Rede von Bundestagspräsidentin Bärbel Bas zur Eröffnung der Ausstellung „gefährdet leben. Queere Menschen 1933-1945“
[Es gilt das gesprochene Wort]
Sehr geehrter Herr Minister,
liebe Kolleginnen und Kollegen,
liebe Gäste!
Herzlich willkommen im Deutschen Bundestag!
Ich begrüße Sie zur Ausstellung „gefährdet leben. Queere Menschen 1933-1945“.
Sehr geehrter Herr Metzner,
ich danke Ihnen und der Magnus-Hirschfeld-Stiftung herzlich für die Konzeption und die gute Zusammenarbeit.
Liebe Frau Engels,
auch Ihnen danke ich herzlich für Ihren großen Einsatz.
Ganz besonders danke ich den Kuratierenden:
Liebe Frau Eschebach,
Lieber Herr Pretzel,
lieber Herr Steinle,
ich bin auch ganz persönlich sehr gespannt auf diese Ausstellung.
Und lieber Herr Schirdewahn,
es freut mich, Sie hier wiederzusehen.
Ihre Rede bei der Gedenkstunde für die Opfer des Nationalsozialismus am 27. Januar hat mich sehr bewegt.
In dieser Gedenkstunde haben wir erstmals die Menschen in den Mittelpunkt gestellt, die die Nationalsozialisten wegen ihrer sexuellen Orientierung und geschlechtlichen Identität verfolgt haben.
Damit hat der Deutsche Bundestag eine Lücke in unserer Erinnerungskultur geschlossen.
Der queeren Community hat das viel bedeutet.
Auch mir war es ein wichtiges Anliegen. Ebenso allen anderen Mitgliedern des Präsidiums.
Das Gedenken an die verfolgten queeren Menschen war überfällig.
Das ihnen angetane Unrecht wurde lange nicht anerkannt.
Es wurde sogar bewusst verschwiegen und verleugnet.
Aus Scham und Angst haben queere Menschen über ihre Erfahrungen im Nationalsozialismus nicht gesprochen.
Viele Verfolgte starben allein mit ihren Erinnerungen.
Umso wichtiger ist es, sich jetzt mit ihren Schicksalen zu beschäftigen.
Ihre Lebensgeschichten zu rekonstruieren.
Einige Verfolgte werden heute
– posthum – zu Wort kommen.
In Liebes- und Abschiedsbriefen.
Wir werden uns auch mit dem Blick ihres Umfelds auseinandersetzen und Auszüge aus Denunziationen hören.
Liebe Petra Goldkuhle,
lieber Stephan Szasz,
ich danke Ihnen, dass Sie uns aus den zeitgenössischen Dokumenten vortragen.
In der langen Verfolgungsgeschichte queerer Menschen war die Verfolgung im Nationalsozialismus beispiellos.
Gleich zu Beginn ihrer Herrschaft zerstörten die Nationalsozialisten systematisch die queere Subkultur, die sich in einigen großen Städten etabliert hatte.
Sie spannten ein Netz aus Denunzianten, veranstalteten Razzien und schufen ein Klima der Angst und des Verdachts.
Sie trieben queere Menschen in den Untergrund, in Scheinehen, in ein Leben aus Lügen – oder sogar in den Selbstmord.
Vor allem verschärften sie den § 175 des Strafgesetzbuchs, der männliche Homosexualität mit Haft belegte.
Zehntausende Männer wurden auf dieser Grundlage verhaftet und verurteilt.
Tausende queere Menschen in Konzentrationslager deportiert,
wo sie auf einer der untersten Stufen der Häftlingshierarchie standen.
Die Mehrheit von ihnen überlebte die Lager nicht.
§175 zielte auf homosexuelle Männer.
Aber auch lesbische Frauen gerieten in Konflikt mit den Behörden.
Und Menschen, die nicht in die Geschlechternormen passten.
Sie wurden drangsaliert, inhaftiert und ermordet.
Unter vorgeschobenen Straftatbeständen – oder ganz ohne Rechtsgrundlage.
In vielen Fällen wurde auf diese Weise die Verfolgung queerer Menschen unsichtbar gemacht.
Diese Ausstellung überwindet die Kategorien der Täter und zeigt die ganze Vielfalt queeren Lebens im Nationalsozialismus.
Ein Schicksal möchte ich herausgreifen – das von Käthe Rogalli.
Schon in der Weimarer Republik lebte sie als „Transvestit“ – so der Begriff der Zeit, den sie auch selbst verwendete.
Die Nationalsozialisten verboten ihr, Frauenkleider zu tragen.
Sie wurde denunziert – vermutlich von ihrem engsten Umfeld – und für einige Monate im KZ Sachsenhausen inhaftiert.
Später wurde sie erneut festgenommen, vor Gericht gestellt und in die Psychiatrie eingewiesen.
Dort nahm sie sich das Leben.
Wenn Sie gleich durch die Ausstellung gehen: Nehmen Sie sich die Zeit – und beschäftigen Sie sich genauer mit Käthes Geschichte.
Und mit den vielen anderen queeren Biografien in dieser Ausstellung.
Sie finden dramatische Verfolgungsschicksale – aber auch Menschen, denen der Rückzug ins Private und in Scheinehen gelang.
Selbst im Nationalsozialismus blieben hier und da Möglichkeiten der Selbstbehauptung.
Auch das gehört zur Vielfalt queeren Lebens zwischen 1933 und 1945.
Die Ausstellung blickt auch auf die Zeit nach 1945. Das ist wichtig.
Das Ende des Nationalsozialismus bedeutete für queere Menschen keine Befreiung.
Ihre gesellschaftliche Ausgrenzung und die staatliche Diskriminierung gingen weiter.
In beiden Teilen Deutschlands.
Erst Ende der sechziger Jahre wurde erwachsene Homosexualität entkriminalisiert.
Aus dem Strafgesetzbuch gestrichen wurde der §175 erst 1994.
Vor weniger als 30 Jahren.
Liebe Kolleginnen und Kollege,
Liebe Gäste,
nicht weit von hier, am Ufer der Spree, befand sich Magnus Hirschfelds „Institut für Sexualwissenschaft“.
Die Nationalsozialisten verwüsteten das Institut nur wenige Wochen nach der Machtübernahme – in der Ausstellung erfahren wir mehr darüber.
Hirschfeld war seiner Zeit voraus. Bereits 1926 schrieb er, ich zitiere:
„Wir haben kein Recht, einem Menschen, der Weib sein will, zu sagen: ‚Du bist ein Mann‘, oder jemandem, der ein Mann sein möchte, zu befehlen: ‚Bleibe Weib‘“
Zitatende.
In diesen Wochen wird hier im Deutschen Bundestag der Entwurf des Selbstbestimmungsgesetzes beraten.
Fast 100 Jahre nach Hirschfelds Worten.
Es war ein langer Weg.
Am Ziel sind wir immer noch nicht.
Queere Menschen erleben weiterhin Anfeindungen, auch in Deutschland.
Die Statistik verzeichnet sogar einen Anstieg queer-feindlicher Gewalt.
Gedenken bedeutet auch eine Verpflichtung in der Gegenwart.
Der Rechtsstaat muss mit voller Konsequenz auf Gewalt gegen queere Menschen reagieren.
Mehr noch: Unsere gesamte Gesellschaft muss sich dem Hass entgegenstellen.
Dem Hass auf queere Menschen genauso wie dem Hass gegen alle anderen Minderheiten.
Gerade der Antisemitismus der vergangenen Wochen auf unseren Straßen und im Netz haben gezeigt,
wie bitter nötig das ist.
Liebe Kolleginnen und Kollege,
liebe Gäste,
bis zum 15. Dezember wird die Ausstellung „gefährdet leben. Queere Menschen 1933-1945“ hier im Paul-Löbe-Haus gezeigt.
Danach geht sie auf Wanderschaft durch Deutschland.
Sie wird in Gedenk- und Bildungsorten, aber auch in Landtagen oder Rathäusern zu sehen sein.
Vielleicht gibt es auch in Ihren Wahlkreisen eine Gelegenheit, die Ausstellung zu zeigen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Es ist wichtig, dass überall im Land die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit stattfindet und diese Ausstellung einem möglichst breiten Publikum eröffnet wird.
Liebe Kolleginnen und Kollege,
liebe Gäste,
in der Ausstellung wird auch deutlich: Die Unterdrückung im Nationalsozialismus traf die queeren Menschen am härtesten, die zusätzlich aufgrund von Antisemitismus oder Rassismus verfolgt wurden.
Das ruft uns eine Grundvoraussetzung der liberalen Demokratie ins Bewusstsein:
Frei sind wir erst dann, wenn alle Menschen sich frei entfalten können.
Und niemand gefährdet leben muss.
Vielen Dank.