Digitale und analoge Gewalt kaum zu trennen
Berlin: (hib/LBR) Bedrohung, Beleidigung, Identitätsdiebstahl, heimliche Aufnahmen - digitale Gewalt ist oft eng verknüpft mit analoger Gewalt oder es kommt zu einer Vermischung. Dabei haben Staat, Wirtschaft und Gesellschaft die Pflicht, sich schützend an die Seite der Opfer zu stellen. Zu dieser Einschätzung kam eine Mehrzahl der Sachverständigen in der öffentlichen Anhörung des Ausschusses Digitale Agenda zum Thema „Digitale Gewalt gegen Frauen und Mädchen“. Dazu lag auch ein Antrag (19/25351) der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Digitale Gewalt gegen Frauen“ vor.
Dirk Heckmann vom Lehrstuhl für Recht und Sicherheit der Digitalisierung der Technischen Universität München betonte, dass digitale Gewalt immer von Menschen ausgehe. „Die Anwendungen sind nur ein Mittel zum Begehen der Straftat“, sagte Heckmann. Es gebe eine Breiten- und Tiefenwirkung bestimmter Straftaten, die das Leiden der Opfer erheblich verstärken können. Die Rechtsordnung reagiere zudem bislang nur unvollkommen auf die diversen Phänomene und erzeuge auch nicht die intendierte Schutz- oder Präventionswirkung. Es müsse daher sowohl über neue Straftatbestände und Schutzmaßnahmen als auch über weitere Schritte außerhalb des Strafrechts, wie etwa über die Verbesserung des Persönlichkeitsschutzrechts, nachgedacht werden.
Johannes-Wilhelm Rörig (Unabhängiger Beauftragter für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs) betonte, dass das Ausmaß an digitaler Gewalt enorm sei. Zwei Drittel der Opfer sexueller Gewalt seien Mädchen. „Das Internet befeuert sexuelle Gewalt“, sagte Rörig. 2019 sei ein Anwachsen der Fälle um 65 Prozent festgestellt worden. Immer öfter komme es zu gefilmtem sexuellen Missbrauch, der weltweit konsumiert werde. Auch erleichtere das Netz die Anmache von Mädchen und Jungen, indem die Türen zu den Kinderzimmern digital offen stünden. Es bestünden zahlreiche psychische Belastungen bis hin zur Suizidgefahr. Er plädiere deshalb für einen „expansiven Ausbau der schulischen Medienpädagogik von der 1. bis zur 10. Klasse.
Friederike Behrendt (Cyberstalking-Beratung) sagte, es brauche mehr Aufklärung und Bewusstsein in der Gesellschaft. Frauen müssten zudem ermutigt werden, sich mehr mit IT-Sicherheitsthemen zu befassen. Oftmals fänden Frauen wenig Unterstützung oder machten etwa negative Erfahrungen beim Anzeigen von Straftaten. Verfahren würden schnell eingestellt, technische Geräte oftmals nicht forensisch untersucht - es fehle an Ressourcen in Polizei und Justiz. Auch im Digitalen sei die “Trennungsphase eine Hochrisikophase„, sagte sie.
Auch die Sachverständige Ann Cathrin Riedel (LOAD e.V., Verein für liberale Netzpolitik) betonte, der mediale Diskurs fokussiere sich oftmals zu stark auf Hate Speech. Es gebe diverse Phänomene digitaler Gewalt. “Frauenhass ist nebst Antisemitismus und Rassismus eines der drei großen Leitmotive von Rechtsextremisten„, sagte sie. Ein enormes Problem sei die Rechtsdurchsetzung, die Vorratsdatenspeicherung sei hingegen aber keine probate Lösung. Es brauche vielmehr einen massiven Kapazitätsaufbau bei der digitalen Forensik sowie Fort- und Weiterbildungen und eine Modernisierung bei Justiz und Polizei, damit sich etwa Verfahren beschleunigten.
Auch Katja Grieger (Bundesverband Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe) verwies auf einen Anstieg der Nachfrage bei den Beratungsstellen. Oft liege eine Kombination von analoger und digitaler Gewalt vor, wie etwa Stalking nach einer Trennung oder das Androhen des Veröffentlichens bildbasierter sexueller Gewalt. Dies reiche vom Einsatz von Spionage-Software über zunächst einvernehmlich erstellte Bilder bis zu solchen, die heimlich etwa in Umkleidekabinen erstellt wurden und sich oft plattformübergreifend verbreiteten. Grieger verwies auch darauf, dass das Ohnmachtsgefühl Betroffener sich oft über einen langen Zeitraum perpetuiere und die Scham zu einer sozialen Isolierung führe.
Josephine Ballon von HateAid berichtete, dass Frauen ihrer Beratungserfahrung nach die größte und am stärksten betroffene Gruppe stellten. “Ziel ist es oftmals, Frauen mundtot zu machen„, sagte sie. Überwiegend gebe es dabei keine persönliche Beziehung zwischen den betroffenen Frauen und den Tätern. Formen seien etwa Kommentare in Netzwerken, das Preisgeben persönlicher Informationen, was analoge Bedrohung nach sich ziehen könne oder auch das Versenden sogenannter Dickpics etwa über Nachrichten, die sich selbst löschen. Ballon plädierte dafür, Online-Plattformen stärker zur Verantwortung zu ziehen und den Anwendungsbereich vom Netzwerkdurchsetzungsgesetz auszuweiten.