Worte von Bundestagspräsidentin Bärbel Bas vor Eintritt in die Tagesordnung zur Erinnerung an 35 Jahre Mauerfall
Präsidentin Bärbel Bas:
Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich wünsche Ihnen allen einen guten Morgen. Die Sitzung ist eröffnet.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir erleben turbulente Tage. Uns alle beschäftigen die Ereignisse vom Mittwochabend und auch die Wahlen in den Vereinigten Staaten und ihre Folgen. In diesem Moment besinnen wir uns auf die Wegmarken unserer Geschichte und vergewissern uns unserer Werte, wie sie im Grundgesetz verankert sind.
Wir erinnern heute an 35 Jahre Mauerfall, an den 9. November 1989: Ost- und Westdeutsche liegen sich in den Armen, feiern und können nicht glauben, was sich vor ihren Augen abspielt. Wer Dokumentationen jener Nacht sieht, hört ein Wort immer wieder: Wahnsinn!
Vor 35 Jahren fiel die Mauer. Sie verlief nur wenige Meter hinter dem Reichstagsgebäude - quer durch die heutigen Liegenschaften des Bundestages. Reste der Mauer finden sich im Mauer-Mahnmal im Marie-Elisabeth-Lüders-Haus. Dort zeigt der Bundestag seit diesem Dienstag ein fotografisches Panorama der früheren Mauer.
Historiker betonen: Die Mauer fiel nicht in sich zusammen. Sie wurde zum Einsturz gebracht - von mutigen Ostdeutschen, die im Herbst 1989 Woche für Woche auf die Straßen gingen
(Beifall im ganzen Hause)
und unter großem persönlichem Einsatz demonstriert haben: für Bürgerrechte, für Freiheit und für Demokratie. Ohne den Mauerfall wäre die Wiedervereinigung nicht möglich gewesen.
Die Wiedervereinigung war auch eine außergewöhnliche parlamentarische Leistung: der damaligen Bundestagsabgeordneten und der Abgeordneten der letzten Volkskammer der DDR, die im Frühjahr 1990 zum ersten Mal frei gewählt worden war. In nur 180 Tagen ebnete die Volkskammer den Weg zu Demokratie und Rechtsstaat und fasste den Beschluss, der Bundesrepublik beizutreten.
Ich bekräftige gern, was ich in der Feierstunde zu 75 Jahre Deutscher Bundestag gesagt habe:
„Die Ostdeutschen haben mit der Friedlichen Revolution der Demokratie in ganz Deutschland einen großen Dienst erwiesen.“
(Beifall im ganzen Hause)
Und ich füge heute hinzu: Sie haben damit auch der ganzen Welt ein Vorbild für eine friedliche Revolution gegeben.
Für unser Land war die Wiedervereinigung ein Glücksfall, auch wenn Deutsche in Ost und West ihre Folgen ganz unterschiedlich erlebten. Für die meisten Westdeutschen ging der Alltag weiter. Für viele Ostdeutsche war der Umbruch mit großen Härten verbunden: Sie mussten sich ein neues Leben aufbauen. Das ist eine beeindruckende Leistung, die große Anerkennung verdient - nicht nur an einem Jahrestag.
(Beifall im ganzen Hause)
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der 9. November steht auch für den moralischen Tiefpunkt der deutschen Geschichte. 1938 brannten Synagogen, wurden jüdische Geschäfte geplündert und Wohnungen zerstört. Juden wurden massenhaft verschleppt. Hunderte kamen zu Tode. „Am 9. November 1938 hat Deutschland das Tor zu Auschwitz aufgestoßen“. Das sagte Charlotte Knobloch hier im Jahr 2021 in der Gedenkstunde für die Opfer des Nationalsozialismus.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind uns der Verantwortung bewusst, die aus der Shoah erwächst, besonders da sich Judenhass in unserer Gesellschaft in einem erschreckenden Ausmaß zeigt. Das gilt nicht nur für Deutschland. Gerade erst heute Morgen sehen wir schockierende Bilder aus Amsterdam von unerträglicher Gewalt gegen israelische Fußballfans.
Wir haben gestern einen Antrag zum Schutz jüdischen Lebens mit einer breiten Mehrheit hier im Hause verabschiedet. Das ist ein Zeichen der Geschlossenheit und der Entschlossenheit, auf das Jüdinnen und Juden in unserem Land gewartet haben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es gibt auch noch einen dritten 9. November, der mit unserer Geschichte aufs Engste verbunden ist. Von einem Balkon unseres Reichstagsgebäudes rief Philipp Scheidemann die Republik aus. Er appellierte an die versammelten Menschen:
„Sorgen Sie dafür, dass die neue deutsche Republik … nicht durch irgendetwas gefährdet werde!“
Zitat Ende. - Unsere Republik ist heute nicht mehr neu. Scheidemanns mahnende Worte aber sind immer noch aktuell. Gerade am 9. November, diesem vielschichtigen Tag der Geschichte unseres Landes, sind sie ein Appell an uns alle: Tragen wir Sorge für unsere Demokratie!
(Beifall im ganzen Hause)