Ex-Staatssekretärin: Visavergabe war ein großes Problem
Berlin: (hib/CRS) Die ehemalige Staatssekretärin im Auswärtigen Amt (AA) Antje Leendertse nannte vor dem 1. Untersuchungsausschuss Afghanistan die Visavergabe als eines der größten Probleme bei der Ausreise von Ortskräften aus dem Land. Im Nachhinein sehe man, dass man zu langsam gehandelt habe, sagte sie selbstkritisch.
Der Untersuchungsausschuss versucht Licht in die Ereignisse zu bringen, die sich zwischen dem Abschluss des Doha-Abkommens und der militärischen Evakuierungsoperation im Flughafen Kabul Mitte August 2021 ereigneten. Mit dem Doha-Abkommen hatten die USA und die Taliban im Februar 2020 den Abzug der internationalen Truppen aus Afghanistan geregelt.
Leendertse war im Untersuchungszeitraum auch zuständig für die Rechtsabteilung im AA, der die Visareferate unterfiel. Man habe die Voraussetzungen dafür, eine große Anzahl von Menschen mit Visa zu versorgen, nicht geschaffen, weil zu lange an der üblichen Visa-Prozedur festgehalten worden sei, sagte die Zeugin. Aus den bis dahin gesammelten Erfahrungen im Ortskräfteverfahren (OKV) habe man gewusst, dass es schwer werden würde, wenn die Ausreise einer großen Anzahl von Menschen bevorstünde, weil in der deutschen Botschaft in Afghanistan keine Visaabteilung mehr existiert habe. Darauf habe das AA in den Abstimmungen mit anderen Ressorts seit Ende 2020 hingewiesen.
Auf Nachfrage, warum die Visaabteilungen in Ländern in der Region rund um Afghanistan nicht verstärkt worden sei, antwortete die ehemalige Staatssekretärin, man habe immerhin in Istanbul die Visaabteilung personell verstärkt. Doch nicht jeder Mitarbeiter könne Visa ausstellen, dafür sei eine besondere Ausbildung notwendig. „Visa-Entscheider-Stellen sind bei uns wie Goldstaub“ sagte Leendertse.
Schon im Dezember 2020 sei klar gewesen, dass man die sich abzeichnende große Anzahl von Visaanträgen nicht bearbeiten könne. „Es war nicht Unwille“, sagte die Diplomatin, „es hat nur sehr lange gedauert.“ Deshalb hätte das Visaverfahren vereinfacht werden müssen, wozu jedoch das BMI nicht bereit gewesen sei. Das BMI habe zwar immer betont, es würde von der Prozedur abweichen, „wenn es hart auf hart kommt“. Aber dafür müssten Triggerpunkte definiert sein. Das AA habe stets wissen wollen, was diese Trigger für den Notfall seien. Diese seien aber nicht konkretisiert worden. Der Notfall sei erst am 15. August 2021 eingetreten.
Man hätte mit Gruppenaufnahmen das Problem auch früher lösen können, meinte die Zeugin, was aber damals im Ressortkreis nicht konsensfähig war. Nicht aus bösem Willen, sondern wegen Ressortinteressen, unterstrich Leendertse. Es habe zwei Alternativen gegeben, fügte sie hinzu. Man habe Gruppen bilden oder sich alternativ auf den Paragrafen 14 Absatz 2 des Aufenthaltsgesetzes berufen können. Dann hätten die Visa auch an der Grenze erteilt und die große Anzahl an Anträgen bewältigt werden können. Doch das BMI habe ein solches Visa-on-Arrival-Verfahren (VoA) blockiert. Leendertse sprach von einer Blockadehaltung im BMI: „Ja, das habe ich so wahrgenommen.“ Die Bitte auf VoA umzustellen, sei auch auf Ministerebene formuliert worden. Aber beim AA habe man das Gefühl gehabt, dass dies politisch nicht erwünscht gewesen sei.
Leendertse, die sich nach eigenen Angaben wenig in der Afghanistan-Frage auskannte, musste ab 3. August 2021 den Staatssekretär Miguel Berger während seines Urlaubs vertreten. Just in dieser Zeit beschleunigten sich jedoch die Ereignisse in Afghanistan. Um sich besser informieren zu können, habe sie sich am 9. August 2021 von früheren Afghanistan-Beauftragten unterrichten lassen.
Kurz darauf, am 13. August, fand die erste Krisenstabssitzung statt, die sie leitete. In dieser Sitzung seibeschlossen worden, in die Vorbereitung für eine Evakuierungsoperation in Kabul zu gehen. Auf die Frage, warum nicht gleich die Evakuierung selbst beschlossen worden sei, antwortete die Ex-Staatssekretärin, zu diesem Zeitpunkt sei zwar die Evakuierung ausgeplant gewesen, man hätte aber noch Details prüfen müssen. Es seien auch 24 Stunden für die Klärung der Mandatierung notwendig gewesen. Sie persönlich habe auch nicht gewollt, dass die deutsche Botschaft abzieht, noch bevor das Krisenunterstützungsteam, das bereit stand, in Kabul eingetroffen war.
Außerdem habe man am 13. August noch gedacht, dass Kabul nicht gleich fallen würde und man für die Vorbereitung Zeit habe. Einige Beteiligte hätten zwar gesagt, dass es schneller gehen würde, aber niemand habe einen Blick in die Kristallkugel werfen können.
Abschließend beantwortete Leendertse auch Fragen nach der Beschreibung der Kategorie von besonders Schutzbedürftigen. Diese sei in einem vom AA und BMI gemeinsam geschriebenen Thesenpapier definiert und von der damaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel bewilligt worden. Auf der Liste der besonders Schutzbedürftigen hätten Personen gestanden, die wegen ihres politischen Einsatzes für den Rechtsstaat gefährdet waren und Afghanistan verlassen sollten, erläuterte sie.