Grußwort von Bundestagspräsidentin Bärbel Bas zur Eröffnung der Tagung „75 Jahre Fraktionen im Deutschen Bundestag“ im Paul-Löbe-Haus
[Es gilt das gesprochene Wort]
Sehr geehrte Frau Professorin Schüttemeyer,
Sehr geehrter Herr Professor Oberreuter,
Sehr geehrter Herr Professor Lammert,
liebe Kolleginnen und Kollegen,
sehr geehrte Damen und Herren!
Herzlich willkommen im Deutschen Bundestag!
Es gibt ein sicheres Mittel, in geselliger Runde Beifall zu bekommen:
Fordern Sie die Abschaffung des sogenannten „Fraktionszwangs“!
Solange Sie nicht in einer Runde mit Parlamentsexpertinnen und -experten sitzen, ist Ihnen große Zustimmung vermutlich sicher.
Eine Umfrage hat einmal ergeben: 77 Prozent der Befragten finden, dass Abgeordnete ihren persönlichen Standpunkt vertreten sollten.
Auch gegen die Linie ihrer Fraktion.
Die Umfrage ist zwar von 2015, also schon ein paar Jahre alt.
Aber mein Eindruck ist, dass sie an Aktualität nichts eingebüßt hat.
Die Menschen wünschen sich Abgeordnete, die für ihre Überzeugungen einstehen.
Auch die Medien lieben das Bild der tapferen „Abweichlerin“ oder des aufrichtigen „Rebellen“, die mit ihrem Gewissen ringen und sich als David gegen Goliath der übermächtigen Fraktionsführung stellen.
Gleichzeitig stören sich viele Menschen an offen ausgetragenem Streit.
Und wünschen sich von der Politik, dass sie schnell und in großer Einigkeit zur perfekten Lösung kommt.
Was leider zu wenig gesehen wird:
Es sind die Fraktionen, die in diesem Spannungsfeld agieren - zwischen freien Mandatsträgern auf der einen Seite und der Notwendigkeit eines mehrheitsfähigen Kompromisses auf der anderen.
Denn das ist das, was im Kern Fraktionen leisten.
Und zwar in aller Regel mit Erfolg.
Im Abgeordnetengesetz heißt es: „Die Fraktionen wirken an der Erfüllung der Aufgaben des Deutschen Bundestags mit.“ Zitatende
Das ist - gelinde gesagt - eine Untertreibung und bildet die parlamentarische Lebenswirklichkeit nicht ansatzweise ab.
Der Bundestag ist ein Arbeitsparlament. Und die Arbeit machen ganz wesentlich die Fraktionen.
Ich würde sogar noch weiter gehen:
Die Fraktionen machen politische Arbeit im Parlament erst möglich.
Sie gewährleisten die Funktionsfähigkeit unseres Parlaments.
Und zwar in erster Linie deshalb, weil die Fraktionen auf Arbeitsteilung ausgerichtet sind und die notwendige Spezialisierung der Abgeordneten erst ermöglichen.
Der Bundestag ist darum nicht nur ein „Arbeitsparlament“.
Er ist auch ein „Fraktionsparlament“.
Meine Damen und Herren,
vor gut einem Monat hat der Bundestag seinen 75. Geburtstag begangen.
In einer Feierstunde haben wir den Erfolg der zweiten deutschen Demokratie gewürdigt.
Der Deutsche Bundestag hat sich über die Jahre zu einem selbstbewussten und mächtigen Parlament entwickelt.
Ein Parlament mit - in der Regel - stabilen Mehrheiten.
Ein Parlament, das über bewaffnete Auslandseinsätze der Streitkräfte entscheidet.
Ein Parlament, das die Regierung trägt UND intensiv kontrolliert.
Das merke ich etwa auf internationalen Konferenzen, die in diesen Krisenzeiten stark an Bedeutung gewonnen haben.
All das wäre ohne selbstbewusste und starke Fraktionen undenkbar.
Meine Damen und Herren,
die Macht einer Fraktion bekam schon der erste Bundeskanzler zu spüren.
Adenauer wird der Satz zugeschrieben: „Für mich ist das Fegefeuer, wenn ich in die Fraktion muss.“
Auch das zeigt: In den Fraktionssitzungen finden keine Befehlsausgaben statt.
Sondern mitunter sehr kontroverse Diskussionen, denen sich auch Regierungsmitglieder stellen müssen.
In der Geschichte des Bundestags sind die Fraktionsvorsitzenden oft sehr selbstbewusst aufgetreten.
Ein bekanntes Beispiel war Peter Struck.
Von ihm stammt der Satz: „Kein Gesetz verlässt den Bundestag so, wie es hereingekommen ist.“
Das berühmte Struck‘sche Gesetz.
Es ist ein geflügeltes Wort geworden – quer durch alle Fraktionen.
Was oft übersehen wird: Peter Struck sagte diesen Satz auch, um den Unmut über ein konkretes Gesetzesvorhaben der Regierung zu besänftigen.
Mit dem Satz zeigte er der Regierung ihre Grenzen auf, aber gleichzeitig stützte er sie.
Das entspricht unserer gelebten Verfassung: Die Mehrheitsfraktionen kontrollieren die Regierung, vertrauen ihr aber auch.
Es gibt hier ein Miteinander – das manchmal Konflikte mit sich bringt.
Aber eben kein Gegeneinander von Parlament und Regierung.
Das ist ein wichtiger, aber manchmal unterschätzter Grund für den Erfolg unserer parlamentarischen Demokratie.
Lassen Sie es mich zuspitzen:
Wer stabile Regierungen möchte, der muss die Mehrheitsfraktionen frühzeitig und umfassend einbinden.
Fraktionszwang!
Oder korrekt: Fraktionsdisziplin – das klingt nach Unterordnung.
Da mag manchmal etwas dran sein.
Wichtiger aber ist: Erst die Arbeit in einer Fraktion und ihre Struktur ermöglicht es den Abgeordneten, effektiv Einfluss zu nehmen.
Die Abgeordneten selbst sehen darum die Fraktionsdisziplin gelassener als die Öffentlichkeit.
Ich möchte einen Parlamentarier zu Wort kommen lassen, der in einem wissenschaftlich-geführten Interview seine Fraktion so beschreibt:
„Viele, viele verschiedene Menschen, viele Fachleute, viele interessante Menschen mit manchmal auch unterschiedlichen Sichtweisen, die sich dann heftig streiten, manchmal nicht auf einen Nenner kommen (…) Aber das sind Konflikte, die auch in der Gesellschaft sind. Die muss man also austragen.“ Zitatende
Meine Damen und Herren,
im Parlament und in den Fraktionen werden diese gesellschaftlichen Konflikte ausgetragen.
In den Fraktionen werden die Kompromisse gefunden, die später im Plenum zur Abstimmung gestellt werden.
Auch darum sind Fraktionen für das Parlament unverzichtbar.
Ich sage das ausdrücklich als Parlamentspräsidentin, die sich für das Ansehen unserer Demokratie verantwortlich fühlt.
Wir müssen die Kunst des Kompromisses wieder mehr schätzen lernen.
Und auch die Orte, wo er ausgehandelt wird.
Meine Damen und Herren,
ich würde Ihnen gern eine zugespitzte Frage für Ihre Diskussion mitgeben:
Sind Fraktionen vielleicht der am meisten missverstandene Teil des Parlamentsbetriebs?
Mein Eindruck ist: Auch nach 75 Jahren Deutscher Bundestag wissen manche Bürgerinnen und Bürger nicht, wie die Arbeit im Parlament funktioniert – und worauf es für gute Politik ankommt.
Natürlich: Keine Bürgerin und kein Bürger ist verpflichtet, eine Parlamentsexpertin oder ein Parlamentsexperte zu werden.
Dennoch würde ich mir mehr Wissen über unser Parlament wünschen.
Umso größer das Unwissen, desto einfacher können Populisten unser Parlament verächtlich machen.
Und die bekannten anti parlamentarischen Reflexe auslösen.
Mein Schlussappell lautet daher: Es ist wichtig, den Parlamentarismus zu erforschen.
Gleichzeitig ist es wichtig, aufzuklären, Vorurteile zu widerlegen und Werbung zu machen für die Institutionen, die den Parlamentarismus am Laufen halten.
Darum freue ich mich über diese Tagung.
Und danke Ihnen allen für Ihren Beitrag.
Ich wünsche Ihnen zwei erkenntnisreiche Tage und ergiebige Diskussionen.