„Hilfeschrei“ des DOSB für den Kinder- und Jugendsport
Berlin: (hib/HAU) Der Deutsche Olympische Sportbund (DOSB) fordert vor dem Hintergrund des angekündigten Infektionsschutzgesetzes „eine Privilegierung der bis 14-Jährigen, damit sie wieder Sport treiben können“. Das machte Andreas Silbersack, Vizepräsident Breitensport beim DOSB, am Mittwoch vor dem Sportausschuss deutlich. „Wir produzieren ansonsten eine verlorene Generation“, warnte Silbersack. Wenn Kinder und Jugendliche - wie jetzt im Corona-Lockdown zu beobachten - sich daran gewöhnen, von früh bis abends vor dem Computer zu sitzen, „verabschieden sie sich von Bewegung“. Damit verabschiedeten sich die Betroffenen auch von einem „bewegten und gesunden Leben“ in der Zukunft, machte der DOSB-Vertreter in seinem von ihm als „Hilfeschrei“ bezeichneten Wortbeitrag deutlich.
Grundlage der Anhörung des Sportausschusses war der von der Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung initiierte Vierte Deutsche Kinder- und Jugendsportbericht. Demzufolge bewegen sich Kinder und Jugendliche in Deutschland - auch ohne Corona - im Alltag zu wenig. Die Mehrheit der Heranwachsenden in Deutschland erfülle die Bewegungsempfehlungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) nicht, heißt es in dem Bericht. Besonders dramatisch treffe dies auf weibliche Jugendliche zu. Der Bewegungsmangel habe Auswirkungen auf die motorische Leistungsfähigkeit von Kindern und Jugendlichen, die heutzutage deutlich geringer als in früheren Jahren sei.
Professor Christoph Breuer von der Deutschen Sporthochschule in Köln, Hauptkoordinator bei der Erstellung des Berichts, sagte vor den Abgeordneten, der Corona-Lockdown verschärfe die Zunahme von Bewegungsmangel und sozialer Ungleichheit im Sport. Der Bericht weise aber auch auf noch ungenutzte Potenziale hin. So müsse die Rolle von Bewegung in Schulen neu gedacht werden. Auch dürften chronisch kranke Kinder nicht länger überbehütet werden. Die Digitalisierung, so Breuer, werde im Bericht nicht nur als Problem gesehen, sondern auch als Möglichkeit, Anreize zu mehr Bewegung zu setzen. Aus den Befunden würden sich zahlreiche bundespolitische Implikationen ergebe, sagte Breuer weiter. So müsse in Städtebauprogrammen darauf geachtet werden, das Bewegungsanreize für Kinder und Jugendliche im Alltag ausgebaut und systematisch berücksichtigt werden.
Ein bewegtes Kinderleben bestehe aus zwei Säulen, sagte Kerstin Holz, Vorsitzende der Deutschen Kinderturn-Stiftung: Ein bewegter Alltag und eine qualifizierte Ausbildung motorischer Grundlagen. Diese werde ebenso wie eine Leseausbildung benötigt, sagte Holz. Für die motorische Grundlagenausbildung müssten Kinder in Kitas und Schulen ausreichend Platz finden, was derzeit nicht der Fall sei. Für qualifizierte Angebote brauche es aber auch qualifizierte Fachkräfte, betonte die Vorsitzende der Deutschen Kinderturn-Stiftung. Daher müsse die Kooperation zwischen Schulen, Kitas und Vereinen ausgebaut werden. Seit einem Jahr, so Holz weiter, fehle den Kindern angesichts der Corona-Einschränkungen ein qualifiziertes Bewegungsangebot. Daher müssten die Außen-Sportanlagen geöffnet und das Kinderturnen ins Freie geschickt werden. „Kinder haben ein Recht auf eine bewegte Kindheit“, sagte Holz.
Sören Dallmeyer, Sportwissenschaftler an der Deutschen Sporthochschule in Köln, machte deutlich, dass für einkommensschwache Familien die mit der Sportausübung verbundenen Kosten eine ernsthafte Barriere darstellen könnten. Eine Überprüfung des Teilhabepaktes, das einen Betrag von 15 Euro pro Monat für Sport enthalte, sei wünschenswert, sagte er. Nur 15 Prozent der Antragsberechtigten nutzte zurzeit diese Zuschüsse, was mit der geringen Höhe und der relativ hohen Schwelle bei der Beantragung zu erklären sei.
Professor Nils Neuber von der Universität Münster forderte einen Neustart beim Kinder- und Jugendsport. Benötigt werde eine Qualitätsoffensive für den Kinder- und Jugendsport. Damit könnten eine Lobby geschaffen aber zugleich auch die Potenziale des Sports genutzt werden, „um die Gesellschaft insgesamt neu aufzustellen“. Gesetzt werden müsse auf kommunale und niederschwellige Angebote für benachteiligte Kinder und Jugendliche, sagte der Sportpädagoge. Der Bund, so seine Forderung, müsse für systematische Vernetzungsstrukturen sorgen und so die ressortübergreifende Zusammenarbeit von öffentlichen und zivilgesellschaftlichen Akteuren ermöglichen.
Lars Pickardt, Vorsitzender der Deutschen Behindertensportjugend, bemängelte, dass es in dem Bericht ein eigenes Kapitel zum Thema „Inklusion im Kinder- und Jugendsport“ gebe und in anderen Kapiteln, die Kinder und Jugendliche mit Behinderung ebenso betreffen, überhaupt nicht auf das Thema Inklusion eingegangen werde. Dies zeige deutlich, „dass diese Themen nicht ausreichend berücksichtigt sind“. Der organisierte Kinder- und Jugendsport sei aber schon ein Stück weiter, „als in diesem Bericht dargestellt oder auch nicht dargestellt“, sagte Pickardt.
Aus der Sicht von Benjamin Folkmann, Zweiter Vorsitzender der Deutschen Sportjugend, bestätigt der Bericht, dass sozialer Status der Eltern Teilhabe und Engagement von Kindern im Vereinssport bedingt und dass beispielsweise soziale Ungleichheiten und Bewegungsmangel zusammenhängen. Aus diesen Gründen müsse der Zugang zum Sportverein niedrigschwellig sein, forderte er. Auch Folkmann verlangte einen Neustart beim Kinder- und Jugendsport. Es gelte, das Thema als Querschnittsaufgabe über alle gesellschaftlichen und politischen Bereiche hinweg zu begreifen.
Als Vertreter der Sportministerkonferenz (SMK) betonte Randolf Stich (SPD), Staatssekretär im rheinland-pfälzischen Innenministerium, die hohe Bedeutung des Sports in Kitas und Schulen. Sport und Bewegung müssten für Kinder und Jugendliche aber auch in der Freizeit durch die Sportorganisationen stattfinden. „Es geht um die bewegte und gesunde Zukunft unserer Kinder“, sagte er.