Worte von Bundestagspräsidentin Bärbel Bas vor Eintritt in die Tagesordnung zum 150. Geburtstag von Otto Wels
[Stenografischer Dienst]
Präsidentin Bärbel Bas:
Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich wünsche Ihnen allen einen wunderschönen guten Morgen. Die Sitzung ist eröffnet.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, am 15. September 1873 wurde Otto Wels geboren.
Der Sohn eines Gastwirts erlernte das Tapezierhandwerk, trat als Jugendlicher in die SPD ein und führte die Partei von 1919 bis zu seinem Tod im Pariser Exil 1939, länger als die allermeisten Parteivorsitzenden vor ihm und nach ihm. Nicht nur Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten haben 150 Jahre nach seinem Geburtstag gute Gründe, an den unbeugsamen Demokraten zu erinnern.
Vor 90 Jahren begründete Otto Wels das Nein der SPD-Fraktion zum Ermächtigungsgesetz. Der provisorische Sitzungssaal in der Kroll-Oper war mit Hakenkreuzfahnen verhangen. SA-Männer hatten sich drohend hinter den Abgeordneten postiert. Unter höhnischem Gelächter der nationalsozialistischen Abgeordneten sprach Otto Wels den Satz: „Freiheit und Leben kann man uns nehmen, die Ehre nicht.“ Für mich ist es die mutigste Rede in der Geschichte des deutschen Parlamentarismus.
(Beifall im ganzen Hause)
Seit dem Machtantritt Hitlers war der nationalsozialistische Terror eskaliert. Mehr als 100 Reichstagsmitglieder fehlten bei der Abstimmung. Die Mandate der Kommunisten waren rechtswidrig annulliert worden. Auch ein Teil der SPD-Abgeordneten war bereits verhaftet, geflohen oder ermordet worden.
Die anwesenden sozialdemokratischen Abgeordneten erteilten der Scheinlegalisierung der Diktatur eine Absage. Für den Historiker Heinrich August Winkler retteten sie damit - und ich zitiere - „nicht nur ihre eigene Ehre, sondern auch die Ehre der ersten deutschen Republik.“
Auch den anderen demokratischen Parteien war die Bedeutung ihrer Entscheidung bewusst. Es gab interne Kontroversen und große Bedenken, etwa bei Theodor Heuss von den Liberalen oder bei Zentrumspolitiker Heinrich Brüning. Am Ende setzten sich jene durch, die glaubten, das kleinere Übel zu wählen und die eigene Anhängerschaft zu schützen. - Sie täuschten sich. Alle, auch Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten, unterschätzten die Radikalität der Nationalsozialisten. Niemand hat sich damals vorstellen können, was an Unrecht und Unmenschlichkeit möglich ist.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir können uns nicht auf Unwissenheit berufen. Die freiheitliche Demokratie muss gegen ihre Feinde geschützt werden. Das ist die wichtigste und entscheidende Lehre aus unserer Geschichte.
(Beifall im ganzen Hause)
Bei allen unterschiedlichen Meinungen und Zielen: Jeder einzelnen Bürgerin und jedem einzelnen Bürger muss klar sein, wo die Grenzen der Freiheit liegen und wo unsere Intoleranz als Demokratinnen und Demokraten beginnt! Dort, wo Menschen und Minderheiten Rechte abgesprochen werden, wo Zugehörigkeit sich nach ethnischer Abstammung richten soll, wo Hass geschürt und Gewalt in Kauf genommen wird. Dort, wo das dunkelste Kapitel der deutschen Geschichte verharmlost wird und die Opfer verhöhnt werden, wo die Institutionen unserer Demokratie verächtlich gemacht werden, wo ein vermeintlich einheitlicher Volkswille gegen den demokratischen Pluralismus in Stellung gebracht wird. Hier kann es keine Nachsicht, keine Duldung und keine Rechtfertigung geben.
(Beifall im ganzen Hause)
Dagegen werden wir uns weiter und noch stärker zur Wehr setzen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Jahrzehnte nach der historischen Stunde des 23. März 1933 sagte der erste Ministerpräsident Baden-Württembergs und frühere liberale Reichstagsabgeordnete Reinhold Maier:
„… die Rede des Sozialdemokraten Otto Wels ist das stärkste demokratische Erlebnis, das mir jemals beschieden war … Sie war und wird das Hohe Lied der Freiheit bleiben.“
Es ist unsere Verantwortung, dass wir unsere freiheitliche Demokratie schützen.
Vielen Dank.