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„Bundeswehr schrumpft“ – Interview, 20.04.2024

Tageszeitungen liegen aufgefächert auf einer schwarzen Unterlage.

(© Presse- und Informationsamt der Bundesregierung)

Interview mit der Wehrbeauftragten in der „Berliner Morgenpost“ vom 20. April 2024

„Bundeswehr schrumpft“

„Erst der russische Überfall auf die Ukraine, jetzt die Eskalation im Nahen Osten. Wie darf man sich die Stimmung in deutschen Kasernen vorstellen, Frau Högl?

Eva Högl: Die Soldatinnen und Soldaten wissen ganz genau, wie ernst die Lage ist. Sie kennen ihren Auftrag und nehmen ihn hochprofessionell an: ohne übertriebene Nervosität, aber mit angemessener Anspannung. Die Bundeswehr ist enorm gefordert. Wir haben eine wirkliche Belastung der Truppe – bis hin zur Überlastung. Es mangelt an Material und Personal. Daher werbe ich dafür, Aufträge abzubauen und Einsätze zu beenden. Es geht nicht immer alles.

Was genau würden Sie beenden?

Die Nato-Unterstützungsmission in der Ägäis. Mit einem deutschen Kriegsschiff an der türkischen Küste zu patrouillieren, um Fluchtrouten zu überwachen, halte ich für entbehrlich. Zumal die Marine derzeit viele Aufträge hat – in Nord- und Ostsee, vor dem Libanon, im Roten Meer bis hin zur Fahrt in den Indopazifik.

Könnte die Bundeswehr neue Aufgaben im Nahen Osten übernehmen? Der Iran hat Israel angegriffen. Und Israels Sicherheit – das hat Kanzler Scholz bekräftigt – ist deutsche Staatsraison.

Die Staatsraison darf keine leere Floskel sein. Wir müssen das unterfüttern mit konkreter Hilfe und Unterstützung.

Beispiele, bitte.

Deutschland war nicht ganz unbeteiligt bei der Abwehr der iranischen Drohnen und Raketen. Die Luftwaffe hat bei der Betankung französischer Kampfjets im Rahmen der Operation “Inherent Resolve„ geholfen. Außerdem leistet die Bundeswehr einen wichtigen Beitrag, damit humanitäre Hilfe im Gazastreifen ankommt. Wichtig ist auch, dass die Fregatte “Hessen„ die Handelsrouten im Roten Meer vor den Angriffen der Huthi-Milizen schützt. Wenn es die Lage gebietet, und Israel um weitere Unterstützung bitten sollte, braucht es eine Debatte, wie diese konkret – zivil wie militärisch – aussehen kann.

Bei der Ukraine-Hilfe ist die Diskussion in vollem Gang. Kann Deutschland weitere Waffen liefern, ohne die Bundeswehr zu schwächen?

Wir müssen die Ukraine mit allem unterstützen, was irgendwie noch verkraftbar ist. Das sehen unsere Soldatinnen und Soldaten genauso – auch wenn es große Lücken reißt wie jetzt beim Abwehrsystem Patriot. Umso wichtiger ist es, diese Lücken schnell zu schließen. Die rote Linie ist die eigene Einsatzbereitschaft.

Der Bundeswehr?

Die Einsatzbereitschaft der Nato insgesamt. Wenn wir Fähigkeiten abgeben, müssen wir schauen, dass wir im Bündnis verteidigungsfähig bleiben. Die dänische Ministerpräsidentin Frederiksen hat gesagt: Dänemark braucht keine Artillerie mehr, aber die Ukraine braucht sie, also gebe ich alles ab. Das ist eine starke Haltung, und die ist angemessen.

Die Bundeswehr ist dabei, eine Kampfbrigade – 5000 Soldatinnen und Soldaten – dauerhaft in Litauen zu stationieren. Was versprechen Sie sich von dieser Operation an der Grenze zu Russland?

Wir sind jetzt schon als Führungsnation mit 800 Soldatinnen und Soldaten in Litauen präsent. Die Stationierung einer ganzen Brigade ist ein starkes Signal der Unterstützung für das Baltikum. Die Lage gebietet es.

Rückt Deutschland damit mehr in Putins Fadenkreuz?

Im Gegenteil: Die Brigade in Litauen und die militärische Präsenz an der Ostflanke der Nato sind eine wirksame und glaubhafte Abschreckung.

Was brauchen die Soldaten, um ihren Dienst in Litauen zu erfüllen?

Zuallererst: eine Vollausstattung, die von der persönlichen Schutzausrüstung über Nachtsichtgeräte bis zum Panzer reicht. Minister Pistorius hat gesagt, dass rund 5000 Soldatinnen und Soldaten möglichst freiwillig nach Litauen gehen sollen. Das heißt, die Rahmenbedingungen müssen gut sein – auch finanziell. Es muss für Soldatinnen und Soldaten und ihre Familien attraktiv sein, mehrere Jahre im Baltikum zu dienen und zu leben. Dazu gehören ordentliche Unterkünfte, deutsche Schulen und Kindergärten, Arbeitsmöglichkeiten für die Partnerinnen und Partner. Und wenn die Familie nicht mitkommt, muss das Pendeln erleichtert werden. Ich denke an Direktflüge von Vilnius in deutsche Großstädte. Genau darüber wird aktuell unter Hochdruck mit Litauen verhandelt.

Ist die Finanzierung gesichert?

Bisher ist die dauerhafte Stationierung einer Kampfbrigade in Litauen – bis auf eine Anschubfinanzierung – nicht im Verteidigungshaushalt hinterlegt und lässt sich auch nicht ohne Weiteres daraus finanzieren.

Wie teuer wird der Einsatz?

Noch gibt es keine genauen Zahlen, was die Litauen-Brigade kosten wird. Das wird auch davon abhängen, wie viel in die Rahmenbedingungen investiert werden muss.

Woran hakt es? An Finanzminister Lindner?

Über den Haushalt und damit auch über die Finanzierung der Brigade in Litauen wird gegenwärtig in der Bundesregierung und im Bundestag intensiv beraten und verhandelt. Die Brigade ist das Leuchtturmprojekt der Zeitenwende und muss solide finanziert werden.

Brauchen wir ein neues Sondervermögen für die Bundeswehr?

Ein Sondervermögen für innere und äußere Sicherheit ist ein Vorschlag, der gerade diskutiert wird. Ein anderer ist, die Schuldenbremse auszusetzen, entweder grundsätzlich oder gezielt für die Verteidigung. Mir ist wichtig: Die Bundeswehr muss langfristig so finanziert werden, dass sie ihren Auftrag erfüllen kann.

Sie haben einmal gesagt, dass 300 Milliarden Euro nötig seien, um die Bundeswehr voll einsatzfähig zu machen. Ist diese Summe noch aktuell?

Diese Größenordnung ist durchaus noch aktuell. Das ist gut investiertes Geld in Frieden und Freiheit. Die 50 Milliarden aus dem Verteidigungsetat werden in naher Zukunft aufgebraucht allein durch den laufenden Betrieb. Es braucht jedoch weitere Investitionen in modernes Gerät und Personal, also muss der Haushalt aufgestockt werden.

Sollte die Vereinbarung der Nato, zwei Prozent der Wirtschaftsleistung für die Verteidigung auszugeben, nach oben korrigiert werden?

In der Nato sind schon Debatten im Gange, die zwei Prozent als Untergrenze zu sehen. Ob zwei, zweieinhalb oder drei Prozent: Letztlich geht es darum, die Bundeswehr finanziell langfristig so auszustatten, dass sie vollständig einsatzbereit ist.

Im Kalten Krieg hatte die Bundeswehr 500.000 Soldaten. Wie groß muss die Truppe wieder werden?

Wir brauchen mehr Menschen, um uns wirksam verteidigen zu können. Das ist völlig klar. Aber machen wir uns nichts vor: Schon das Ziel, die Bundeswehr bis 2031 von aktuell 181.000 auf 203.000 Soldatinnen und Soldaten zu vergrößern, ist kaum zu erreichen. Gerade ist die Entwicklung sogar rückläufig: Die Bundeswehr schrumpft und wird älter. Es gibt Fortschritte: Das Thema Personal ist ganz oben auf der politischen Agenda, eine Task Force hat vielversprechende Maßnahmen zur Personalgewinnung erarbeitet. Doch: Solange die Kasernen verrotten, es keine Vollausstattung gibt und die Belastung immer weiter zunimmt, ist die Bundeswehr nicht ausreichend attraktiv für junge Menschen.

Hilft eine Wiedereinführung der Wehrpflicht?

Eine Wehrpflicht könnte nicht kurzfristig die Personalprobleme der Bundeswehr lösen. Darauf wäre die Bundeswehr auch gar nicht vorbereitet: Es fehlen Stuben, Ausbilderinnen und Ausbilder, Uniformen und Ausrüstung. Ich bin dafür, Schritte zu gehen in Richtung eines Gesellschaftsjahres für Frauen und Männer, das man auch bei der Bundeswehr machen könnte. Ich halte nichts davon, die alte Wehrpflicht, die 2011 ausgesetzt wurde, wieder einzusetzen. Dass der Verteidigungsminister jetzt konkrete Konzepte ausarbeiten lässt, begrüße ich. Es wäre gut, noch in dieser Wahlperiode eine Grundentscheidung zu treffen – und in der nächsten ein konkretes Konzept umzusetzen.

Die Bundeswehr könnte sich auch für Bewerber ohne deutschen Pass öffnen, um dem Personalmangel zu begegnen. Wie denken Sie darüber?

Bei dieser Idee bin ich zurückhaltend. Soldatin oder Soldat zu sein, ist in Deutschland sehr eng verknüpft mit der Staatsbürgerschaft. Schon seit Gründung der Bundeswehr sprechen wir von Staatsbürgerinnen und Staatsbürgern in Uniform. Aber selbstverständlich sollten mehr Personen mit Migrationsgeschichte in der Bundeswehr dienen.

In Deutschland soll es einen jährlichen Gedenktag für Veteranen geben, darauf haben sich die Ampelfraktionen verständigt. Was ändert ein solcher Veteranentag?

Ich freue mich sehr, dass es einen Veteranentag geben wird. Er muss mit Leben gefüllt werden und zwar so, wie es den Veteraninnen und Veteranen und ihren Familien wichtig ist. Es kommt darauf an, Stolz, Dankbarkeit und Wertschätzung zum Ausdruck zu bringen. Dazu gehört auch konkrete Hilfe, wenn es für die Veteranen und ihre Angehörigen einmal nicht gut läuft. Außerdem ist das Gedenken wichtig: an die Einsätze, an die Gefallenen, an die Verwundeten. Die müssen ein Teil unserer Erinnerung sein. Wir brauchen mehr Veteranenkultur in Deutschland.

Was heißt das? In den USA gibt es oft Ermäßigungen für Veteranen.

Mir geht es vor allem um Dankbarkeit und Respekt sowie die konkrete Unterstützung, wenn einmal Hilfe benötigt wird. Am Berliner Hauptbahnhof gibt es nun ein Veteranenbüro. Solche Initiativen begrüße ich. Und wenn unsere Soldatinnen und Soldaten Lob und Anerkennung erfahren, etwa beim Bahnfahren, oder mal einen Kaffee umsonst bekommen – wunderbar!“

Interview: Jochen Gaugele und Jan Dörner