Licht und Schatten bei der Umsetzung der Menschenrechte
Berlin: (hib/SAS) Wie steht es um den internationalen Menschenrechtsschutz? Mit dieser Frage hat sich der Menschenrechtsausschuss am Mittwoch anlässlich des 70. Jahrestags der Europäischen Menschenrechtskonvention und der Verabschiedung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vor über 75 Jahren im Rahmen einer öffentlichen Anhörung von Sachverständigen beschäftigt.
Dabei würdigten alle Experten grundsätzlich die Geschichte der Menschenrechte seit 1948 als Erfolg, lenkten aber gleichzeitig den Blick auch auf Probleme des internationalen und europäischen Menschenrechtssystems.
So verwies zunächst Rechtsanwalt Hartmut Emanuel Kayser auf die Anzahl der Konventionen zum Schutz der Menschenrechte: Beim Generalsekretariat der Vereinten Nationen (VN) seien bis heute 27 Übereinkommen und Protokolle registriert, die „menschenrechtliche Inhalte“ hätten und von sehr vielen Staaten ratifiziert worden seien. Allerdings sah Kayser auch Schwächen insbesondere bei Durchsetzung der Menschenrechte: Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) seien „mit Problemen behaftet“, so der Rechtsanwalt. Beschwerden im Staatenbeschwerdeverfahren würden beispielsweise oftmals nicht eingereicht, weil Staaten eine „Retourkutsche“ befürchteten.
Gerald Knaus, Vorsitzender der Denkfabrik Europäische Stabilitätsinitiative, machte für die mangelnde Durchsetzung der Europäischen Menschenrechtskonvention die Schwächung des Europarats verantwortlich. Sein in der Vergangenheit zu inkonsequenter Umgang mit Staaten wie Aserbaidschan und Russland, die sich durch Korruption und systematische Nichtachtung der Urteile des EGMR hervorgetan hätten, habe großen Schaden angerichtet. Auch Deutschland habe sich lange dafür eingesetzt, Russland trotz alledem im Europarat zu halten. So ein Fehler dürfe nicht wieder passieren, mahnte Knaus mit Blick auf Aserbaidschan. Das Land, dessen Mitgliedschaft derzeit suspendiert ist, liege bei der Umsetzung der EGMR-Standards an letzter Stelle und dürfe keinesfalls wieder in den Europarat zurückkehren. Die „Krise der Glaubwürdigkeit“ sei nur zu lösen, wenn sich die Mitglieder an den Ursprung des Europarats als „Club der Demokratien“ erinnere. Staaten, die sich nicht an Standards hielten, müssten ausgeschlossen werden, forderte Knaus.
Ähnlich äußerte sich auch Günter Schirmer vom Ausschuss für Recht und Menschenrechte der Parlamentarischen Versammlung des Europarats: Er unterstrich in seiner Stellungnahme, dass die Mitgliedschaft im Europarat die Erfüllung „gewisser Mindeststandards“ wie Rechtsstaatlichkeit und Informationsfreiheit voraussetze. Funktion des Europarats sei es, auf der Grundlage gegenseitiger Kontrolle unter gleichgesinnten Staaten die bestmögliche Umsetzung der in der EMRK definierten Menschenrechte aller Bewohner der Mitgliedsstaaten zu fördern. Wenn der eine oder andere Staat sich hier nicht mehr gleichgesinnt erweise, und es ihm mehr darum gehe, „aus Prestigegründen oder als Standortfaktor das Gütesiegel der Mitgliedschaft zu besitzen“, dann dürfe er nicht mehr dazugehören, verlangte Schirmer. „Wir dürfen unser Gütesiegel nicht verramschen und die Einhaltung der Mindeststandards strikt einfordern.“ Gleichzeitig müsse es „rote Linie“ geben, ohne deren Beachtung niemand Mitglied werden oder bleiben könne. Als „rote Linien“ solle neben einem Angriffskrieg auch die Verweigerung der Umsetzung von EGMR-Urteilen angesehen werden.
Der stellvertretende Generalsekretär von Amnesty International (AI) Deutschland, Christian Mihr, bemängelte, dass trotz einer starken institutionellen Verankerung der Menschenrechte in Europa das Justizsystem faktisch nicht allen Menschen gleichermaßen offenstehe. Der Rechtsweg sei oft sehr mühsam, so Mihr, es bedürfe daher mehr politischen Willens der europäischen Staaten, die Entscheidungen des EGMR umzusetzen und die Menschenrechte zur Geltung zu bringen. AI empfehle, dass sich der Europarat weniger auf die Schaffung von neuen Institutionen und mehr auf die Verbesserung der Effizienz und der Dynamik des bestehenden Systems konzentriere. Zur Stärkung der Rolle des EGMR und des europäischen Menschenrechtssystems gehöre auch, im eigenen Land allen Menschen konsequent ihre Rechte zu gewährleisten, mahnte Mihr. Auch in Deutschland gebe es Handlungsbedarf, wie zuletzt etwa die Prüfung Deutschlands im vierten Zyklus der Allgemeinen Regelmäßigen Überprüfung vor dem UN-Menschenrechtsrat im November 2023 gezeigt habe.
Auch Wolfgang Kaleck, Generalsekretär des European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR), machte deutlich, dass die Geschichte der Menschenrechte seit 1948 keine „ungebrochene Erfolgsgeschichte“ sei. Die Staaten, die die politische und wirtschaftliche Macht hätten, hielten sich oft nur dann an das Völkerrecht, wenn es ihren eigenen Interessen diene, und Menschenrechtsverletzungen würden nur dann angeprangert, wenn sie im Lager des politischen Gegners stattfänden. Ein Beleg dafür, dass Institutionen aber auch in Krisen funktionieren könnten, sei die Entscheidung des Chefanklägers des Internationalen Strafgerichtshofs in Sachen Gaza, sagte Kaleck. Als positives Beispiel zur Umsetzung von Menschenrechten nannte er zudem das Lieferkettensorgfaltsgesetz. Es werde weltweit als Modell angesehen. Es sei daher schade, dass einige Parteien und „neuerdings auch der Wirtschaftsminister“ dieses wieder infrage stellten.
„Licht und Schatten“ - wenn auch mehr Schatten als Licht, auf diese kurze Formel spitzte die Professorin Angelika Nußberger, Direktorin der Akademie für europäischen Menschenrechtsschutz an der Universität Köln, ihre Bewertung des europäischen Menschenrechtsschutzsystems zu. Angesichts des Ausgangs der Europawahl sprach Nussberger auch von einer „Erfolgsgeschichte mit ungewissem Ausgang“. Die Europa-Skepsis, die auf dem Vormarsch sei, betreffe nicht nur die EU, sondern den Europarat mit seinem Menschenrechtsschutzsystem. Als ein großes Problem bezeichnete Nußberger neben der mangelnden Umsetzung seiner Urteile insbesondere die Dauer der Verfahren vor dem EGMR, die Menschen davon abbrächten, sich an den Gerichtshof zu wenden. Die Empfehlung der Rechtswissenschaftlerin an die Politik lautete, das Gericht nicht zu überfrachten. Wolle man den Anspruch auf individuellen Rechtsschutz aufrechterhalten, müsse man grundsätzlich überlegen, ob man ihn auch mit Entscheidungen in zwischenstaatlichen Verfahren oder auch zu Umwelt- und Klimafragen betraue. Diesen könne er nur gerecht werden, wenn er die Befassung mit den „kleinen“ Individualbeschwerden zurückstelle.
Stefan von Raumer, Vizepräsident des Deutschen Anwaltsvereins, bezeichnete es als „enttäuschend“, dass ein so hoher Anteil von Fällen, über die der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte zu entscheiden habe, Fragen betreffe, zu denen es eine längst etablierte Rechtsprechung des Gerichtshofs gebe, die aber von den innerstaatlichen Gerichten nicht berücksichtigt würde. In dieser unzureichenden innerstaatlichen Umsetzung der Konvention durch die nationalen Gerichte auch in Fällen geklärter Rechtsprechungsvorgaben des Gerichtshofs sah er den „maßgeblichen Grund“ für die Überlastung des Gerichtshofs. Ein Problem, das sich auch durch weitere Reformen und Effizienzsteigerungen des Gerichtshofes nicht werde beheben lassen, vermutete von Raumer.
Auf die Bedeutung der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte und die zu ihrer Überprüfung geschaffenen Gremien, hob Michael Windfuhr, stellvertretender Direktor des Deutschen Instituts für Menschenrechte, in seiner Stellungnahme ab: „WSK-Menschenrechte“ seien keinesfalls nachrangig, denn Menschenrechte seien unteilbar, so der Politikwissenschaftler: Über das Recht auf Meinungsfreiheit könne nicht nachdenken, wer kein Recht auf Bildung gehabt habe. Die Wahrnehmung der Rechte in den verschiedenen Institutionen auf europäischer Ebene, dem Ausschuss für soziale Rechte und den Gremien, die der Europarat geschaffen habe, wachse. Die internationale Wirkung dürfe nicht unterschätzt werden. Umso wichtiger sei, diese auch finanziell entsprechend auszustatten.