Rede von Bundestagspräsidentin Bärbel Bas zur Eröffnung der Ausstellung I said ,Auf Wiedersehen‘ über die Kindertransporte
[Es gilt das gesprochene Wort]
Exzellenz,
liebe Ruth Ur,
sehr geehrte Frau Leibinger-Kammüller,
Liebe Kolleginnen und Kollegen,
liebe Gäste,
herzlich willkommen!
Ich begrüße Sie zur Eröffnung der Ausstellung „I said ,Auf Wiedersehen‘“.
Schon der Titel deutet es an – es geht in dieser Ausstellung um menschliche Schicksale.
Um Abschied und Hoffnung. Um gebrochene Identitäten, Heimweh und Sprachlosigkeit.
Es ist eine besondere Ausstellung.
Sie zeigt die Geschichte einer bespiellosen Rettungsaktion nach den Pogromen vom 9. November 1938.
Die Bilder brennender Synagogen, zerstörter Geschäfte, misshandelter Frauen, Männer und Kinder gingen vor 85 Jahren um die Welt.
Wer es sehen wollte, wusste: Jüdisches Leben hat im nationalsozialistischen Deutschland keine Zukunft. Wer nicht auswandern oder fliehen konnte, saß in der Falle.
Mindestens die Kinder zu retten – das war das Anliegen einer internationalen Initiative.
Mehr als 10.000 Jungen und Mädchen wurden bis zum Ausbruch des Krieges gerettet.
Die meisten von ihnen fanden Zuflucht
in Großbritannien.
Das britische Parlament hatte spezielle Reisebestimmungen beschlossen.
Die BBC einen Aufruf gestartet, um Pflegefamilien zu finden.
Die Anteilnahme der britischen Bevölkerung war groß.
Das vergessen wir in Deutschland nie.
Sehr geehrte Frau Botschafterin Gallard,
im Namen des Deutschen Bundestages danke ich Großbritannien auch heute bei dieser Ausstellungseröffnung für die Rettungsaktion vor 85 Jahren.
Ich freue mich, dass Sie hier sind!
Vor einigen Wochen haben wir zusammen am Mahnmal in der Friedrichstraße – nicht weit von hier - der Kindertransporte gedacht.
Und mit den inzwischen betagten „Kindern“ von damals und ihren Angehörigen gesprochen.
Das hat mich tief bewegt – ähnlich wie die Begegnung mit den Zeitzeugen der Kindertransporte in London vor einem Jahr.
Ich empfinde es als eine besondere Geste, dass auch heute zwei Zeitzeugen aus Großbritannien zu uns gekommen sind.
Seien Sie herzlich willkommen,
sehr geehrte Frau Pick,
sehr geehrter Baron Dubs!
Ich danke Ihnen sehr für Ihr Kommen
und bin gespannt auf Ihr Gespräch mit
Frau Botschafterin Gallard. Die Kindertransporte haben die Kinder und ihre Familien gezeichnet.
Ich zitiere: „Ich sehe es noch vor mir, wie mich meine Mutter in Prag in den Zug setzt“. Zitatende.
Das haben Sie, sehr geehrter Herr Baron Dubs in einem Interview vor einigen Wochen erzählt.
Die Kinder waren gerettet. Aber herausgerissen aus der vertrauten Umgebung. Häufig ganz allein in einer fremden Umgebung. Sie verstanden die britische Sprache nicht, kannten die Gewohnheiten nicht.
Verehrte Frau Pick,
das einzige englische Wort, das Sie bei Ankunft kannten war „Goodbye“.
So haben Sie ihre Leihfamilie an der Liverpool Street begrüßt, habe ich gelesen.
Die Kinder waren traumatisiert. Sie hatten alles verloren: ihre Eltern, Geschwister, Freunde, das vertraute Umfeld.
Viele verstanden nicht, wieso sie weggeschickt wurden. Manche glaubten, sie wurden von ihren Eltern verstoßen. Die älteren sorgten sich, was mit den Eltern oder Geschwistern passiert.
Briefe waren die einzige Möglichkeit, Kontakt zu halten.
Und nach Ausbruch des Krieges nur noch Korrespondenzkarten über das Rote Kreuz.
Erlaubt waren 25 Wörter. Einmal in drei Monaten!
Und irgendwann kamen keine Nachrichten mehr an.
Sehr geehrte Damen und Herren,
diese Ausstellung erinnert auch an Menschen, die damals für das Leben anderer alles gegeben haben.
Ein Netz von jüdischen und nicht-jüdischen Organisationen war beteiligt. Eine große zivilgesellschaftliche Initiative.
Dazu gehörte das „Kinderkomitee“ von Nicholas Winton.
Oder Geertruida Wijsmuller-Meijer, die in den Niederlanden bis heute verehrt wird.
Sie schaffte es, Adolf Eichmann die Zusage für die Ausreise von 600 Kindern aus Wien abzuringen. Eine zynische Zusage, denn die Auflage war: Sie musste die Transporte in nur fünf Tagen organisieren.
Angesichts der schikanösen bürokratischen Hürden unmöglich.
Es gelang ihr dennoch.
Und „Tante Truus“ machte weiter. Bis zum Ausbruch des Krieges organisierte sie 74 Transporte.
Manche Helferinnen und Helfer verzichteten auf ihre eigene Emigration, um die Kindertransporte vorzubereiten und zu begleiten. Viele wurden später deportiert. Sie bezahlten ihre Hilfsbereitschaft mit dem Leben.
Norbert Wollheim war 25 Jahre alt und selbst auf der Suche nach Fluchtwegen. Trotzdem begleitete er Kinder nach England und kehrte immer wieder zurück.
Er überlebte Auschwitz.
Seine Frau und sein Sohn nicht.
Jedes vierte Opfer der Shoah war ein Kind. 1,5 Millionen Leben. Ihr Schicksal war lange unerforscht. Auch heute ist das Wissen über die ermordeten Kinder immer noch unzureichend.
Sehr geehrte Damen und Herren,
es bewegt mich, dass so viele junge Menschen heute hier sind.
Ihre und Eure Generation gestaltet unsere Erinnerungskultur in Zukunft. Ich begrüße die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der internationalen Jugendbegegnung.
Schön, dass Sie – trotz Bahnstreik – der Einladung des Deutschen Bundestages gefolgt sind. Um gemeinsam über die Vergangenheit nachzudenken. Fragen zu stellen. Und Antworten zu suchen.
Ihr Engagement ist heute vielleicht notwendiger denn je. In einer Zeit, in der viele Jüdinnen und Juden sich bedroht und allein gelassen fühlen.
Seit dem Hamas-Massaker in Israel am 7. Oktober tritt auch bei uns Judenhass mit erschreckender Offenheit zu Tage.
Antisemitische Straftaten sind stark angestiegen!
Antisemitismus zeigt sich nicht nur an den extremen Rändern, sondern auch in der Mitte unserer Gesellschaft. Zum Beispiel bei antisemitischen Verschwörungstheorien.
Das muss für uns alle ein konkreter Auftrag im Alltag sein, Antisemitismus entschieden entgegenzutreten.
Deutschland muss eine sichere Heimat für Jüdinnen und Juden sein und bleiben.
Sehr geehrte Damen und Herren,
diese Ausstellung ist ein Beitrag dazu, das historische Wissen lebendig zu vermitteln. Über Menschen, ihre Biografien, ihre Schicksale.
Sie hilft uns, aus der Vergangenheit Schlüsse zu ziehen. Für die Gegenwart. Denn das Erinnern muss in die Zukunft gerichtet werden.
Das Gedenken soll uns zeigen: Demokratie, Freiheit, Rechtsstaatlichkeit sind kostbare Güter. Sie sind nicht selbstverständlich. Sie müssen immer aufs Neue verteidigt werden. Im Alltag.
Liebe Frau Ur,
liebe Frau Leibinger-Kammüller ,
ich danke Ihnen persönlich wie dem Freundeskreis Yad Vashem und der Berthold Leibinger Stiftung für diese bewegende Ausstellung!
Und ich danke allen, die sie ermöglicht haben. Nicht zuletzt die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Bundestagsverwaltung!