssten gestoppt werden, schreibt die Unionsfraktion in ihrem Entwurf. Prominentes Beispiel sei das Wohnungsbauprojekt Stuttgart Rosenstein, bei dem nach dem Umbau des Stuttgarter Hauptbahnhofes Bahnflächen frei werden, auf denen bis zu 5.700 Wohnungen entstehen sollen.

Für den Beibehalt der aktuell geltenden Regelung sprach sich Joachim Berends, Vorstand der Bentheimer Eisenbahn AG, aus. Er erinnerte daran, dass das AEG angepasst worden sei, um „heute und in der Zukunft“ Zweckentfremdungen von Bahngrundstücken sowie Gleisanlagen grundsätzlich zu verhindern. Damit sollte gesichert werden, dass Planungen für Kapazitätserweiterungen im Eisenbahnverkehr sowie zur Reaktivierung von Eisenbahnstrecken auch tatsächlich realisiert werden können.

Benötigte Streckenreaktivierungen seien schließlich vielfach daran gescheitert, „dass Teilbereiche der Strecke entwidmet und teils überbaut worden sind“, sagte Berends. Man könne eine Strecke stilllegen, so der Vorstand der Bentheimer Eisenbahn AG. „Entwidmen möge man sie aber nie mehr.“

Anders sah das Ute Bonde, Senatorin für Mobilität, Verkehr, Klimaschutz und Umwelt des Landes Berlin. Bis zum Jahr 2040 werde Berlin die Vier-Millionen-Einwohnermarke erreicht haben, sagte sie. Daher werde man entsprechenden Wohnraum schaffen müssen. Als Ergebnis der geänderten gesetzlichen Regelung sei aber festzustellen, dass viele Baumaßnahmen durch das EBA „on hold“ gesetzt worden seien.

Bonde plädierte für eine Abwägung der Schieneninfrastruktur auf der einen Seite, aber auch des dringenden Wohnungsbaubedarfs auf der anderen Seite. Eine solche Abwägung gebe es derzeit nicht. Das EBA gehe immer von einem „überragenden öffentlichen Interesse“ des Erhalts der Bahnflächen aus und stelle dies immer an die erste Stelle.

Dirk Flege, Geschäftsführer des Vereins Allianz pro Schiene, verwies darauf, dass das Eisenbahnnetz in Deutschland seit der Bahnreform 1994 per Saldo um mehr als 5.000 Kilometer Streckenlänge geschrumpft sei. Dass nun der Gesetzgeber tatsächlich strengere Maßstäbe als bisher an Zweckentfremdungen von Bahngrundstücken angelegt habe, sei daher grundsätzlich zu begrüßen.

Die Freistellung von Bahnbetriebszwecken sei weiterhin möglich, so Flege. Die zuständige Behörde müsse jedoch zwischen einem überragenden öffentlichen Interesse an der Erhaltung der Fläche für den Eisenbahnverkehr und dem Interesse einer anderweitigen Nutzung abwägen.

Auch Professor Urs Kramer von der Universität Passau hält die erfolgte Einschränkung im Paragraf 23 AEG nicht für so hart, dass keine Abwägung möglich sei. Zwar sei die Schwelle erhöht worden, wie auch von der Beschleunigungskommission Schiene gefordert. Es gebe aber „kein absolutes Entwidmungsverbot“. Schließlich gebe es noch andere überragende öffentliche Interessen, die dagegengehalten werden könnten. „Es kann aber nicht jedes Interesse dagegengehalten werden“, sagte Kramer.

Der eigentliche Kritikpunkt im Kontext von „Stuttgart 21“ sei offenbar, dass der bloße Bau von Wohnungen oder die Schaffung von Arbeitsplätzen ohne zusätzliche Umstände, die ein „überragendes öffentliches Interesse“ begründen, nicht ausreichten, befand er.

Hilmar von Lojewski, Beigeordneter des Deutschen Städtetages und Leiter des Dezernats Stadtentwicklung, Bauen, Wohnen und Verkehr, sagte, es gebe eine ganze Reihe von Beispielen verhinderter oder gestoppter Stadtentwicklungen als Folge der AEG-Änderung. Es sei ein Fiasko, wenn diese Themen wegen einer Blockade nicht weiterbearbeitet werden könnten. Der Abwägungsspielraum, so der Kommunalvertreter, sei eindeutig: „Überragendes öffentliches Interesse kann nur durch überragendes öffentliches Interesse überwunden werden.“ Wohnungsbau und städtebauliche Entwicklung sei aber kein überragendes öffentliches Interesse, „auch wenn wir das gerne hätten“.

Er habe Verständnis dafür, dass der Gesetzgeber verhindern wolle, dass Bahnflächen entwidmet werden, die man noch perspektivisch brauche, sagte von Lojewski. „Die Flächen, von denen wir sprechen, sind aber seit Jahrzehnten in der Entwicklung und durch notarielle Kaufverträge belegt“, betonte er. Sie seien jetzt durch das EBA blockiert.

Peter Pätzold, Stuttgarter Bürgermeister für Städtebau, Wohnen und Umwelt, sagte, durch die Verschärfung der Freistellungspraxis auf Grundlage der Gesetzesänderung vom Dezember 2023 würden wichtige Planungen und Wohnungsbauprojekte in deutschen Zentren wie etwa jene für das Projekt Stuttgart Rosenstein verhindert. Dieses umfasse die Schaffung von bis zu 5.700 Wohnungen für über 10.000 Menschen „im Herzen der Landeshauptstadt Stuttgart“.

Pätzold erinnerte daran, dass die Stadt Stuttgart bereits im Jahr 2001 die freiwerdenden Flächen gekauft habe. Im Vertrauen auf die Freistellungsmöglichkeit werde das Projekt Stuttgart 21, zu dem auch ganz wesentlich die städtebaulichen Vorteile zählen, seit Jahrzehnten umgesetzt. Zudem sei das Ja bei der Volksabstimmung 2011 auch mit der Schaffung von Wohnraum beworben worden, sagte er.

Die Unionsfraktion wolle mit ihrem Gesetzentwurf eine Rückkehr zur bisherigen fatalen Praxis der Entwidmungen, kritisierte hingegen Werner Sauerborn, Geschäftsführer des Aktionsbündnisses gegen Stuttgart 21. Damit werde ein nachhaltiges Umsteuern im Verkehr konterkariert, obwohl dieser Bereich „mehr als alle andere und ungebremst zur CO2-Belastung beträgt“.

Mit Entsetzen hätten Stuttgarts Bürger und der Mieterverein Stuttgart im Juli dieses Jahres zur Kenntnis genommen, dass der Wohnungsbau auf den freiwerdenden Bahnflächen durch die von der Ampel vorgenommene Änderung des AEG nicht mehr möglich sein solle, sagte Rolf Gaßmann, Vorsitzender des Deutschen Mieterbundes Baden-Württemberg. „Wenn bei der Formulierung und Verabschiedung des Gesetzes ein bedauerlicher Fehler unterlaufen ist, muss dieser korrigiert werden“, forderte er.

Es dürfe nicht sein, dass nach 30 Jahren Planungs- und Bauzeit eines neuen Bahnhofs und dessen Gleiszuläufen, die danach freiwerdenden innerstädtischen Bahnflächen nicht mehr für die ursprünglich vorgesehenen städtebaulichen Zwecke verwendet werden dürfen, sondern als Brachflächen nutz- und sinnlos die Innenstadt zerteilen und ungenutzt bleiben sollen.