Rede von Bundestagspräsidentin Bärbel beim Festakt in der Paulskirche anlässlich „175 Jahre Paulskirchenversammlung“
am 18. Mai 2023 in Frankfurt a. M.
Rede beim Festakt in der Paulskirche anlässlich „175 Jahre Paulskirchenversammlung“
am 18. Mai 2023 in Frankfurt a. M.
Sehr geehrter Herr Bundespräsident,
sehr geehrte Festgäste,
liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Geschichte des deutschen Parlaments beginnt hier in der Paulskirche.
Mit der ersten gesamtdeutschen Volksvertretung, die aus allgemeinen, gleichen und freien Wahlen hervorging.
Und sie beginnt mit der Wahl von Heinrich von Gagern zum ersten Präsidenten
– heute auf den Tag genau vor 175 Jahren.
Seinen Nachfahren Rüdiger Freiherr von Gagern durfte ich vor zwei Wochen in Kelkheim kennenlernen. Auch Sie und Ihre Familie möchte ich ausdrücklich begrüßen.
Heinrich von Gagern wurde mit 96 Prozent der Stimmen gewählt.
Das hat bislang kein Bundestagspräsident – und auch keine Bundestagspräsidentin – geschafft.
Auch Frauen waren in der Paulskirche dabei.
Als Zuschauerinnen.
Das war aber ein Schritt nach vorn.
Ins Vorparlament mussten sie sich noch hineinschleichen.
In der Paulskirche war die sogenannte „Damengalerie“ durchweg gut besucht.
Nicht alle fanden das richtig.
„Parlamentsfliegen“ nannte sie ein besonders verächtlicher Kommentar.
Politik sei keine Frauensache.
Darin waren sich die Abgeordneten der Nationalversammlung einig.
Für die meisten Zeitgenossen
- und wohl auch Zeitgenossinnen –
der Frankfurter Abgeordneten waren Frauen als Wählerinnen nicht vorstellbar.
Und noch weniger als Politikerinnen
oder gar als Parlamentspräsidentinnen.
Sehr geehrte Damen und Herren,
der Historiker Dieter Langewiesche spricht mit Blick auf 1848/49 von einer „Parlamentsrevolution“.
Weil es gelang, die Revolution von der Straße in parlamentarische Bahnen zu lenken.
Aber eine „Parlamentsrevolution“ war es auch in anderer Hinsicht.
Die Nationalversammlung betrat demokratisches „Neuland“.
Sie stand vor der Frage:
Wie lässt sich ein breitgefächerter Wählerwille in politische Gestaltung übersetzen?
Schon damals kam man zu dem Schluss:
Es braucht Parteien und Fraktionen!
Ein damaliger Abgeordneter drückte es so aus: „Die Bildung von Parteien in größeren gesetzgebenden Versammlungen entspricht nicht nur der menschlichen Natur, sondern sie ist sogar zur Förderung des Zwecks solcher Versammlungen nötig“. Zitat Ende.
Auch der Anspruch auf Fraktionsdisziplin ist nicht neu.
Die „Klubs“ verpflichteten ihre Mitglieder, eine gemeinsame Linie zu verfolgen.
Die Frankfurter Parlamentarier wussten, dass Demokratie nicht Harmonie bedeutet.
Sondern eben auch Kontroverse und Kompromisse.
So gelang die eigenmächtige Einsetzung einer provisorischen Regierung durch das Parlament
– ohne Absprache mit den deutschen Fürsten:
Der berühmte „kühne Griff“ Heinrich von Gagerns.
Ein selbstbewusstes parlamentarisches Statement!
Auch die bedeutendste Errungenschaft der Nationalversammlung wäre ohne Kompromiss nicht zustande gekommen:
Die Reichsverfassung.
Sie basierte auf einem Ausgleich zwischen den gegensätzlichen Zielvorstellungen von Liberalen und Demokraten.
Dabei ging es nicht um einzelne Sachfragen. Verhandelt wurde über das große Ganze:
über die Frage, Republik oder Monarchie?
Und über ein demokratisches Wahlrecht.
Die Urkunde der Reichsverfassung haben wir aus Anlass des Vorparlaments Ende März im Deutschen Bundestag ausgestellt.
Das Bemerkenswerte: Die Verfassungsurkunde haben 405 Abgeordnete aus allen politischen Lagern unterschrieben.
Die Mitglieder der Nationalversammlung waren bereit, Mehrheitsvoten zu akzeptieren.
Mit Blick auf manche unserer Debatten wirkt diese frühe demokratische Reife erstaunlich.
Ich würde mir heute wünschen,
die Formulierung „fauler Kompromiss“ viel seltener zu hören.
Politik braucht nicht nur Haltung und Überzeugung.
Sondern auch Pragmatismus und Kompromissfähigkeit.
Und davon gerne etwas mehr.
Die „Parlamentsrevolution“ verfehlte ihr doppeltes Ziel – Freiheit und nationale Einheit.
Aber sie setzte gesellschaftliche Entwicklungen in Gang, die sich auf Dauer nicht mehr unterdrücken ließen.
Wenn Freiheits- und Mitbestimmungsrechte einmal in der Welt sind, entfalten sie ihre eigene Kraft und Dynamik.
Gerade bei denen, die davon ausgeschlossen sind.
Auch Frauen begannen, sich zu organisieren.
Sie schlossen sich in Klubs zusammen.
Manche gründeten Zeitungen.
Wie Luise Otto-Peters.
Sie empfand es als „unwürdig, auf der Galerie nur schweigende Zuhörerin zu sein.“
1849 forderte sie als erste öffentlich das Frauenwahlrecht in Deutschland.
Der Auftakt zur politischen Emanzipation der Frauen war gesetzt.
Das Frauenwahlrecht wurde zum mächtigen Zugpferd der organisierten Frauenbewegung.
Über alle politische Grenzen hinweg.
Frauen haben sich ihre politische Gleichberechtigung selbst erkämpft.
Dieser Kampf begann vor 175 Jahren jenseits der Nationalversammlung.
Ohne diesen Kampf würden wir vermutlich heute noch auf der Galerie sitzen.
Sehr geehrte Damen und Herren,
die Abgeordneten in Frankfurt entwarfen ein freies und geeintes Deutschland, das keine Wirklichkeit wurde.
Die Nachwirkungen ihrer Arbeit waren aber enorm.
Sie lassen sich noch heute ausmachen.
In unserer Verfassung,
in unseren demokratischen Normen
und Institutionen.
Nicht zuletzt im Deutschen Bundestag.
Viele unserer parlamentarischen Gepflogenheiten lassen sich bis Frankfurt zurückverfolgen:
von der Sitzverteilung im Plenarsaal
über die Stimmkarten unterschiedlicher Farbe für namentliche Abstimmungen
bis zur Glocke der Präsidentin, mit der gegebenenfalls für Ruhe im Saal gesorgt wird.
Wie gut ein Parlament seine Aufgaben erfüllen kann, hängt heute entscheidend von der Verbindung zur Gesellschaft ab.
Ein Journalist hat die Demokratie mal „die Staatsform der Unzufriedenheit“ genannt.
Sie entsteht aus der Unzufriedenheit mit dem Bestehenden.
Aus dem Wunsch, den Status Quo zu verändern und das Leben der Menschen zu verbessern.
Wie vor 175 Jahren. Damals nur für eine kurze Zeit.
Unsere Demokratie kann sich selbst immer wieder korrigieren, anpassen und dazulernen.
Das unterscheidet sie von Diktaturen und autoritären Regimen, die auf Anpassung und Unterdrückung ihrer Bürgerinnen und Bürger setzen.
Eine bessere Demokratie, eine bessere Politik kann aus Kritik und Streit entstehen.
Auch aus Protest.
Was unsere Demokratie definitiv nicht voranbringt:
Wenn mit Lügen und Hass die Grundwerte unseres Zusammenlebens untergraben werden.
Wenn Parlamente, Parteien und Abgeordnete verächtlich gemacht, bedroht oder gar attackiert werden.
Und wenn sich gerade ehrenamtliche Kommunalpolitikerinnen und Kommunalpolitiker aus Angst zurückziehen.
Die kommunalpolitische Ebene ist das Fundament unserer Demokratie.
Bereits 1848 richtete sich der Zorn gegen die Parlamente und Abgeordneten,
aufgestachelt von Demagogen.
Die Hassrede vom „Volksverräter“ erlebte damals schon eine unschöne Blütezeit.
Unsere demokratischen Institutionen beruhen auch auf dem Erbe der Revolution von 1848.
Sie brauchen unseren Respekt.
Sie müssen aber auch Veränderungsbereitschaft zeigen und sich weiterentwickeln.
Sie müssen reagieren auf die wachsende gesellschaftliche Vielfalt,
die gewandelte Öffentlichkeit,
die zunehmend digitalisierte Welt
und nicht zuletzt auf das verlorengegangene Vertrauen in Parteien und Parlamente.
Mehr Bürgerinnen und Bürger wünschen sich, gehört zu werden.
Mitzubestimmen – nicht nur bei Wahlen.
Der Deutsche Bundestag geht heute neue Wege: Mein Amtsvorgänger Wolfgang Schäuble hat sich die Idee eines Bürgerrates zu Eigen gemacht.
Vergangene Woche haben wir den 1. Bürgerrat dieser Wahlperiode eingesetzt.
Die nach dem Zufallsprinzip ausgewählten Teilnehmerinnen und Teilnehmer werden sich intensiv mit dem Thema „Ernährung im Wandel“ befassen.
Und dem Parlament Empfehlungen geben.
Weitere Bürgerräte sind geplant.
Dieses Format kann helfen, Blockaden aufzulösen und Scheuklappen abzulegen.
Das Ringen um Freiheit und Teilhabe begann 1848 – und ist nicht abgeschlossen.
Es bleibt ein beständiger Prozess.
Auch heute.
Unsere Demokratie sollte noch mehr Menschen zum Mitmachen einladen.
Damit sie sich mit ihren Anliegen und Sichtweisen wiederfinden.
Unsere parlamentarische Demokratie ist keine Selbstverständlichkeit.
Deswegen finde ich es richtig,
darüber nachzudenken,
wie wir mehr Frauen in die Parlamente bekommen,
oder das Wahlrecht auf Jugendliche ausweiten.
Es braucht aber nicht nur die Offenheit bei Parlamenten und Parteien.
Es braucht auch eine engagierte Gesellschaft.
Bürgerinnen und Bürger, die sich beteiligen wollen.
Die nicht nur kritisieren, sondern selbst mitmachen und etwas verändern wollen.
Die nicht nur Erwartungen und Ansprüche an die Politik formulieren, sondern selbst Verantwortung übernehmen.
Robert Blum, bis zu seiner Hinrichtung Mitglied der Frankfurter Nationalversammlung, war überzeugt, dass es sich lohnt.
Lassen Sie mich zum Abschluss meiner Rede ihn zitieren.
„Es hätte … überhaupt nichts Gutes und Großes gegeben, wenn jeder stets gedacht hätte: Du änderst doch nichts.“
Vielen Dank.