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„Nichts geht schnell“ – Interview vom 20.8.2018

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(© Presse- und Informationsamt der Bundesregierung)

Interview des Wehrbeauftragten in „Das Parlament“ vom 20. August 2018

Herr Bartels, die Bundeswehr will künftig um Schulabbrecher und EU-Ausländer werben. Ist die Personalsituation der Truppe so verzweifelt?

Die Personalsituation ist ohne Zweifel schwierig. Schon für ihre heutige Soll-Struktur hat die Bundeswehr zu wenig Personal, und sie soll ja auch noch ein bisschen größer werden, auf knapp 200.000 Soldatinnen und Soldaten wachsen. Angesichts der Tatsache, dass die Jahrgänge kleiner werden, die Wirtschaft händeringend Fachkräfte sucht und die Landespolizeien ihre Personalbestände ebenfalls erhöhen wollen, wird das selbst mit dem kleinen Aufwuchs also eine sportliche Aufgabe.

Wie viele Soldaten fehlen der Bundeswehr aktuell?

In meinem Jahresbericht für das vergangene Jahr steht die Zahl der unbesetzten Dienstposten für Unteroffiziere und Offiziere: Das sind 21.000. Viele hat das überrascht, aber dieses Problem gibt es schon länger, es ist ein strukturelles. Tatsächlich nützt es nichts, Soldaten formal auf Dienstposten zu setzen, wenn sie vorher erst noch ein Jahr ausgebildet werden müssen. Dann ist der Dienstposten zwar blockiert, aber eigentlich nicht besetzt. Man bräuchte stattdessen mehr sogenannte Schülerstellen.

In welchen Bereichen der Truppe ist der Personalmangel am größten?

Vor allem bei den Spezialisten. Dauerbrenner sind die Riesenlücken bei Rettungssanitätern, Kampfschwimmern oder Kampfmittelbeseitigern. Manche Probleme sind allerdings auch hausgemacht: Wenn man eine neue Verwendungsreihe wie zum Beispiel die Kampfretter der Luftwaffe schafft, dann stehen die bei der Personalgewinnung in Konkurrenz zu anderen infanteristischen Spezialverwendungen. Die Bundeswehr muss aufpassen, dass sie nicht zu viele zu spezielle Verwendungen ausplant, sonst wird sie am Ende in jeder einzelnen mit Personalmangel kämpfen. Besser wäre eine mehrrollenfähige Ausbildung in weniger Verwendungsreihen.

Wenn vor allem Spezialisten fehlen, wie soll dann das Werben um Nachwuchs selbst ohne Hauptschulabschluss helfen?

Das ist ja nichts Neues. Auch in den Zeiten der Wehrpflicht kamen junge Männer ohne Schulabschluss. Und wer sich als Zeitsoldat verpflichtete, konnte seinen Schulabschluss bei der Bundeswehr nachholen. So ist das auch heute. Hier geht es aber wohl auch nur um kleine Zahlen.

Wie groß ist die Chance, dass die Bundeswehr einen Soldaten zum Hauptschulabschluss führt, wenn er den in der Schulzeit nicht geschafft hat?

Groß. Ganz allgemein gilt: Die Bundeswehr ist eine wunderbar vielfältige Bildungseinrichtung. Es gibt keinen Arbeitgeber in Deutschland, der so viele unterschiedliche Ausbildungen anbietet, vom Führerschein bis zur Promotion in Raketenwissenschaft. Die Bundeswehr kann jedem ein Angebot machen, auch demjenigen, der erstmal die Schule ohne Abschluss verlassen hat.

Wenn die Ausbildungsmöglichkeiten bei der Bundeswehr so gut sind, wie erklärt sich dann der Mangel an Nachwuchs? Ist das nur ein Vermittlungsproblem in der Öffentlichkeit?

Nein, das liegt in erster Linie am sturzgeburtartigen Wegfall der Wehrpflicht und am wachsenden Konkurrenzkampf mit zivilen Arbeitgebern bei gleichzeitig kleiner werdenden Jahrgängen.

Wäre also die Rückkehr zur Wehrpflicht eine Lösung? In der CDU ist darüber eine Diskussion entbrannt in Form einer allgemeinen Dienstpflicht.

Eine neue Wehrpflichtarmee müsste ganz anders strukturiert sein als die Bundeswehr von heute. Wenn man eine Sollstärke von 198.000 Soldaten anstrebt, was macht man dann mit 250.000 tauglich gemusterten kurz dienenden Wehrpflichtigen jedes Jahr? Die Idee eines Dienstes für die Gesellschaft ist zwar prinzipiell sympathisch, aber als Pflicht stößt sie verfassungsrechtlich an Grenzen. Bislang war ein Zwangsdienst ausschließlich zum Zweck der Verteidigung erlaubt. Der zivile Ersatzdienst wurde daraus abgeleitet. Praktikabel wäre heute allenfalls eine Auswahlwehrpflicht, wie sie bereits im Jahr 2000 von der Weizsäcker-Kommission vorgeschlagen wurde, und wie sie nun in Schweden eingeführt wird. Das heißt, jeder Wehrpflichtige wird gemustert und dann befragt, ob er den Wehrdienst leisten möchte. Von den Tauglichen und Willigen werden dann so viele gezogen, wie der Personalbedarf der Streitkräfte erfordert. Heute die alte allgemeine Wehrpflicht wieder zu reaktivieren, wäre enorm aufwändig! Dafür gibt es keine militärischen Strukturen mehr, keine Ausbilder, keine Ausrüstung und keine Unterkünfte. Mal ganz abgesehen von den veränderten Aufgaben.

Die Möglichkeit eines freiwilligen Wehrdienstes existiert ja in der Bundeswehr. Wäre durch eine solche Auswahlwehrpflicht eine höhere Rekrutierungsquote zu erwarten?

Im Prinzip, glaube ich, ja. Es macht einen Unterschied, ob man auf dem freien Markt werben und rekrutieren muss, oder ob ein ganzer Jahrgang von Wehrpflichtigen nach der Musterung vor die Entscheidung gestellt wird, ob man Dienst leisten will oder nicht. Aber das ist Theorie. Und ich empfehle das nicht für heute. Das Gebot der Stunde lautet, den Dienst in der Bundeswehr so attraktiv wie möglich zu machen, Stichworte: gute Ausrüstung, Vereinbarkeit von Dienst und Familie, Pendlerfreundlichkeit.

Und wie sieht es mit dem Dienst von EU-Ausländern in der Bundeswehr aus? Ist es nicht problematisch, ohne die entsprechende Staatsangehörigkeit in einer Armee zu dienen?

Rechtlich ist das kein großes Problem. Schon heute gibt es in 15 Landespolizeien und in der Bundespolizei die Möglichkeit für EU-Bürger, deutsche Beamte zu werden. Das entspricht dem europäischen Geist und den europäischen Verträgen. Allerdings sollte man sich beim Militär in Europa nicht gegenseitig das Personal abspenstig machen, wenn etwa in einem anderen Land noch die Wehrpflicht besteht.

Wenn die Bundeswehr die avisierte Sollstärke nicht erreicht, wäre es dann nicht vernünftiger, sie zu reduzieren, um auch alle Dienstposten besetzen und die Truppe auch ausreichend finanzieren und ausrüsten zu können?

Personal und Material sollte man nicht gegeneinander ausspielen. Auch eine um sieben Prozent vergrößerte Truppe muss zu einhundert Prozent ausgerüstet sein. Mit der Verdopplung der Aufgaben seit 2014 kommt die Bundeswehr auf ihrem jetzigen Stand längst nicht mehr zurecht. Bis 1990 hieß die Aufgabe nur Landes- und Bündnisverteidigung. Nach 1990 gab es eigentlich nur noch Auslandseinsätze außerhalb des Bündnisgebietes, „out of area“. Und seit 2014 soll die Bundeswehr nun diese beiden Aufgaben gleichzeitig leisten. Deshalb wird man um ein Auffüllen der hohlen Strukturen bei Personal und Material nicht herumkommen. Die Einsatzbereitschaft ist der Maßstab.

Die Einsatzbereitschaft der Bundeswehr leidet stark unter der Beschaffung von Waffensystemen, die seit vielen Jahren verspätet und teurer als geplant geliefert werden und auch nicht immer den Anforderungen entsprechen. Lässt sich die Politik von der Rüstungsindustrie an der Nase herumführen?

Im Beschaffungswesen hat sich ein Absicherungsdenken entwickelt, das alles lähmt. Auch Einfaches wird kompliziert gemacht. Nichts geht schnell. Rüstung ist ein elementarer Bestandteil von Verteidigungspolitik. Wir brauchen in Deutschland und Europa eine funktionstüchtige wehrtechnische Basis. Und wir brauchen ein leistungsfähiges Beschaffungsmanagement. Es gab in der Vergangenheit schon den einen oder anderen Reformansatz, aber ich sehe noch keine wirkliche Verbesserung. Im Koalitionsvertrag hat man sich zu Vereinfachung und Beschleunigung bekannt, das muss jetzt operationalisiert werden. Wenn einhundert gebrauchte Kampfpanzer für die Bundeswehr nachgerüstet werden sollen, dann darf das nicht sieben Jahre dauern.

Man müsste es sich aber auch nicht gefallen lassen, wenn sich die Zulieferung wie im Fall des A400M verzögert, weil Airbus Mitarbeiter von dem Projekt abzog, um den A380 zu produzieren. Müssten in solchen Fällen dann nicht auch Konsequenzen gezogen werden?

Man hat sich sogar gefallen lassen, dass Airbus den ausgehandelten Vertrag Jahre später wieder aufgeschnürt und mehr Geld gefordert hat. Die Frage in einer solchen Situation heißt dann aber auch: Welche Alternativen gibt es? Will man stattdessen in den USA kaufen? Oder in der Ukraine? In Frankreich wurde übrigens der A400M deutlich früher geflogen als bei uns. Das liegt wohl auch an unterschiedlichen Abnahmeverfahren. Wenn man aber schon ein gemeinsames europäisches Rüstungsvorhaben auf den Weg bringt, sollte man sich auch auf ein gemeinsames Abnahmeverfahren einigen.

Deutschland hat sich in der Nato verpflichtet, zwei Prozent des Bruttoinlandsproduktes für Verteidigung auszugeben. Dies würde derzeit Ausgaben von mehr als 65 Milliarden Euro bedeuten. Ist dies realistisch oder überhaupt notwendig?

Der Konsens in der Koalition, bis 2024 rund 1,5 Prozent zu erreichen, scheint mir realistisch. Damit können nach meiner Wahrnehmung viele Probleme der Bundeswehr gelöst werden. Dass man jetzt sehr schnell noch sehr viel mehr Geld ausgeben könnte, halte ich für unwahrscheinlich. Entscheidend ist ja nicht der gesamte Verteidigungsetat von derzeit 38,5 Milliarden Euro, sind nicht die fünf Milliarden für Pensionen oder die drei Milliarden für Mieten - die bleiben stabil, sondern entscheidend ist der militärische Beschaffungsanteil. Der liegt heute bei sechs Milliarden Euro und muss nun deutlich - vielleicht auf zehn, zwölf oder 14 Milliarden Euro - erhöht werden, um die Lücken bei Waffensystemen und moderner Ausrüstung zu schließen. Dafür braucht man dann eine entsprechend leistungsfähige Bürokratie, die Beschaffungsvorhaben in dieser Größenordnung auch bewältigen kann. Während des Kalten Krieges, etwa 1984, hatten wir eine BIP-Quote von 3,3 Prozent, derzeit liegen wir mit 1,2 Prozent bei ungefähr einem Drittel davon. Das ist definitiv zu wenig. Uns steht aber heute auch nicht mehr der Warschauer Pakt gegenüber. Für die militärischen Fähigkeiten, die Deutschland im Dezember 2017 der Nato für das kommende Jahrzehnt gemeldet hat, werden nun Verteidigungsausgaben in Höhe von mindestens 1,5 Prozent unseres BIP sicher dauerhaft benötigt.

Das Interview führte Alexander Weinlein.