21.06.2021 Inneres und Heimat — Anhörung — hib 814/2021

Strukturen für den Kampf gegen islamistischen Extremismus

Berlin: (hib/HAU) Für den Kampf gegen islamistischen Extremismus braucht es aus Sicht von Sachverständigen nicht neue Strukturen, sondern eine Verstetigung und Unterstützung der vorhandenen. Das wurde während einer öffentlichen Anhörung des Innenausschusses am Montag zu Anträgen der FDP-Fraktion (19/24369) und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen (19/24383) deutlich.

Claudia Dantschke vom Verein Grüner Vogel, Teil des Beratungsnetzwerkes der Beratungsstelle Radikalisierung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF), bewertete das 2018 ins Leben gerufene Nationale Präventionsprogramm gegen islamistischen Extremismus positiv. Dadurch würden die Initiativen im Kampf gegen islamistischen Extremismus gut koordiniert und vernetzt. „Es gibt eine sehr gute Abstimmung zwischen dem Bund und den Ländern aber auch zwischen zivilgesellschaftlichen und staatlichen Akteuren“, sagte sie. Problematisch sei aber die jährliche Finanzierung der zivilgesellschaftlichen Projekte. Um wichtiges, eingearbeitetes Personal halten zu können, bräuchte es eine längerfristig gesicherte Finanzierung, sagte Dantschke.

Auch Thomas Mücke von der Organisation Violence Prevention Network verwies auf die in den letzten Jahren geschaffenen Strukturen der Deradikalisierungsarbeit, die es nun zu sichern gelte. „Wir haben ein funktionierendes System“, sagte er. Im Bereich der Professionalisierung sei sehr viel passiert. Mit Blick auf die aktuelle Situation kam Mücke zu der Einschätzung, dass die öffentliche Aufmerksamkeit für die Extremismusgefahr derzeit als Folge der Corona-Pandemie reduziert sei. Es gebe derzeit auch weniger Hinweise aus dem sozialen Umfeld radikalisierter Personen. Die extremistische Szene, so Mücke, sei aber auch in der Pandemie sehr aktiv gewesen und habe versucht, ihr Rekrutierungspotenzial aufrechtzuerhalten - insbesondere über das Internet.

Aus Sicht von Jochen Müller vom Verein ufuq bringt die universelle Prävention, wenn sie sich an eine spezifische Zielgruppe richtet, die Gefahr der Stigmatisierung mit sich, weil sie die Gruppe unter einen Generalverdacht stelle. „Das wäre aber Wasser auf die Mühlen der Extremisten, die genau an diese Alltagserfahrung junger Muslime in Deutschland ansetzen können“, warnte er. Dies geschehe auch durch eine Ausweitung des Problems auf Fragen des Asylrechts oder der Organisierten Kriminalität. Müller warnte zugleich vor Alarmismus und machte deutlich, das durchaus vorhandene Konflikte in Schulen, etwa zu Geschlechterrollen, dem Händeschütteln zur Begrüßung oder Verabschiedung, dem Nahost-Konflikt oder dem Ramadan, mit islamistischer Ideologisierung in aller Regel nichts zu tun hätten.

Jamuna Oehlmann von der Bundesarbeitsgemeinschaft religiös begründeter Extremismus begrüßte die Anträge grundsätzlich. Sie teile viele Positionen, die sich im Antrag der Grünen fänden, wie etwa die Forderung nach einer langfristigen Förderung oder einer Institutionalisierung des Austausches mit dem Gemeinsamen Terrorismusabwehrzentrum. Bei der Prävention, so betonte sie, gehe es um weit mehr als um Überwachung. Es gehe um Demokratieförderung. In den Anträgen werde aber die universelle Prävention sehr kurz gehalten, befand Oehlmann. Zu begrüßen sei indes eine bundeseinheitliche Präventionsstrategie, „die aber nicht ohne die Beteiligung zivilgesellschaftlicher Akteure umgesetzt werden kann“.

Mit Blick auf die islamistische Bedrohung der freiheitlichen Ordnung enthalten die beiden Anträge aus Sicht des Politikwissenschaftlers Michael Henkel eine Reihe angemessener Forderungen und Diagnosen. Zugleich blieben sie aber hinsichtlich einer Ausschöpfung denkbarer Instrumente hinter den Möglichkeiten zurück. So werde beispielsweise die Problematik der Milieus und des sozialen Umfeldes in den Vorlagen erkannt, die eine Radikalisierung begünstigen und einen Nährboden für Islamismus darstellen können. Dass die Politik auf den Gebrauch der deutschen Sprache in Moscheen hinwirkt, werde gleichwohl nicht verlangt. Ebenso sei die Idee eines wirksamen nationalstaatlichen Grenzschutzes, durch den eine Einreise von Islamisten oder islamistischen Gefährdern unterbunden werden könnte, beiden Anträgen fremd.

Sowohl der Vizepräsident des Bundeskriminalamtes (BKA), Jürgen Peter, als auch Sinan Selen, Vizepräsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, machten deutlich, dass nach wie vor mit dschihadistisch motivierten Gewalttaten gerechnet werden müsse und es keine Entspannung der Bedrohungslage gebe. In den vergangenen fünf Jahren habe es in Deutschland neun Terroranschläge gegeben mit 14 Todesopfern und rund 100 Verletzten, sagte BKA-Vizepräsident Peter. Zwölf Anschläge seien durch die Sicherheitsbehörden verhindert worden oder seien gescheitert. Im Kontext des islamistischen Terrorismus würden aktuell 1.215 Ermittlungsverfahren geführt - im Jahr 2015 seien es 642 gewesen. Die Anzahl der Gefährder liege bei 570 (2015: 446). Peter hält die deutschen Sicherheitsbehörden im Bereich der Terrorismusabwehr sowie im Falle eines Anschlages für „grundsätzlich adäquat aufgestellt“.

Der Vizepräsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz ergänzte die Zahl von 28.700 Islamisten, die im Jahr 2020 gezählt worden seien. „Das zeigt, dass sich die Interaktion, die Vernetzung von Islamisten nicht abgeschwächt hat“, sagte Selen. Auch während der Pandemie bleibe die Szene im virtuellen Raum vernetzt und agiere weiterhin. Die Aktivitäten reichten von der Verfestigung extremistischer Ideen über Spendenaufrufe „bis hin zur Aufforderung, Aktionen gegen Feinde des Islam durchzuführen“. Personen, die aktiv werden wollen, erhielten einen brandgefährlichen Support, sagte er. Ein einzeln agierender Täter sei also nicht wirklich allein. Die Unterstützung komme auch von der Terrororganisation „Islamischer Staat“ (IS), die sich seiner Einschätzung nach derzeit reorganisiere, sagte der Vizepräsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz.

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