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„Bei einigen Soldaten kommen zumindest warme Socken an“ – Interview, 25.11.2022

Tageszeitungen liegen aufgefächert auf einer schwarzen Unterlage.

(© Presse- und Informationsamt der Bundesregierung)

Interview mit der Wehrbeauftragten bei Zeit-online vom 25. November 2022

„Bei einigen Soldaten kommen zumindest warme Socken an“

ZEIT ONLINE: Frau Högl, vor knapp einem Jahr hat Bundeskanzler Olaf Scholz die Zeitenwende proklamiert. 100 Milliarden Euro sollen an die Bundeswehr fließen. Bislang scheint davon bei der Truppe nichts angekommen zu sein. Woran liegt das?

Eva Högl: Mir geht das auch alles nicht schnell genug – vor allem bei der persönlichen Ausstattung. Aber gerade bei schweren Waffensystemen dauert es einfach, bis Systeme bestellt, gebaut, geliefert und eingeführt sind.

ZEIT ONLINE: Es geht oft um einfache Dinge wie neue digitale Funkgeräte, die die Soldatinnen und Soldaten dringend brauchen, aber nicht bekommen, obwohl die Milliarden bereitstehen.

Högl: Das stimmt. Aber daran wird auch mit Hochdruck gearbeitet. Ende November wird im Haushalts- und im Verteidigungsausschuss endlich über die Funkgeräte entschieden. Die wären dann das Erste, was aus dem 100 Milliarden Euro schweren Sondervermögen finanziert wird, mit Ausnahme der persönlichen Ausstattung – Schutzwesten und Rucksäcke beispielsweise –, die bereits bestellt ist und bis 2025 eintreffen soll.

ZEIT ONLINE: Es braucht mehrere Jahre, um Rucksäcke zu bestellen und an die Soldatinnen und Soldaten zu verteilen?

Högl: Für die Bundeswehr ist das schon richtig schnell. 2,4 Milliarden Euro hat das Parlament für die persönliche Ausstattung bewilligt. Aber bislang haben sie fast nichts bekommen. Das Geld muss jetzt in der Truppe ankommen.

ZEIT ONLINE: Warum ist das so schwierig, die richtigen Kleidungsstücke in ausreichender Menge zu beschaffen?

Högl: Leider gibt es auch bei der Bundeswehr in den Ämtern manchmal Gleichgültigkeit und Desinteresse bei den zuständigen Beamten: Haben wir nicht, geduldet euch, wird schon nicht so wichtig sein, schicken wir hinterher, so etwas hören die Soldaten ständig. Manche Soldaten kaufen sich deshalb die Ausrüstung privat auf eigene Kosten.

ZEIT ONLINE: In ihrem Jahresbericht 2021 ist zu lesen, dass die deutschen Kräfte in Osteuropa unter den Verbündeten als schwächstes Glied in der Kette gelten.

Högl: Das ist unangenehm, aber leider wahr. Nehmen Sie die alten, analogen Funkgeräte: Mit denen können sie nicht mit internationalen Partnern kommunizieren. Die deutschen Soldaten haben noch Sprechtafeln, manchmal muss auch jemand aus dem Panzer herausschauen und winken oder etwas zurufen. Das ist kein Witz. Das ist Einsatzrealität der Bundeswehr im Jahr 2022. Und gegenüber unseren Verbündeten peinlich.

ZEIT ONLINE: Sie haben bereits nach einem Truppenbesuch in Litauen Alarm geschlagen, dass nicht einmal ausreichend wärmende Unterwäsche vorhanden war.

Högl: Das habe ich bewusst öffentlich gemacht. Und die fehlende Thermokleidung ist kein Einzelfall. Kürzlich war ich beim Jägerbataillon 292 in Donaueschingen. Deren Soldaten verlegen gerade nach Mali und ihnen fehlten unmittelbar vor dem Abflug noch Hosen, Hemden und Schutzwesten in der richtigen Größe. Sie konnten nicht mal in Schutzausrüstung trainieren. Dabei muss im Ernstfall alles sitzen.

ZEIT ONLINE: An Geld mangelt es jetzt ja nun nicht mehr. Was muss sich noch ändern, damit es schneller geht?

Högl: Wir müssen die Beschaffung beschleunigen und Bürokratie abbauen. Bundesverteidigungsministerin Christine Lambrecht hat bereits ein paar Dinge auf den Weg gebracht. So muss nicht mehr jede Ausschreibung europaweit erfolgen, wenn der Kauf für die nationale Sicherheit elementar ist. So wird auch Personal bei der Beschaffungsbehörde für andere größere Projekte frei. Kommandeure haben zudem künftig die Möglichkeit, bis zu 5.000 Euro eigenständig auszugeben.

ZEIT ONLINE: Das klingt nach kleinen Korrekturen. Muss nicht vielmehr das gesamte Beschaffungswesen der Bundeswehr reformiert werden?

Högl: Ich rate davon ab, sich jetzt hinter Strukturreformen zu verstecken. Die zuständigen Mitarbeiter müssen im laufenden Betrieb vor allem ermutigt werden, eigenständiger zu arbeiten, Abläufe zu entschlacken. Die Bundeswehr ist oft völlig in die Bürokratie verstrickt. Die Angst, dass man für etwas verantwortlich gemacht wird, lähmt. Das muss sich ändern. Vorsichtige Reformen finde ich sinnvoll, eine großangelegte Strukturreform würde die Truppe für vier, fünf Jahre bremsen.

ZEIT ONLINE: In der freien Wirtschaft würde man jetzt sagen: Die Bundeswehr braucht McKinsey.

Högl: (lacht) Oh, das Thema hatten wir in der Bundeswehr schon, eine Berateraffäre reicht. Wir haben alles, was man für eine stufenweise Reform braucht, es gibt kein Erkenntnisdefizit: Eine breite politische Mehrheit im Bundestag mit den Parteien der Ampel und der Union stützt die Zeitenwende und alles, was damit verbunden ist. Auch in der Gesellschaft gibt es eine breite Zustimmung zu diesem Kurs.

ZEIT ONLINE: Aber das könnte sich auch schnell ändern. Wenn der Krieg in der Ukraine enden sollte, beispielsweise.

Högl: Die Gefahr besteht in der Tat. Dann wäre die Zeitenwende nur ein Strohfeuer. Deswegen ist diese Legislaturperiode entscheidend. Wir müssen jetzt die Grundlage dafür legen, dass die Truppe voll einsatzbereit und mit modernem Gerät ausgestattet wird.

ZEIT ONLINE: Ist die Bundeswehr derzeit überhaupt auch nur bedingt einsatzbereit?

Högl: Ich sage nicht, dass unsere Soldaten nicht einsatzbereit sind. Aber ausreichend funken können sie beispielsweise nicht. Wegen dieser Lücke ist die Bundeswehr unter anderem nicht vollständig einsatzfähig.

ZEIT ONLINE: Wie nehmen Sie unter diesen Umständen die Stimmung unter den Soldaten wahr?

Högl: Unsere Soldatinnen und Soldaten klagen wirklich wenig. Die sind engagiert und motiviert, trotz der Rahmenbedingungen, unter denen sie ihre Aufträge erfüllen müssen. Aber die Erwartung ist nach der angekündigten Zeitenwende jetzt groß. Bei einigen Soldaten kommen zumindest warme Socken an. Ich sage das ganz ohne Ironie: Es ist gut, wenn die Truppe merkt, dass sich etwas bewegt.

ZEIT ONLINE: Die eine Seite ist die Modernisierung der Bundeswehr, die andere die Waffenlieferungen in die Ukraine. Was halten Sie davon, der Ukraine auch schwere Panzer zu liefern?

Högl: Das größte Problem der Bundeswehr ist, dass wir von fast allem zu wenig haben. Auch bei den Kampfpanzern besteht großer Bedarf. Es ist schwierig, Soldaten auszubilden, wenn die Systeme nicht vorhanden sind. Ich war gerade beim Artilleriebataillon 295 in Stetten am kalten Mark. Die haben gerade zwei Mars-II-Mehrfachraketenwerfer an die Ukraine abgegeben und zwei Panzerhaubitzen. Andere Geschütze sind in der Instandhaltung. Dann wird es langsam knapp bei Ausbildung und Übung.

ZEIT ONLINE: Also kann die Bundeswehr gar nicht mehr liefern?

Högl: Die rote Linie ist die Einsatzbereitschaft der Truppe. Die Bundeswehr muss in der Lage sein, ihren Auftrag zu erfüllen. Es gab vor dem 24. Februar bereits zu wenig, nun ist es noch schlechter geworden, weil Systeme an die Ukraine abgegeben wurden und nichts Neues gekommen ist. Ich befürworte die Abgabe von Schützenpanzern, die bei der Industrie stehen. Die gehören nicht der Bundeswehr und fehlen der Truppe damit auch nicht.

ZEIT ONLINE: Was ist mit Leopard 2. Kann und sollte Deutschland auch die liefern?

Högl: Als Wehrbeauftragte bin ich für die deutschen Soldaten zuständig. Die Waffenlieferungen sind nur mein Thema, wenn es um die Bundeswehr geht.

ZEIT ONLINE: Die deutsche Rüstungsindustrie klagt, dass im Zuge der Zeitenwende vornehmlich im Ausland bestellt werden soll. Ist der Vorwurf berechtigt?

Högl: Wir müssen ein gutes Gleichgewicht finden. Eine möglicherweise schnellere Beschaffung kann nicht zur Folge haben, dass wir alles bei den Amerikanern kaufen. Natürlich können wir auch nicht alles selbst entwickeln, aber wir dürfen die deutsche Rüstungsindustrie nicht komplett vernachlässigen. Die Unternehmen müssen in der Lage sein, weiter in Forschung und Entwicklung zu investieren. Ich finde es außerdem wichtig, dass wir die europäische Zusammenarbeit ausbauen. Als Donald Trump noch Präsident war, haben wir gelernt, dass es nicht gut ist, sich vollständig von den USA abhängig zu machen.

ZEIT ONLINE: Die Bundeswehr braucht nicht nur neue Ausrüstung, sondern auch mehr Personal, mehr Soldatinnen und Soldaten. Wie groß ist das Problem?

Högl: Die Bundeswehr besteht aktuell aus 182.000 Frauen und Männern. Schon jetzt sind 20.000 Dienstposten nicht besetzt. Auch wenn Personen im Zulauf sind, also sich in der Ausbildung befinden, sitzen sie aber nicht zur richtigen Zeit auf dem richtigen Posten. Und das ist ein riesiges Problem. Manchmal haben Einheiten nur 60 Prozent des benötigten Personals. Bis 2031 will das Ministerium auf 203.000 Männer und Frauen wachsen. Dann fehlen aber noch einmal 20.000 weitere Soldaten. Das ist keine einfache Situation für die Bundeswehr.

ZEIT ONLINE: Was kann getan werden, um die Bundeswehr als Arbeitgeber attraktiver zu machen?

Högl: Die Bundeswehr muss ehrlich sagen, was es heißt, Soldatin und Soldat in diesen Zeiten zu sein. Da hilft es nicht, in Internetvideos alles rosa oder himmelblau zu zeichnen. Das ist kein normaler Beruf. Im schlimmsten Fall riskieren Soldaten ihre körperliche Unversehrtheit oder gar ihr Leben. Wichtig ist es auch, schleunigst die Rahmenbedingungen zu verbessern: Die Kasernen sind in keinem guten Zustand. Die Vereinbarkeit von Familie und Dienst ist wichtig. Viele junge Leute wollen für ihre Familien da sein, sich um pflegebedürftige Angehörige kümmern oder gesellschaftlich engagieren und brauchen auch dafür Zeit. Die Bundeswehr ist ein attraktiver Arbeitgeber. Das muss sie stärker deutlich machen und sich modern aufstellen.

ZEIT ONLINE: War es ein Fehler, die Wehrpflicht auszusetzen?

Högl: Ich begrüße, dass der Bundespräsident einen allgemeinen Dienst vorgeschlagen hat und wir darüber eine Debatte führen. Die alte Wehrpflicht nur für Männer werden wir nicht wieder einführen, das müsste dann für alle Geschlechter gelten. Das muss noch kein Pflichtjahr für alle sein. Aber eine verbindlichere Form für alle jungen Leute finde ich diskutabel.

ZEIT ONLINE: Was meinen Sie mit verbindlich? Wollen Sie den jungen Leuten ins Gewissen reden?

Högl: Ich will das Ergebnis der Debatte nicht vorwegnehmen. Zwischen Freiwilligkeit und Verpflichtung kann es viele Optionen geben. Der freiwillige Wehrdienst, den wir haben, ist zwar ein gutes Instrument. Es reicht aber nicht, um den benötigten Nachwuchs für die Bundeswehr zu generieren. Dazu sehe ich eine Notwendigkeit, die Bundeswehr in der Gesellschaft fester zu verankern. Es wäre gut, wenn mehr Personen Kontakt zur Truppe bekommen, als es bisher der Fall ist. Deshalb sollten wir über weitere Angebote diskutieren.

Interview: Hauke Friederichs und Marcus Gatzke