04.05.2023 | Parlament

Rede von Bundestagspräsidentin Bärbel Bas beim Festakt zum 175. Jubiläum der Nationalversammlung 1848 in Kelkheim (Taunus)

„Aufbruch zur Freiheit - Über Wurzeln und Zukunft unserer Demokratie“

[Es gilt das gesprochene Wort]

Sehr geehrter Herr Bürgermeister [Albrecht Kündiger],
sehr geehrte Frau Präsidentin [Astrid Wallmann],
sehr geehrte Frau Kreistagsvorsitzende [Susanne Fritsch],
sehr geehrte Frau Stadtverordnetenvorsteherin [Julia Ostrowicki],
meine Damen und Herren!

Vor 175 Jahren, am 18. Mai 1848, konstituierte sich die Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche und wählte Heinrich von Gagern zu ihrem Präsidenten. 

In den folgenden Monaten debattierten und beschlossen die Abgeordneten nichts Geringeres als die Grundlagen für ein neues Deutschland:
die Verfassung und die Grenzen des künftigen Staates, die Grundrechte und das Wahlrecht.

Frauen durften dabei nur zuschauen. 
Und selbst das ging einigen schon zu weit. „Parlamentsfliegen“ nannte sie ein besonders verächtlicher Kommentar.

Bei dieser Feierstunde sprechen hier und heute vier Frauen – als Repräsentantinnen demokratisch gewählter Versammlungen. 
Was für eine glückliche Fügung!  

Aber dahinter steckt mehr:
Wenn politische Freiheits- und Mitbestimmungsrechte einmal in der Welt sind, lassen sie sich auf Dauer nicht unterdrücken. 
Sie entfalten eigene Kraft und Dynamik. 

Für Heinrich von Gagern und die meisten seiner Zeitgenossen – und Zeitgenossinnen – waren Frauen als Wählerinnen oder Politikerinnen schlicht nicht vorstellbar. 

Das aktive und passive Wahlrecht für Frauen ist Ergebnis eines jahrzehntelangen Kampfes der organisierten Frauenbewegung. 
Sie wurzelte – wie vieles andere – in der Revolution von 1848. 
Im Aufbruch zur Freiheit.

I. Erinnerung an 1848 – Kelkheim als Ort der Demokratiegeschichte

Vielen ist nicht bewusst, wie weit die Anfänge unserer freiheitlichen Gesellschaft zurückreichen. 

Unser Grundgesetz zieht nicht nur Lehren aus der gescheiterten Weimarer Republik und dem Menschheitsverbrechen des Holocaust. 
Es stützt sich auch auf die Frankfurter Reichsverfassung. 
Viele der Grundrechte wurden bereits vor 175 Jahren von den Abgeordneten einer verfassungsgebenden Versammlung beschlossen. 

Es führt kein gerader Weg von 1848 zu heute. Dazwischen liegen die Brüche, Umwege und fürchterlichen Abgründe der deutschen Geschichte. 
Die wir nicht vergessen dürfen – und nicht vergessen werden. 

Wir brauchen aber auch das Wissen um die Wurzeln der wechselvollen Geschichte unserer Demokratie und die frühen Wegbereiter unserer Republik. 
„Dieses Wissen“ – so sagt es der Bundespräsident – „lässt uns den Wert des Erreichten besser erkennen und mahnt, dass wir unsere Werte […] nicht leichtfertig preisgeben dürfen“. Zitatende. 

Aber woran wir als Gesellschaft erinnern und wie wir das tun – das kann nicht von oben, 
nicht vom Staat verordnet werden. 

Deshalb sind Erinnerungsorte wie Hornau so wichtig. 
Und deshalb bin ich gerne Ihrer Einladung gefolgt! 

Hier wird Demokratiegeschichte sichtbar, 
weil die Bürgerinnen und Bürger Kelkheims sie sichtbar werden lassen! 
Weil es Ihnen wichtig ist, die Geschichte der Familie von Gagern und der drei „politischen Brüder“ Friedrich, Heinrich und Maximilian zu erzählen. 

Jeder spielte auf seine Weise eine Rolle in der Revolution. 
Der eine als General – 
Friedrich von Gagern fiel bei der Niederschlagung des Aufstandes in Baden. 

Die beiden anderen als Politiker – 
auch Maximilian von Gagern war Mitglied der Nationalversammlung und dort stellvertretender Vorsitzender des Verfassungsausschusses.

Auf dem Hornauer Hofgut der Familie von Gagern wurde über die großen Fragen der Zeit gesprochen. 
Über nationale Einheit und politische Freiheit, 
über die Entwicklungen in Deutschland und Europa. 

Der Vater war ein angesehener Diplomat. 
Ein aufgeklärter Adliger, der an Toleranz und Vernunft glaubte. 

Im Hause Gagern wurde ein reger Austausch gepflegt, 
in einer offenen und weltläufigen Atmosphäre.

Die Brüder waren keine kämpfenden Revolutionäre, 
die auf die Barrikaden gingen.
Sie waren Freigeister, die ihrer Herkunft verpflichtet blieben. 

Und sie waren überzeugt, dass sich die herrschende Ordnung überlebt hatte. 
Dass die Zeit reif war für mehr Freiheitsrechte wie Versammlungs- und Pressefreiheit. 
Dass diese Freiheit nur durch die Einheit Deutschlands zu erreichen war. 

Hierauf richtete sich ihr Ehrgeiz. 
Daran wollten sie nach Kräften mitwirken. 
Das schworen sie sich. 

Auch an diesen Schwur wird in Kelkheim erinnert. Ebenso wie an das politische Wirken Heinrich von Gagerns und seiner Brüder. 

Sie, liebe Kelkheimerinnen und Kelkheimer, engagieren sich dafür auf vielfältige Weise. 

Mit Ideen, Tatkraft und Geld. 

Durch Initiativen Einzelner, 
in Vereinen, aus den Reihen der Kirchengemeinde und der Unternehmen.
Nicht zuletzt im Rathaus, 
sehr geehrter Herr Bürgermeister!

Das ist beeindruckend – und wichtig!

Ohne das Engagement in Kelkheim und an vielen anderen Orten der Demokratiegeschichte würden die zentralen Feierstunden - wie am 18. Mai in der Paulskirche - ins Leere laufen.
Die Plädoyers zur Erinnerung blieben nur gutgemeinte Appelle.

Deshalb sage hier in Kelheim ausdrücklich und gerne: Danke!

II. Heinrich von Gagern

Sehr geehrte Damen und Herren,

Geschichte wird von Menschen gemacht. 
Heinrich von Gagern drängte es danach, 
etwas zu bewegen und Geschichte zu prägen. 

Er strebte ein geeintes Deutschland mit einer konstitutionellen Monarchie an. 
Einen nationalen Bundestaat mit einer zentralen Regierung und einem gewählten Parlament. 
Denn ohne ein Parlament würde es kaum zu Einheit und Freiheit kommen. 

Damit die Fürsten und Könige sich bewegten, brauchte es mehr als Vernunft und Argumente. 
Das hatte Heinrich von Gagern als Staatsbeamter und Oppositionsführer im hessen-darmstädtischen Landtag erfahren müssen. 

Es brauchte die Stimme des Volkes. 
Und als die Revolution endlich ausbrach, 
wollte er Verantwortung übernehmen. 

Heinrich von Gagern hat 
-    als politischer Führer der Liberalen, 
-    als Präsident der Nationalversammlung und 
-    als Reichsminister 
die Anfänge des deutschen Parlamentarismus auf verdienstvolle Weise entscheidend geprägt.

Mit seinem Namen verbinden sich wesentliche Weichenstellungen der Nationalversammlung: 
Das Parlament setzte nach vielen Kontroversen eigenmächtig eine Zentralgewalt ein 
– ohne Absprache mit den deutschen Fürsten. 
Dafür mit einem Habsburger als provisorisches Oberhaupt. 

Das war von Gagerns berühmter „kühner Griff“. 
Ein selbstbewusstes parlamentarisches Statement! 
Auch die Verabschiedung der Reichsverfassung gründete in einem „Pakt“ – zwischen Liberalen und Demokraten. 
Die einen bekamen das preußische Erbkaisertum in einem deutschen Bundesstaat ohne Österreich, 
die anderen allgemeine und gleiche Wahlen und ein aufschiebendes Veto des Monarchen. 

So blieb die Nationalversammlung entscheidungsfähig – trotz gegensätzlicher politischer Zukunftsvorstellungen der Abgeordneten: durch Kompromisse! 

Dass das gelingen konnte, hatte wesentlich mit Heinrich von Gagern zu tun. 

Er genoss in allen politischen Lagern hohes Ansehen. Fast schon Bewunderung.
Mit 499 von 518 Stimmen war er zum Präsidenten gewählt worden: Mit 96 Prozent! 
Ein Ergebnis, das kein Bundestagpräsident und auch keine -präsidentin je erreicht haben. 

Seine enge Freundin Clotilde Koch-Gontard war auf der sogenannten „Damengalerie“ dabei. 
Bei seiner Ansprache hat sie – Zitat – „selbst in den Augen der Männer Tränen“ gesehen.

Der Historiker Veit Valentin befand später, die Nationalversammlung habe in Heinrich von Gagern – ich zitiere – „menschlich und politisch das Beste ihrer selbst“ gesehen.

Aber noch etwas anderes war entscheidend: 
Es war Heinrich von Gagerns Verständnis für grundlegende demokratische Prinzipien: 
-    für den Pluralismus der Meinungen, 
-    die Bedeutung von Parteien und 
-    die Rechte der Opposition. 

Er wusste, dass Parlamente nicht Harmonie bedeuten. Sondern Kontroverse. 

Er erkannte an, dass Kompromisse erforderlich waren. Auch wenn die Mehrheitsvoten nicht seinen Vorstellungen entsprachen. 

Er wusste, dass Politik nicht nur Haltungen und Überzeugung brauchte, 
sondern auch Pragmatismus.  

Heinrich von Gagern war kein Demokrat. 
Nicht nach unseren heutigen Maßstäben. 

Er wollte keine Volksherrschaft und kein gleiches Wahlrecht für alle. 
Von den sozialrevolutionären Vorstellungen des Demokraten Robert Blum oder des badischen Radikalen Friedrich Hecker trennten ihn Welten. 

Aber er war ein herausragender Wegbereiter unserer Demokratie.

III. Nachwirkungen von 1848/49

Sehr geehrte Damen und Herren!

Die Revolution von 1848/49 war keine Erfolgsgeschichte. 
Sie weckte große Hoffnung und Erwartungen – und hat am Ende viele enttäuscht. 
Auch Heinrich und Maximilian von Gagern zogen sich weitgehend aus der Politik zurück. 

Die Revolutionäre im Parlament hatten ein Deutschland entwickelt, das nie Wirklichkeit wurde. 

Die Reichsverfassung hätte mit den Worten eines Schweizer Rechtshistorikers „den damals modernsten europäischen Staat geschaffen“. 
Sie trat nie in Kraft. 

Zu stark waren die reaktionären Kräfte. 
Zu revolutionsmüde auch die Bevölkerung.

Und doch gilt die Revolution als eine „Epochenschwelle“. 
Sie steht für den Aufbruch zur Freiheit. 

Was damals begann, ließ sich unterdrücken. 
Aber nicht mehr aus der Welt schaffen: 
-    die politische Meinungsbildung in breiteren Bevölkerungsschichten, 
-    die öffentliche Debatte, 
-    die vielfältige gesellschaftliche Selbstorganisation. 

Die Revolution erwies sich als Geburtsstunde der Parteien und der Arbeiterbewegung. 
Daraus gingen später die Gewerkschaften und die Sozialdemokratie hervor. 

Auch Frauen begannen sich in eigenen Klubs zusammenzuschließen. 
Oder sie gründeten Zeitungen, 
wie Luise Otto-Peters. 
1849 forderte sie als erste öffentlich das Frauenwahlrecht in Deutschland. 

Auch wenn das Wahlgesetz der Nationalversammlung nicht in Kraft trat: Allgemeine, freie und direkte Wahlen wurden zum demokratischen Goldstandard. 

Und die Forderung danach mobilisierte die Menschen, die ausgeschlossen waren. 
Der Kampf ums Wahlrecht wurde zu einem mächtigen Zugpferd der Frauenbewegung. 

Über politische Differenzen hinweg.
Die Revolution und die bahnbrechende Arbeit der Nationalversammlung haben Spuren hinterlassen, die wir noch heute erkennen. 
Verfassungsrechtlich, politisch, gesellschaftlich. Obwohl uns die Welt von damals so fern ist.

Auch viele Regelungen und Gepflogenheiten im Deutschen Bundestag lassen sich bis nach Frankfurt zurückverfolgen: 
-    die Sitzverteilung im Plenarsaal, 
-    die Öffentlichkeit der Debatten und die Veröffentlichung der Sitzungsprotokolle, 
-    das Petitionswesen und die Arbeit in Fachausschüssen, 
-    die Glocke der Präsidentin und 
-    sogar die Stimmkarten unterschiedlicher Farbe für namentliche Abstimmungen.

IV. Das Erbe erhalten – „Demokratie weiter denken“

Meine Damen und Herren!

Unsere Verfassung, unsere Institutionen und Verfahren gründen auf dem Fundament, das im ersten gesamtdeutschen Parlament gelegt wurde. 

Sie sind ein wertvolles Erbe. 
Sie brauchen unseren Respekt. 
Sie müssen sich aber auch den heutigen Anforderungen stellen.

„Demokratie weiter denken“ 
– so heißt die Ausstellung, die wir im Anschluss gemeinsam eröffnen. 
Ein starker Titel! 
Die Institutionen unserer Demokratie müssen sich weiterentwickeln, damit die Demokratie bestehen kann. 

Sie müssen reagieren
-    auf die gewandelte Öffentlichkeit, 
-    auf die zunehmend digitalisierte Welt, 
-    die wachsende gesellschaftliche Vielfalt. 
-    Und nicht zuletzt auf das verlorengegangene Vertrauen in Parteien und Parlamente.

Mehr Bürgerinnen und Bürger wünschen sich, gehört zu werden. 
Mitzubestimmen – nicht nur bei Wahlen. 

Der Deutsche Bundestag wird im Herbst den ersten Bürgerrat dieser Wahlperiode einsetzen. 
Die nach dem Zufallsprinzip ausgewählten Teilnehmerinnen und Teilnehmer werden sich intensiv mit einem Thema befassen. 
Und dem Parlament Empfehlungen geben.

Unsere Demokratie sollte mehr Menschen einladen, mitzumachen. 
Damit sie sich mit ihren Anliegen und Sichtweisen darin wiederfinden. 

Wir entwickeln damit auch weiter, was vor 175 Jahren angestoßen wurde: 

Mehr Rechte und mehr Partizipation für immer mehr Menschen.

Wie leben in einer stabilen Demokratie. 
Aber die Herausforderungen sind komplexer geworden. 
Und lassen sich häufig nur global angehen. 

Wir müssen Antworten finden 
-    auf den Klimawandel, der mit seiner Dringlichkeit auch die demokratischen Verfahren herausfordert. 
-    Auf den Populismus, der einfache Lösungen für eine komplizierte Welt verspricht und mit Hass die Grundwerte unseres Zusammenlebens untergräbt. 
-    Auf die Flucht von Millionen Menschen. 
Für uns in Europa ist das nicht erst seit dem russischen Überfall auf die Ukraine aktuell. 

Und bei all dem dürfen wir das Versprechen der Demokratie nicht aus den Augen verlieren: 
ein besseres Leben für viele. 

Freiheit, Demokratie und Wohlstand bilden einen Dreiklang. 
Das Grundgesetz spricht bewusst von einem „demokratischen und sozialen Bundesstaat.“ 

Auch das trug übrigens zum Scheitern der Revolution vor 175 Jahren bei: 
Sie fand keine Balance zwischen Freiheit und sozialer Gerechtigkeit.

Meine Damen und Herren!

Eine bessere Demokratie kann aus Kritik und Streit entstehen. Auch aus Protest. 
Was sie definitiv nicht voranbringt: 
Wenn ihre Institutionen diskredidiert werden. 
Wenn Vielfalt nicht akzeptiert wird.

V. Demokratie ist keine Selbstverständlichkeit

Unsere freiheitliche Demokratie ist nicht selbstverständlich. 

Der Aufbruch zur Freiheit kam nicht von allein. 
Viele „Aktivistinnen und Aktivisten“ erstritten Freiheit, Demokratie und Rechtsstaat. 

Jede Demokratie braucht Menschen, die sich für sie entscheiden. Immer wieder von Neuem. 
Menschen, die sich engagieren und Verantwortung zu übernehmen. 
Wie Heinrich von Gagern, wie Robert Blum, wie die Barrikadenkämpfer und -kämpferinnen im März 1848 in Berlin, Wien und anderen Städten. 

So wie die vielen Frauen und Männer, die heute im Iran oder in der Ukraine um ihre Freiheit kämpfen.  

Die Zukunft unserer Demokratie hängt von uns ab. 

Sie ist das, was wir daraus machen. 

Wir alle. 

Hier in Kelkheim und überall in unserem Land. 

Vielen Dank. 

Marginalspalte